2. Der zweite Leitsatz: Wisse, was du brauchst
2.1 Eine lebenslange Aufgabe
Drive im Leben ist ähnlich wie Drive in der Musik ein aktives Mitgehen mit dem, was kommt, ein Annehmen und zugleich Mit-Gestalten dessen, was da ist, ein Fließen und zugleich den Fluss Mit-Bahnen, ein Sich-Führen-Lassen und zugleich Selbst-in-Führung-Gehen. Drive wird geprägt durch innere Haltungen wie Präsenz, Offenheit, Zuversicht, Lebenslust und Gestaltungswille. Auch wenn die Stimmungen und Tönungen, die Klangfarben, Tempi und Dynamiken, die dabei entstehen, immer wieder ganz unterschiedlich sind – so unterschiedlich, wie verschiedene Situationen nun mal sein können –, zuletzt ist Drive getragen von guter Energie. Bei aller Varianz des Geschehens ist Drive ein lustorientierter Modus zu sein. Drive erwächst aus Vitalität und Lust und Drive erzeugt Vitalität und Lust. Nicht damit einher geht allerdings das Ausklammern von Rücksicht, Pflicht und Verantwortung. Auch das ist ähnlich wie in der Musik: Wer nur an seine eigene Stimme denkt und den Rest überhört, wird ziemlich schnell ziemlich viel Missklang produzieren und über kurz oder lang mit sich alleine spielen müssen. Damit Drive möglich ist, braucht es ein Hinhören und Eingehen auf die Stimmen der anderen. Dies umso mehr, wenn sich Drive nicht nur jetzt, in diesem Moment, sondern langfristig, immer wieder und vielleicht sogar in Zukunft noch freier und intensiver entfalten können soll. Ein Leben mit Drive ist kein egoistischer Lustmaximierungstrip. Es ist der freie Fluss gelingenden Zusammenspiels.
Da Drive immer in der Interaktion mit anderen entsteht, wird er dauerhaft nur dann gelingen, wenn das eigene Tun respektvoll und partnerschaftlich auf die Bedürfnisse und Ausdrucksformen der anderen Mitspieler bezogen bleibt.
Zum Zusammenspiel gehören immer mehrere Stimmen – nicht nur um mich herum, sondern auch in mir selbst: die Stimme meiner spontanen Lust, die Stimme meines dauerhaften Wohlergehens, die Stimme meiner Gesundheit, die Stimme meiner langfristigen Ziele etc. Drive entsteht nicht durch ignorante Ausblendung, sondern durch ein partnerschaftlich-kooperatives Einbinden der anderen. Dieses Einbinden achtet auf gute Energie und Lust – auf sich zeigende Wünsche und Bedürfnisse. Und das auch bezogen auf mich selbst. Wenn ich bei dem, was ich tue, nicht darauf achte, dass es mir möglichst gut geht, dann werde ich auch nicht mein Bestes geben können. Ich verliere Energie oder bleibe jedenfalls hinter dem zurück, was mir eigentlich möglich wäre, und das kostet nicht nur Lust und Vitalität, sondern auch Qualität. Achte ich andererseits bei dem, was ich tue – was immer es gerade ist –, auch auf mein eigenes Wohlergehen, so handle ich eigennützig und uneigennützig zugleich. Ich tue etwas für mich, eben dafür, dass es mir so gut wie möglich geht, und ich tue zugleich etwas für die Qualität meines Parts im Zusammenspiel mit den anderen und damit letztlich natürlich auch für die Qualität der Ergebnisse, die aus diesem Zusammenspiel entstehen.
Wenn ich ein Leben mit Drive führen möchte, habe ich eine Aufgabe quasi lebenslang: nämlich mich um mein eigenes Wohlbefinden zu kümmern.
Der Schlüssel für die Orientierung an meinem Wohlergehen liegt dabei in der Frage: Was brauche ich? Was ist mir wichtig und tut mir gut? Welche Bedürfnisse habe ich und was kann ich sinnvollerweise für meine Bedürfnisse tun? In dieser Frage stecken zumindest zwei zentrale Punkte:
- wahrzunehmen, was meine Bedürfnisse sind, und
- etwas Sinnvolles für meine Bedürfnisse zu tun.
Eigene Bedürfnisse wahrzunehmen ist oft sehr leicht: dass ich jetzt Hunger oder Durst habe und etwas essen und trinken möchte, dass ich müde bin und schlafen möchte, dass ich mich nach Bewegung sehne, dass ich mit meiner Partnerin / meinem Partner gerne mal eine intensive Zeit zu zweit hätte, dass ich mal wieder Urlaub brauche ... – all das und viele andere Bedürfnisse mehr können sich sehr direkt und unmittelbar melden. Bedürfnisse können aber auch verdeckter sein. Welche Bedürfnisse von mir zeigen sich z. B. darin, dass ich in einer Beziehung, in einer Rolle, in meiner Arbeit seit einiger Zeit immer wieder in ähnliche Konflikte hineingerate? Welche Bedürfnisse von mir zeigen sich darin, dass ich glaube, meine Arbeit gar nicht mehr bewältigen zu können, dass ich meine, immer noch mehr leisten und erreichen zu müssen, oder dass ich glaube, was immer ich tue müsse perfekt sein? Bedürfnisse wahrzunehmen, die unter der Oberfläche des direkt Spürbaren liegen, die anderen vielleicht direkt spürbaren Bedürfnissen zugrunde liegen oder die sich möglicherweise mit anderen sehr dominanten Bedürfnissen in einem Konflikt befinden und gerade auch deshalb nicht so unmittelbar in Erscheinung treten – all dies ist nicht immer einfach.
Und natürlich ist es erst recht nicht immer einfach, etwas Sinnvolles für die eigenen Bedürfnisse zu tun. Bedürfnisse – auch die eigenen – können sehr unterschiedlich sein; sie können miteinander konkurrieren oder einander zuwiderlaufen: Einerseits möchte ich jetzt gerne zwei bis drei von diesen leckeren Cocktails trinken, andererseits möchte ich hinterher keinen schweren Kopf haben; einerseits würde ich jetzt gerne mal zwei Stunden in Ruhe lesen, andererseits möchte ich auch ein guter Vater / eine gute Mutter sein und dem gerade geäußerten Wunsch meines Kindes nach gemeinsamer Aktivität entsprechen; einerseits möchte ich für heute endlich mal mit Arbeiten aufhören, andererseits möchte ich aber auch meinen Chef nicht enttäuschen und einen möglichst guten Job machen ... Hier ist Potenzial für jede Menge Spannung und Konflikt. Spannungen und Konflikte können natürlich auch dadurch entstehen, dass ein Bedürfnis zwar stark und klar vernehmbar ist, aber verbunden ist mit dem Eindruck: „Das schaffe ich sowieso nicht.“ Zum Beispiel: „Nichts ist mir wichtiger als eine dauerhafte Liebesbeziehung – aber was ich auch tue, es klappt nicht.“ Oder: „Auf jeden Fall will ich finanziell unabhängig sein – aber so wie mein Leben läuft, werde ich das nie erreichen.“
Wie wir unsere Bedürfnisse einschätzen, mit welchen Annahmen über ihre Wertigkeit und ihre Realisierungschancen wir sie verbinden, wie wir sie im Verhältnis zueinander betrachten und was wir uns erlauben, überhaupt als Bedürfnis wahrzunehmen – all das hat offenbar erheblichen Einfluss darauf, wie gut es uns gelingt, etwas Sinnvolles für unsere Bedürfnisse zu tun. Eine innere Haltung, die besonders hilfreich dafür ist, sich in guter Weise für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen, ist die im ersten Leitsatz ausgedrückte Maxime: Schätze, was da ist – was auch immer es ist. Nimm es an und geh davon aus, dass sich etwas Fruchtbares daraus entwickeln lässt. Je mehr es mir gelingt, diese Haltung auch mir selbst, meinen eigenen Empfindungen, Regungen, Wünschen, Interessen etc. gegenüber einzunehmen, umso mehr wird es mir gelingen, meine verschiedenen Bedürfnisse, auch wenn sie sich zum Teil miteinander reiben, grundsätzlich wertschätzend zu betrachten. Das macht es nicht nur deutlich leichter, meine Bedürfnisse überhaupt ernsthaft zu registrieren, sondern es setzt vor allem auch eine ganz andere Kreativität in Gang, etwas Sinnvolles für die jeweiligen Bedürfnisse zu tun.
Die Frage reduziert sich dann nämlich nicht auf: „Will bzw. kann ich dieses Bedürfnis, so wie ich es gerade verspüre, befriedigen: ja oder nein?“ (auch wenn ich natürlich eine solche Ja- / Nein-Entscheidung vornehmen darf, sofern ich das für angemessen halte). Ich kann jedoch auch differenzierter auf die mir wichtigen Bedürfnisse schauen und mich fragen: „Mit welchen Schwerpunkten, in welchen Situationen, wann und mit welchen Erwartungen im Hinblick darauf, was es mir bringen und was es mich kosten kann, möchte ich in welcher Art und Weise und wie stark etwas für das jeweilige Bedürfnis von mir tun?“ Wenn ich in der Weise davon ausgehe, dass ich auf jeden Fall etwas Sinnvolles für das jeweilige Bedürfnis tun kann, eröffnen sich Gestaltungsspielräume.
Zugleich wird damit deutlich: Sich um das eigene Wohlergehen zu kümmern bedeutet immer auch aktives Bedürfnismanagement. Ich nehme meine Bedürfnisse ernst und schätze sie wert, aber ich gebe mich ihnen nicht einfach hin. Ich achte darauf, was ich brauche, insbesondere auch, was ich jetzt im Moment brauche. Zugleich aber steuere ich den Umgang mit meinen Bedürfnissen auch und suche nach stimmigen Balancen, die immer wieder neu auszutarieren sind angesichts der Heterogenität meiner Bedürfnisse und angesichts eines sich ständig wandelnden Umfelds, in dem meine Bedürfnisse und die der anderen nicht aufhören, sich zu Wort zu melden.
Die Qualität meines Wohlergehens entsteht aus dem besonderen Zusammenspiel von situativer Spontanität und situationsübergreifender Steuerung, aus dem Achten auf die im Moment sich zeigenden Bedürfnisse und dem Blick über den Tellerrand des Moments hinaus. In der Kunst dieses Zusammenspiels liegt ein Schlüssel für Drive.
Von zentraler Bedeutung für das Entstehen von Drive ist dabei nicht nur die innere Einstellung, zu schätzen, was ich brauche, und davon auszugehen, dass ich etwas Sinnvolles aus meinem jeweiligen Bedürfnis machen kann, sondern auch die Klarheit darüber, was eigentlich meine zentralen Bedürfnisse sind. Mit anderen Worten:...