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E-Book

Leben auf der Grenze

Erfahrungen mit Borderline

VerlagBALANCE buch + medien- verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783867398022
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sind für Außenstehende schwer zu verstehen. Ihr Verhalten wirkt »verrückt«, löst Befremden aus und macht Angehörigen und Freunden Angst. Dagegen hilft nur ein besseres Verständnis. Und das schafft dieses Buch: Zwanzig Menschen mit Borderline-Erfahrung, Betroffene und Angehörige, schreiben über ihr Erleben, über ihre Gefühle, über ihren Umgang mit sich und anderen. Dieses Buch ist eine Chance, denn die Texte schaffen Verständnis zwischen Betroffenen und Angehörigen. Und sie machen Hoffnung: Denn sie zeigen, dass Veränderungen möglich sind und dass es gelingen kann, eine neue Haltung sich selbst gegenüber zu gewinnen und liebevoller mit sich, seiner Familie und seinen Freunden umzugehen.

Andreas Knuf arbeitet als Psychologe und Psychotherapeut mit Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Selbsthilfeförderung. Darüber hinaus ist er im Bereich Fortbildung tätig.

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Leseprobe

Die unerklärbare Krankheit


Christiane

»Ja, und was ist das, dieses Borderline?« Diese Frage wird mir häufig mit einem Unterton des Befremdens gestellt. Unter einer Depression meinen die meisten Leute sich etwas vorstellen zu können, schließlich sei doch jeder mal niedergeschlagen. Magersucht ist seit den Schlagzeilen aus diversen Königshäusern salonfähig und damit weniger exotisch geworden. Auch von der Schizophrenie glauben die meisten Menschen eine Vorstellung zu haben, auch wenn diese möglicherweise nur das medienvermittelte Bild des Sexualstraftäters enthält, der im Anfall geistiger Umnachtung Frauen oder Kinder ermordet, und zwar mit dem Ergebnis, als nicht schuldfähig in die Psychiatrie eingewiesen zu werden.

Über meine Erkrankung machen sich die Medien noch nicht einmal Gedanken. Zwar gibt es hin und wieder Sendungen zum Thema Suizidalität und in diesem Zusammenhang werden auch Selbstverletzungstendenzen hervorgehoben, aber die Erkrankung Borderline-Störung wird dabei nicht thematisiert, obwohl ich denke, dass ein Zusammenhang in vielen Fällen auf der Hand liegt. Als ich in der Erwachsenenpsychiatrie das erste Mal die Diagnose »Borderline-Störung« bekam, war ich vor allem beleidigt. Das Einzige, was ich mir unter dieser Störung vorstellen konnte, war das Verhalten einer ehemaligen Mitpatientin aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die hin und wieder Aggressionen an ihrer Umgebung ausließ, indem sie sich beispielsweise mit dem Pflegepersonal der Station prügelte. Sie war »borderline«.

So sollte ich nun also auch sein?! Diese Einschätzung meines behandelnden Arztes ging mir entschieden zu weit. Ich konnte und wollte keine Parallelen zwischen dieser Patientin und mir sehen, auch wenn ich sie durchaus nicht unsympathisch fand und wir uns in vielen Dingen sicher äußerst ähnlich waren.

Einige Tage ärgerte ich mich über diese Diagnose, dann äußerte ich dem Arzt gegenüber meinen Unmut. In der Visite erfuhr ich mehr über meinen neuen »Stempel«. Das Verhalten der Patienten mit dieser Krankheit sei sehr unterschiedlich, erklärte er mir, und nicht jeder gehe aggressiv auf sein Umfeld los, es gebe auch Patienten, die Aggressionen ausschließlich gegen sich selbst richteten. Na, das kannte ich ja von mir selbst. Ich schien also mehr ein »autoaggressiver Fall« zu sein. Vorstellen konnte ich mir unter der Erkrankung allerdings immer noch nicht viel.

Das änderte sich, als ich – unzufrieden mit den ärztlichen Erklärungen – das erste Fachbuch über meine Krankheit las. In diesem Buch wurde mein Verhalten ganz deutlich beschrieben. Heimlich und mit roten Ohren las ich Dinge über mich, die ich niemals anderen gegenüber zugegeben hätte. Ich war erleichtert, dass ich nicht die Einzige zu sein schien, die merkwürdige Wege wählte, um das Leben und den Alltag auszuhalten, aber es war mir auch peinlich, ich fühlte mich ertappt und durchschaut. Woher kannten die Autoren mein Erleben so genau? War ich wirklich ernsthaft krank, wie im Buch beschrieben? Manchmal hatte ich das Gefühl, doch nur ein gigantisches Theaterstück zu spielen, aus dem ich einfach nur aussteigen müsse, wenn ich wollte. Der Psychiatrieaufenthalt schien Teil des großen »Experiments« zu sein, das ich gerade selbst durchführte, ohne das Ziel zu kennen. Vielleicht simulierte ich nur und war eigentlich kerngesund? Ich war sehr unsicher, wo ich eigentlich stand und wie ich selbst zu meiner Erkrankung stehen sollte.

Bis heute gerate ich also immer wieder in die Verlegenheit, erklären zu müssen, was meine Krankheit ausmacht. Üblicherweise möchten meine Gesprächspartner eine kurze Schilderung der Symptome, die sie über alles ins Bild setzt. Beim Versuch, die Borderline-Störung zu beschreiben, stelle ich immer wieder fest, wie unerklärbar diese Krankheit eigentlich ist. Sie lässt sich nicht in zwei Sätzen beschreiben, weil sie zu komplex ist.

Ich wirke zu »normal«, um in das Klischee »verrückt« zu passen, auch wenn es in mir vermutlich »verrückter« aussieht als in den »Normalen«. Wenn ich nach außen auffälliger, richtig »verrückt« wirken würde, komische Dinge täte, wäre es für die anderen vielleicht leichter zu verstehen, warum ich Probleme habe, den Alltag zu bewältigen. Doch auf den ersten Blick bin ich einfach nur unauffällig, eben »normal«. Von Freunden etwa, die mich nach einer Erklärung für die Borderline-Störung fragen, unterscheide ich mich kaum. Das kann die Sache dann noch deutlich verkomplizieren, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass gerade Ähnlichkeit Angst macht und Abstand erzeugt. Deshalb muss ich nach »ungefährlichen« Parallelen im Erleben suchen, um meine Gesprächspartner »abholen« zu können, um einen Ausgangspunkt bei der Beschreibung zu haben, mit dem mein Gegenüber etwas anfangen kann. Davon ausgehend, kann ich dann vorsichtig versuchen zu erklären, was mein Erleben von dem Erleben der »Normalen« unterscheidet. Wenn ich nicht missverstanden werden will, muss ich mich in den anderen hineinversetzen und Entgegenkommen zeigen, über meinen Schatten springen und auch ungeschickte oder verletzende Fragen beantworten. Das erfordert eine Menge Toleranz, aber auch Fantasie, weil ich nur Vermutungen über das, was »normales« Erleben bedeutet, anstellen kann. Oft gelingt es mir nicht, anderen zu erklären, wie verletzlich ich bin und wie sehr ich meinen Stimmungsschwankungen unterworfen bin.

Wenn ich keine Lust habe, große Erklärungen über meine Krankheit abzugeben, »oute« ich mich nur als psychisch Kranke. Da ich sehr dünn bin, ist die nächste Frage meines Gegenübers meist, ob ich magersüchtig gewesen sei. Nur die Andeutung eines Nickens erspart mir eine Menge Erklärungen, denn mein Gegenüber meint alles über mich zu wissen. Manchmal ist das ganz praktisch. Reaktionen meiner Umwelt haben mich vorsichtig gemacht, zu meiner Diagnose zu stehen. Bei professionell Tätigen ist mir das gesamte Spektrum der Einstellungen zu dieser Erkrankung begegnet: Interesse an den Symptomen und meinem Erleben wurde ebenso gezeigt wie offene Aggression und Abwertung meiner Person als Personifizierung dieser Störung.

Im Rahmen meiner therapeutischen Ausbildung habe ich gesehen, wie viel Angst das wenig Greifbare der Störung bei Schülern, aber auch bei vermittelnden Lehrern auslöst. Es blieb der Eindruck, dass »Borderliner« mit Vorsicht zu genießen seien. Schlimm genug, denn meine Mitschüler von gestern sind die Therapeuten von heute. Viel hilfreicher hätte ich es gefunden, den Umgang mit der eigenen Angst und Unsicherheit bei der Arbeit mit dieser Patientengruppe zu thematisieren, um zu zeigen, dass eben diese Gefühle auftauchen können, wenn man mit Borderline-Patienten arbeitet. In meinem Kurs wusste zu dem Zeitpunkt keiner, dass ich als »Borderlinerin« gelte, und ich hatte nicht den Mut, mich zu »outen«, weil eigene Erfahrungen grundsätzlich unerwünscht waren. Im Unterricht fühlte ich mich irgendwie wie eine Spionin, die das »feindliche Lager« der »Profis« belauschte, um herauszukriegen, mit welcher Taktik sie die »Borderliner« überlisten wollten.

»Borderliner« zu enttarnen, sie zu überführen, ihnen ihre »Schlechtigkeit« vor Augen zu halten ist eine Einstellung, mit der mir einige Profis begegnet sind. Ich fand das ziemlich unpassend und wenig hilfreich, weil ich selbst immer am meisten unter meinem eigenen Verhalten gelitten habe. Mir ging es jedenfalls nicht darum, die Profis persönlich zu ärgern, sondern sie waren diejenigen, die als Projektionsfläche dienten. Einige waren damit vielleicht überfordert. »Borderline« scheint in Fachkreisen auf jeden Fall oft negativ besetzt zu sein (was mich nach meiner Ausbildung nicht mehr in Staunen versetzt). In einer Ärztezeitschrift habe ich eine Empfehlung gelesen, »Borderliner« sofort weiterzuüberweisen, da sie sehr zeitaufwendig und kostenintensiv seien. Ob das dann die Kosten reduziert, wage ich zu bezweifeln.

Neulich hat mir meine Freundin mal wieder jemanden, den sie extrem schwierig und anstrengend fand, als »borderlinig« beschrieben. Das Wort dient als Abkürzung und soll alles ausdrücken, was zu beschreiben wäre. Ich weiß, was gemeint ist, aber trotzdem bleibt mir das Lachen im Hals stecken.

Ich finde es verletzend, wenn jemand behauptet, dass die Symptome meiner Erkrankung auf jeden zuträfen und die Diagnose immer dann gestellt werde, wenn die Psychiater nicht wissen, wo sie die Patienten einordnen sollen. Ich weiß, dass das nicht stimmt, trotzdem bleibt mir das Gefühl, nicht zur Gruppe der wirklich psychisch Kranken zugerechnet zu werden, sondern nur eine »Verlegenheitsdiagnose« zu haben. Wieder einmal gehöre ich nicht dazu, diesmal bin ich, wie es scheint, nicht psychisch krank genug. Was ist schon meine »Verlegenheitsdiagnose« gegen eine Schizophrenie?

Ich fühle mich persönlich angegriffen und abgewertet, vielleicht weil die Borderline-Störung zwangsläufig Teil meiner Identität ist. Ich glaube, dass es sich bei meiner Diagnose um mehr als nur eine »Krankenkassendiagnose« handelt, die die Abrechnung sicherstellt, aber nichts aussagt. Vielleicht fängt das Erklärungsproblem meiner Krankheit schon damit an, dass die Störung selten sofort klar diagnostiziert wird.

In der Fachliteratur als Grenzstörung zwischen Psychose und Neurose beschrieben, erlebe ich bis heute immer wieder, dass Ärzte oder Therapeuten mir neue Diagnosen zuordnen, obwohl ich die Borderline-Störung selbst als sehr zutreffend für die Beschreibung meiner Problematik halte. Wenn ich mir meine diversen Diagnosen in den Arztberichten ansehe, denke ich, dass sehr gut die verschiedenen Facetten der Krankheit deutlich werden: Anorexia nervosa, latente Suizidalität, Medikamentenabusus, Identitätsstörung,...

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