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Leben ist anders

Lohnt es sich? Und wofür? Bilanz eines abenteuerlichen Lebens

AutorRuth Pfau
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783451801259
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Ihr Leben war ihre Botschaft. In einem Klima von Hass und Terror spricht sie davon, was sinnvoll ist. Und wofür sich der Einsatz lohnt - in jedem Leben. Nicht nur in Pakistan. Über 50 Jahre unter Muslimen. Ein Leben im Kampf gegen Krankheiten und überbordendes Leid. Sie hat die Lepra ausgerottet und kümmerte sich anschließend um Behinderte. War es den Einsatz wert? Wie kann Frieden möglich werden? Unsere Welt kann besser werden, und unser Leben reicher, wenn wir die Einsichten dieser faszinierenden Frau hören.

Ruth Pfau, Dr. med., geb. 1929 in Leipzig, gest. am 10. August 2017 in Karachi, war seit 1960 Lepraärztin in Pakistan. 1981 erstmals im Untergrund in Afghanistan, wo sie einen Gesundheitsdienst aufbaute. 2002 Magsaysay-Award (»asiatischer Nobelpreis'), 2004 Goldmedaille des Albert-Schweitzer-Preises, 2005 Dönhoffpreis.

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Leseprobe

2
Jenseits des Banalen


Wenn es wenigstens noch ein besonderer Tag gewesen wäre, so wie damals in Azad Kashmir, nach dem Erdbeben. Wenn man morgens im Jeep aufwachte, war man schon darauf vorbereitet, dass etwas geschehen würde. Heute aber war ein ganz normaler Tag. Lobo sagte, Qayoom sei im Aga-Khan-Krankenhaus eingeliefert, und ob wir ihn heute gleich morgens besuchen könnten, sonst kämen wir doch nicht dazu. Er war angeschossen worden als er zum Helfen unterwegs war, in Gwadar, 16 Stunden Ambulanz-Fahrt von Karachi entfernt. Er liegt auf der Intensivstation. Schwer verletzt.

Er hat mich erkannt. Wenn er durchkommt, wird er wohl querschnittsgelähmt bleiben. Qayoom ist Lepraassistent in Baluchistan, im Südwesten Pakistans, dem Gebiet, das in diesem September 2013 von einem Erdbeben der Stärke 7,7 erschüttert worden war und das immer noch von Nachbeben bedroht ist.

Sie brachten mir eine zweite Nachricht, eine E-Mail aus Deutschland. Da stand, dass Arif, Lepraassistent aus Afghanistan, ins Leitungsteam von Lepco in Kabul aufgerückt sei. Lepco, die Abkürzung von „Leprosy Control“, ist das afghanische Programm, das jetzt gut 100 Mitarbeiter beschäftigt und bisher ausschließlich von europäischen Ärzten koordiniert wurde. 1984 waren wir, mit zwei afghanischen Leprahelfern, die selber Patienten gewesen waren, von Pakistan aus „undercover“ über die Grenze gegangen und hatten in Malestan ein Krankenhaus aufgemacht, die Keimzelle von Lepco … Ich kenne Arif, er hat Ideen, kann sie durchführen, ist selbstkritisch. Er hilft enorm.

Ich werde ihm gratulieren und noch schreiben, dass ich sehr froh bin über die Entwicklung.

Überall, vom Erdbebengebiet in Baluchistan bis zum Kampfgebiet in Afghanistan, sind unsere Lepraassistenten Hoffnungsträger. Eigentlich war ich daran gewöhnt, dass es immer wieder gut ausgeht.

1960 habe ich in einer Bretterhütte in einem Slumviertel in Karachi mit dem Team die Lepraarbeit begonnen.

1962 sind wir in ein 20-Betten-Krankenhaus umgezogen, im Zentrum von Karachi, das Marie Adelaide Leprosy Centre. Unser MALC.

1965 haben wir mit der Regierung ein Nationales Leprabekämpfungsprogramm vereinbart.

1971 war das Behandlungsnetz über Pakistan geknüpft.

1980 wurde ich zum Nationalen Lepraberater der Regierung ernannt.

1982 bekamen wir den Status des Nationalen Lepraausbildungsinstitutes von Pakistan.

1984 bauten wir das Lepraprogramm in Afghanistan auf.

1996 hatten wir die Lepra im Griff.

2001 begannen wir mit der systematischen Rehabilitierung aller Leprapatienten.

2012 hatte ich meinen Nachfolger, von dem ich immer geträumt hatte. 2013 fand ich einen jungen Arzt, der verstand, worum es geht. Und schon 2012 haben wir mit CBR begonnen: Community Based Rehabilitation, also Arbeit für Behinderte, die bei den Menschen und ihrer Umgebung ansetzt.

Ein neues Kapitel beginnt. Worüber also beklage ich mich?

Ich habe es schon immer gesagt: Ich vertreibe mir meine Zeit mit Lepraarbeit in Pakistan. Eigentlich, eigentlich warte ich auf Seine Wiederkunft. Ob andere es verstehen oder nicht. Ich verstehe es ja auch nicht. Da gibt es einen Psalm. Und da steht: „… was ist der Grund meiner Traurigkeit? That the ways of the Lord have changed. Dass die Wege des Herrn sich geändert haben.“ Genau das ist meine Erfahrung.

Früher spürte ich Seine Gegenwart. Er war mir ständig gegenwärtig. Ich brauchte nur die Augen zuzumachen, immer war da irgendwie das fraglose Gefühl emotionalen Gehaltenseins. Und jetzt? Es sind tiefe Zweifel. Es ist genug. Ich habe weiß der Himmel viel Leid erlebt, nicht persönliches. Und was jetzt noch und immer wieder an Sinnlosigkeit in mein Leben hineinschwappt, das ist zu viel. Zu viel, um es ertragen zu können.

Was wird uns eigentlich zugemutet? Dass wir das Rohmaterial für die Wege des Herrn abgeben? Wie Israel bis zum Holocaust? Mit dem einzigen Unterschied, dass Er das selbst durchgemacht hat? Auf Golgotha. Aber Er hat es freiwillig durchgemacht. Hat Er? Wir doch nicht?

Aber Er hat uns durch sein Dabeisein gezeigt, dass Er uns liebt. Mein Gott. Dass Er uns liebt. Er hat uns die Freiheit gelassen. Und dann haben wir alles vermasselt (schau Dir nur Pakistan an!), und dann ist Er auf unseren Wegen mitgegangen, Er hat uns Seine Liebe nicht anders zeigen können. Er, der Gott ist – und dann glaubt Er daran, dass wir das sehen und annehmen und glauben!

Natürlich war das Leben immer dasselbe. Es sind immer Busse in den Indus gestürzt. Und immer junge Menschen angeschossen worden, die dann ihr Leben lang schwerbehindert sind. Immer sind Frauen misshandelt worden und Kinder gestorben, weil keiner ihre Lungenentzündung behandelt hat. Irgendwie hat das aber in meinem Leben nicht die positiven Dinge überschatten können: die Vollmondnacht mit Arif – den Sonnenaufgang am Nanga Parbat – dass die Regierung Lepraabteilungen einrichtete – dass die Lepra zurückging und wir sie endlich im Griff hatten.

Jetzt weiß ich: Das Leben ist anders. Weil Er nicht eingegriffen hat, als es Seinem Sohn geschah. Und nicht eingreifen wird, auch wenn 280 Menschen bei einem Sonntaggottesdienst sterben, durch den Terrorangriff blindwütender Fanatiker, die sich auf Allah berufen. Und dann sitzt ein dreijähriges Mädchen zwischen seiner toten Mutter und seinem toten Vater und fleht, sagt doch etwas –.

Das wird nicht das letzte Mal sein. Und ich muss damit leben.

Wie? Mit der hilflosen Geste der Veronika, die Ihm auf dem Kreuzweg ein Schweißtuch reichte? Manchmal, selten komme ich überhaupt an den Betroffenen heran. Dann ist es ja noch in Ordnung. Manchmal komme ich aber nur an die Statistiken.

Ich muss dann mit Krankenhausstatistiken leben lernen.

Nur: Wie? Leben ist nicht banal. Natürlich kann man sich ablenken. Man kann vieles zudecken und betäuben. Auch Leben in der Oberflächlichkeit ist eine Möglichkeit des Aushaltens. Eine sehr reduzierte allerdings. Leben ist anders.

Dass Leben wirklich anders ist – wie kann man das klarmachen? Wie kann man es vermitteln? Christen sollte das umtreiben. Durch Gerede geht das bestimmt nicht und nicht durch Missionierung. Nur durch Zeugen, durch Menschen, die etwas erfahren haben und durchsichtig sind. Und die mit anderen gemeinsam etwas tun.

Wir wissen es doch im Innersten: Das Leben ist eigentlich nicht zu verstehen. Ich selber bin fromm geworden über die Naturwissenschaften, und da bin ich sicher nicht die einzige. Alles, was wir heute etwa in der Genetik wissen, unser rudimentäres Wissen etwa um den Aufbau einer DNA-Kette, ja schon eine ganz „normale“ Anatomie, kann einem den Atem verschlagen. Oder die Schönheit einer Blume.

Die Tür in eine andere Dimension ist offen. Oder zumindest angelehnt. Gleichgültig, womit man anfängt: Fragen, Staunen, mutig etwas riskieren – das ist der Weg heraus aus dem Kerker der Banalität und der in sich selbst verschlossenen Zweckbestimmungen, heraus aus dem Gefängnis der Gleichgültigkeit, der Weg ins Offene.

Staunen – über sich, über die Welt, über die anderen. Darüber, wie Menschen miteinander umgehen. Über Vertrauen, so riskant es manchmal sein mag. Über Schmerz, über die Liebe, über die Bereitschaft zum Risiko: Vertrauen ist (ebenso wie die Liebe) immer ein Risiko, man gibt sich preis. Ich bin überzeugt, ohne das geschieht nichts, was über das Banale hinausgeht. Nichts Entscheidendes lässt sich planen, nichts einfordern. Man erfährt etwas, von dem man nicht weiß, ob oder wofür es gut ist – und es wird doch zu einem geheimen Schatz …

Wer mit dem Staunen anfängt, wird kein Ende finden. Er wird sehen, dass unser Leben durchsickert und durchsetzt ist von etwas, was nicht banal ist. Sich dem Staunen hingeben und das wirkliche Leben willkommen heißen, wie es auf einen zukommt. Sich überraschen lassen. Und bewusst den Schritt tun: Das Jenseits des Banalen ausloten, den Fuß in das andere Land setzen. Das wirkliche Leben.

Nicht, dass ich einer naiven Haltung das Wort reden möchte. Das Erschrecken gehört zum Staunen, als die andere Seite: Denn auch das Leiden ist eine durchgehende Realität. Warum frisst die Amsel den Regenwurm? Warum ist die Evolution auf Leiden, Untergang, Schmerz aufgebaut? Das sind Fragen, die weh tun.

Aber auch das Erschrecken darüber: Hatte Gott wirklich keine anderen Möglichkeiten, Seine Liebe kundzutun, außer Seinem Sohn dieses exzessive Leid zuzumuten? Warum das Kreuz? Ich halte es für eine Beleidigung, das Kreuz als normal anzusehen. Diese domestizierten Kruzifixe in all den Zimmern, in denen ich schlafe, wenn ich in frommen Häusern unterwegs bin! Wenn ich alleine irgendwo übernachte, habe ich sie prinzipiell ehrfürchtig von der Wand genommen und in den Schrank getan bis ich wieder auszog … Warum ist das Leben so? Er schweigt dazu. Ich könnte eine Liste machen, von all dem, wozu Er schweigt. Eine lange Liste.

Es hat einen galiläischen Frühling gegeben. (In dem unser Herr primär die Lilien auf dem Feld sah …) Den galiläischen Frühling. O Herr, den habe ich genossen. Den habe ich genossen! Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Es gibt Golgatha. Es gibt Auschwitz.

Irgendwo muss ja auch Auferstehung sein.

Heute kam Fateh aus dem Erdbebengebiet bei Awaran zurück. Das Trinkwasser ist nicht verschüttet, sie können noch aus den Brunnen schöpfen, halleluja! Und die Strohhütten überstehen das Erdbeben überall und sie werden nicht so heiß wie die Zelte, in denen man es jetzt, bei über 40 Grad, einfach nicht mehr...

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