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E-Book

Leben mit Körperbehinderung

Perspektiven der Inklusion

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl259 Seiten
ISBN9783170229006
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Die in der Sonderpädagogik geführte Inklusions-Diskussion impliziert, dass die Beschreibung besonderer Unterstützungsleistungen für spezifische Gruppen von Menschen mit Behinderung in einer inklusiven Gesellschaft nicht mehr notwendig ist. Die Herausgeberinnen und Herausgeber des Bandes gehen davon aus, dass die besondere Ausgangssituation des Lebens, wie sie eine Körper- oder Mehrfachbehinderung darstellen kann, die Diskussion spezieller Aspekte und Interessen bei der Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft erfordert. Vor diesem Hintergrund stellen 25 Autorinnen und Autoren (Menschen mit Körperbehinderung, Angehörige, Praxisvertreter und Wissenschaftler) ihre Vorstellungen und Perspektiven, gesellschaftliche Entwicklungen und kritische Anfragen dar. Weit über den pädagogischen Bereich hinaus werden zahlreiche Aspekte so konkretisiert, dass gegenwärtige und zukünftige Aufgaben, die zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beitragen, nicht mehr übersehen werden können.

Dr. Sven Jennessen lehrt als Professor für pädagogische und soziale Rehabilitation an der Universität Koblenz-Landau. Dr. Reinhard Lelgemann lehrt als Professor für Körperbehindertenpädagogik an der Universität Würzburg. Dr. Barbara Ortland lehrt als Professorin für Heilpädagogische Methodik und Intervention an der Katholischen Hochschule NRW. Dr. Martina Schlüter ist Oberstudienrätin im Hochschuldienst im Department Heilpädagogik und Rehabilitation der Universität zu Köln.

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Leseprobe

2 Inklusion als sozialethisches Projekt – Überlegungen aus fachlicher und familiärer Perspektive


Sabine Schäper

2.1 Erfahrungen – mehr als eine Vorbemerkung


Inklusion als ethischen Anspruch zu formulieren, ist spätestens seit Inkrafttreten der UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderung zur Selbstverständlichkeit geworden – in einem Maße allerdings, dass sich eine gewisse Skepsis einschleicht, ob die Überthematisierung dieses paradigmatischen Begriffs nicht auch geeignet ist, die Praxis des Nicht-Gelingens von Inklusion zu verschleiern. Daher möchte ich in diesem Beitrag nicht ein weiteres Mal die Bedeutsamkeit dieses Anspruchs betonen, sondern mich auf die Spur derjenigen Faktoren und Prozesse begeben, die die umfassende Realisierung von Inklusion in unserer Alltagsrealität verhindern oder erschweren. Dabei gehe ich eher auf die Suche nach inneren als nach äußeren Barrieren, die zumindest recht schnell identifiziert sind, wenn auch nicht immer einfach zu beseitigen.

Die spezifische Perspektive, die in diesem Beitrag im Zentrum stehen soll, ist die der Angehörigen von Menschen mit Behinderungen. Angefragt als Expertin, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe mit Angehörigen zusammengearbeitet hat, wurde mir erst beim Schreiben selbst deutlich, wie sehr ich in der Frage, was das Paradigma der Inklusion für Angehörige von Menschen mit Behinderungen eigentlich bedeutet, an eigene biografische Erfahrungen erinnert wurde. Nachdem ich zunächst damit beschäftigt war, diese eigene Erfahrungsperspektive herauszuhalten, erschien es mir den Versuch wert, meine fachliche Auseinandersetzung mit meiner Erfahrung zusammen zu denken – jenseits des Anspruchs der Generalisierbarkeit meiner subjektiven Erfahrung. Daraus ist eine zweifache Perspektive geworden: Aus der dualen Perspektive als Schwester und der praxiserfahrenen Hochschullehrerin möchte ich – heilpädagogische mit sozialethischen Überlegungen zusammen denkend – Inklusion als sozialethisches Projekt von der Rückseite her, im Ausgang von Inklusion behindernden Erfahrungen beschreiben.

Die Situation von Geschwistern behinderter Kinder kam erst in den 1980er Jahren in den Blickpunkt der Familienforschung. Die Forschung nahm dabei zunächst eine defizitorientierte Perspektive ein: Die Behinderung eines Geschwisterkindes sei vor allem eine Belastung und ein Entwicklungsrisiko für die Geschwister, vor allem durch die Beziehungsdynamik innerhalb der Familie (vgl. Hackenberg 2008, 73). Dabei wurden die Geschwister wiederum eher als einzelne betrachtet, was den Blick auf Unterschiedlichkeiten in der Auseinandersetzung mit der Behinderung bei mehreren Geschwistern ausließ. Die differenzierende Sichtweise, die sich in den letzten Jahren mehr und mehr durchsetzte, sieht daneben auch die Entwicklungschancen und die Bedeutung weiterer hinderlicher wie förderlicher Faktoren in der Lebensrealität.

Zu meiner persönlichen Perspektive1: Meine nahezu zehn Jahre jüngere Schwester lebt seit einer frühkindlichen Hirnschädigung mit vielfältigen Behinderungserfahrungen, die auch für uns als Geschwister Behinderungserfahrungen waren. Die „Besonderheit“ dieser Schwester übertrug sich auf uns – wir wurden auch „irgendwie besondere Geschwister“ – so fühlte ich mich jedenfalls. Und dieses Gefühl, „besonders“ zu sein, fühlte sich aufwertend wie abwertend zugleich an. Ich erinnere mich an Lehrer, die mich mitleidig nach Hause schickten, als meine Schwester auf der Intensivstation darum kämpfte, am Leben zu bleiben. – War das echtes Mitgefühl oder eher der Wunsch, selbst nicht weiter konfrontiert zu sein mit der Bedrohlichkeit der Situation? Ich war jedenfalls skeptisch. Und mein unausgesprochenes Bedürfnis danach, mit jemandem außerhalb der Familie über die Situation sprechen zu können, nahmen weder der Lehrer noch ich selbst richtig wahr.

Ich erinnere die Fahrten zur Kinderklinik. Ich fuhr häufig mit, wenn mein Vater meine Mutter nach einem Tag auf der Intensivstation abholte. Es gab einen – mir damals gar nicht bewussten – Wunsch, in ihrer Nähe zu sein, als könne ich sie dadurch retten oder zumindest irgendwie dazu beitragen, dass sie überlebt – kindliche Größenphantasie, die gegen die Hilflosigkeit helfen sollte. Aber gab es da nicht noch eine andere innere Stimme? Später wurde mir bewusst, dass es da auch Schuldgefühle gab: Ich hatte mich nämlich, während meine Schwester schwer krank war, mit meiner Freundin vergnügt, hatte bei ihr übernachtet, weil es dort Aufmerksamkeit für mich – einmal nicht für meine „kleine Schwester“ – gab.

Die subtile Dynamik von unbewussten Impulsen und moralischen Grenzen in der Auseinandersetzung mit Behinderung hat vor allem Dietmut Niedecken (1989) herausgearbeitet: Sie hat untersucht, wie (geistige) Behinderung zu einem kulturellen Phänomen, einer gesellschaftlichen „Institution“ wird, die dazu dient, in der Gesellschaft vorhandene Tötungsimpulse gegenüber Menschen mit Behinderungen ins Unbewusste zu verbannen. Der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen aus dem sozialen Leben ist eine Folge dieser unbewussten Verdrängungsprozesse: Wenn Menschen mit Behinderungen nicht präsent sind, muss sich niemand mit moralisch intolerablen aggressiven Impulsen ihnen gegenüber auseinandersetzen.

Die allseits selbstverständliche Rede von Inklusion ist in die Sphäre dieser unbewussten Dynamiken bisher kaum vorgedrungen. Inklusion ist aber – so die These dieses Beitrags – ohne die Auseinandersetzung mit diesen Schattenseiten der modernen Gesellschaft nicht zu haben. Und: Diese Auseinandersetzung erfordert zuallererst eine Auseinandersetzung mit dem jeweils eigenen Schatten, den eigenen Unsicherheiten und Hilflosigkeiten im Umgang mit Behinderungserfahrungen.

Denn gesellschaftlich unbewusst gemachte Tötungsimpulse setzen sich immer wieder durch, unter anderem, indem sie delegiert werden an diejenigen, die Menschen mit Behinderungen begleiten: die professionell Begleitenden ebenso wie die Angehörigen, insbesondere die Mütter behinderter Kinder. Bei ihnen vermutet Niedecken unbewusste Tötungsphantasien, die sich oft in deren Kehrseite, einer als überzogen wahrgenommene Fürsorglichkeit dem Kind gegenüber, zeige. Da die Tötungsphantasien abgewehrt werden müssen, weil sie moralisch nicht zulässig sind, verwandeln sie sich in eine Form der unangemessenen Überversorgung und Behütung des Kindes.

Als ich das Buch von Dietmut Niedecken zum ersten Mal las, war ich empört – wie konnte sie aufopferungsvollen Eltern solche Impulse unterstellen? Je mehr ich mich mit meiner Empörung auseinandersetzte, umso deutlicher wurde mir, dass auch sie eine Abwehrreaktion war – und zwar gegenüber der Konfrontation mit meinen eigenen inneren Impulsen. Natürlich – auch ich hatte aggressive Impulse, auch ich verwünschte dann und wann die Behinderung meiner Schwester – und manchmal auch sie selbst mit ihr; auch ich wünschte mir die ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Eltern für mich – welches Kind wünscht sich das nicht? Gleichzeitig waren wir in der Familie alle gemeinsam und jede und jeder auf eigene Weise damit beschäftigt, meiner Schwester den Zugang zu ihren verschütteten Kompetenzen wieder zu ebnen, und waren tagtäglich vom Zweifel begleitet, ob und wie weit es gelingen würde – ein Zweifel eher an unseren Möglichkeiten, an unserer Geduld, an unserer Bereitschaft, viel Zeit zu investieren, eigene Interessen und Bedürfnisse hintanzustellen als an den Möglichkeiten und realistischen Chancen meiner Schwester.

Die Spannung von Hoffnung und Hilflosigkeit, von (Über-) Fürsorge und Verzweiflung bestimmt auch die Reaktionen des sozialen Umfeldes: Sie bewegen sich zwischen den Polen von Bemitleidung und zuweilen aggressiver Entwertung.

Eine Nachbarin war der Meinung, meine Schwester wäre doch besser an ihrer schweren Erkrankung gestorben, als mit einer Behinderung zu leben. Erst viel später verstand ich, dass auch diese Aussage Ausdruck einer psychischen Abwehr war: Die Nachbarin fühlte sich vermutlich bedroht. Die Entrüstung, die sie mit ihrer Aussage bei mir hervorrief, hatte aber wiederum auch Anteile von Abwehr unserer eigenen Ängste und Fragen, wie es uns gelingen würde, mit der Situation umzugehen.

Dietmut Niedecken will ausdrücklich solche Ambivalenzen nicht als „individuelle Verwerflichkeit“ gewertet wissen (ebd., 15), sondern als „Zuweisung, Abschiebung der ungeheuerlichen Kollektivschuld, des unsäglichen Versagens unseres aufgeklärten Bewusstseins“, wie sie in den Verbrechen der Nationalsozialisten gegenüber Menschen mit Behinderung auf die Spitze getrieben wurde, aber eine weit verbreitete Grundhaltung bis heute darstellt. Mütter übernehmenv – so Niedecken – in ihrer Auseinandersetzung mit der Behinderung ihres Kindes unbewusst diesen „gesellschaftlichen Mordauftrag“. „Wo bleibt die Mutter nun, über die der Herrenmensch seinen Fluch ausgesprochen hat, die allein mit diesem Kind ihren Gefühlen überlassen wird, die für ihr Entsetzen und ihren Hass kein Gegenüber mehr hat als dieses Kind? Wie soll sie dieses Kind nicht hassen, nicht seinen Tod wünschen“ (Niedecken 1989, 54).

Diese Dynamik muss mit in den Blick genommen werden, wenn von Inklusion die Rede ist. Angehörige, Eltern wie Geschwister von Menschen mit Behinderungen sind Zielscheibe gesellschaftlicher Projektionen, leben in den Ambivalenzen, die die Gesellschaft ihnen zumutet und die sie an sie delegiert. Die individuell erlebte Ausgrenzung ist Ergebnis von Verdrängungsprozessen, die schwerer zu greifen sind als bauliche Barrieren.

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