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Leben zwischen zwei Welten

Leben zwischen zwei Welten

AutorElisabeth Markstein
VerlagMilena Verlag
Erscheinungsjahr2014
ReiheZeitgeschichte 
Seitenanzahl182 Seiten
ISBN9783902950161
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Aus den Kindertagen einer 'geborenen' Kommunistin hin zu glücklichen Zeiten in Moskau und der Rückkehr in ein fremdes Nachkriegs-Österreich. Elisabeth Markstein, die Tochter von Hilde und Johann Koplenig gehört in den Jahren des Moskauer Exils zu den berühmten Lux-Kindern. Als Kind politisch aktiver Eltern muss sie in verschiedensten Ecken Europas ein Zuhause finden. Ihre Eltern sieht sie in den ersten Jahren kaum. Die Exiljahre sind trotz oder gerade wegen des Kriegs von großer Solidarität und Freundschaft geprägt. Sie lernt in der Emigration Moskau lieben und muss sich nach 1945, als Tochter des ersten Vizekanzlers der provisorischen Österreichs in einem fremden Wien zurecht finden. Markstein erzählt auf eindringliche Weise nicht nur von den Kindertagen einer geborenen Kommunistin, sondern auch von Schicksalen jenseits familiärer Bande. Sie erinnert an die Zeiten des Prager Frühlings, an politische Hoffnungen im Osten wie im Westen. Sie erzählt von Begegnungen mit Chruschtschow und Molotow, Josif Brodski oder Constantin Costa-Gravas, von innigen Freundschaften wie jener zu Heinrich Böll und schwierigen Arbeitsverhältnissen wie mit Alexander Solschenizyn. Es gelingt ihr eindrücklich, ihre beeindruckenden Weggefährten auferstehen und uns an ihrem politisch wie literarisch aufregenden Leben teilhaben zu lassen.

Elisabeth Markstein, geb. 1929 in Wien. Mittelschule in Moskau, Studium der Slawistik an den Universitäten Wien und Moskau, Doktoratsstudium am Dolmetschinstitut Wien. Diplomierte Dolmetscherin für Russisch, freiberufliche Übersetzerin. Ab 1966 Lehrtätigkeit an den Dolmetschinstituten und Instituten für Slawistik Wien, Innsbruck und Graz. 1975/76 Gastlektorin an der University of Texas in Austin. Regelmäßige Gastseminare in Innsbruck. Themen: neuere russische Literatur, Kulturkunde, Übersetzungspraxis und literarisches Übersetzen am Dolmetschinstitut Wien. Staatspreis für Übersetzung 1989. Auszeichnung für Übersetzungen russischer Autoren. Moskau ist viel schöner als Paris (2010)

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Leseprobe

Neunzehn Monate auf dem Lande


Iwan Turgenjews Theaterstück heißt »Ein Monat auf dem Lande«. Er erfand auch das »Adelsnest«, jenen Mythos, den die russische Literatur in schönster Weise pflegte. Bloß dass die von Puschkin, Tolstoi, Gontscharow und Co. beschriebenen Gutshöfe eher südlich von Moskau lagen. Der Unterschied zu unserer Bleibe sollte sich bald zeigen. Jedenfalls lebten wir neunzehn Monate auf einem echten russischen Adelssitz, bescheiden, etwas heruntergekommen, dennoch mit Spuren der einstigen gutsherrlichen Lebensart: ein großer Saal für kleinere Bälle, zu unserer Zeit wohnten darin knapp ein Dutzend ausländischer Frauen mit ihren Kleinkindern, einige Zimmer, Räume für das Gesinde, ein Plumpsklo, ein Brunnen, ein Pferdestall und eine große Küche außerhalb, vom Haupthaus getrennt.

Bevor die Kälte kam, war noch ein bisschen Sommer, ein wunderschöner kurzer Herbst, eine prächtige Landschaft rund um Sacharjino, wie Dorf und Gutshof hießen. Wie sich bald herausstellte, folgte ein gleichermaßen prächtiger – langer – Winter. Sogar wenn wir im Unterschied zu Moskauer Schülern auch bei 30 Grad minus drei Kilometer weit in die Schule zu stapfen hatten, merkten wir, wie schön das war: kein Lufthauch, strahlende Sonne und der funkelnde Schnee. Wir mussten uns aber gegenseitig im Auge behalten: Wer eine weiße Nasenspitze bekam, was ein Zeichen dafür war, dass sie abzufrieren drohte, beeilte sich, sie mit Schnee abzureiben, die Wangen vorsichtshalber auch. Erst wenn’s weiter runterging mit den Graden, blieben wir zu Hause und feierten dankbar das Väterchen Frost.

Der Herrensitz mit seinem großen, verwilderten Park lag am Steilhang der Wetluga, einem Nebenfluss der Wolga. Im rechten Winkel zum Haus führte zum Fluss eine Allee mit alten, mächtigen Bäumen, wahrhaftig dunkel, wie von Iwan Bunin beschrieben. Ans linke flache Ufer ließen wir uns im Sommer mit einem Boot hinüberbringen, um auf dem riesigen grünen Teppich, sobald er vom Hochwasser frei war, Sauerampfer zu sammeln. Der schmeckte uns als Suppe ebenso gut wie die jungen Brennnesseln als Püree; Letztere waren allerdings empfindlich schwieriger zu pflücken. Die Wetluga war kalt und schnell. Das hinderte uns nicht am Baden. Schon im Mai, wenn eben erst das Eis gebrochen war, mussten wir voreinander unseren Mut beweisen; zwei, drei Tempi mit viel Gequietsche, und wir waren wieder draußen.

Heute wie damals bewundere ich die »westlichen«, wenn schon nicht mit Luxus, dann doch mit Zivilisation verwöhnten Frauen, die so vieles lernen und bewältigen mussten. Wasser pumpen, volle Eimer ins Haus schleppen; wenn der Brunnen zufror, Schnee abschmelzen, Holz sägen – fürs Hacken gab es Dunja, eine kräftige Frau aus dem Dorf, für das einzige Pferd zuständig, sonst Mädchen für alles. Wenn ich das erzähle, denke ich gleich an Lilly Révai, die schönste Frau, der ich jemals begegnet bin, und der man, so aristokratisch zart, wie sie war, diese Arbeiten sicher auch nicht zugetraut hätte.

Wir waren privilegiert, wir hungerten nicht, aber was wir hatten, war eintönig und vitaminarm. Aus dem Dorf beschafften wir uns Milch und köstlichen Honig, so aromatisch, wie ich nie mehr einen gegessen habe. Aber damals schmeckte mir alles. Wenn Hilde für Ernsti Karotten oder Erdäpfel kochte, trank ich mit Genuss den übrig gebliebenen Sud. Und als wir einmal im Kolchos bei der Erbsenernte eingesetzt waren, aß ich so viel (das durften wir beim Arbeiten), dass ich mich mit Ach und (Bauch-)Weh nach Hause schleppte. Zum Glück hatten wir die bulgarische Familie Lukanow, mit der wir das Zimmer teilten (vier Erwachsene, zwei Halbwüchsige, fünf Kinder). Emma Lukanowa, Ärztin, hielt uns mit greifbaren Hausmitteln bei Gesundheit. Und Babuschka brachte uns bei, wie man Joghurt ansetzt und aus Brennnesseln das köstliche Püree zubereitet, das jeglichen Spinat übertrifft. Im Frühjahr musste Gemüse angebaut werden und die Lukanow-Frauen gaben uns Unterricht im Gärtnern. Am schlimmsten war es mit dem Kraut. Das wuchs üppig, mitsamt den Vitaminen für den Winter, doch im Sommer standen die Häuptel am Feld voller gefräßiger Schmetterlingslarven, die händisch vernichtet werden mussten. Grauslich.

Mit Dunja, der Stallmeisterin, vertrug ich mich bestens und auch mit dem Pferd, das Dusja hieß und ein friedlicher weiblicher Gaul war, auf dem ich vergeblich zu reiten versuchte. Sattel gab es keinen. Dusja rührte nicht einmal ein »Ohrwaschel«, wenn ich mich hinaufhievte und ihr die imaginären Sporen gab. Indes brauchte sie nur ein Büschel Gras auf der Erde zu erspähen, um mit dem Maul danach zu langen. Ein Wunder, dass ich immer oben blieb. Aber als Kutscherin bestand ich. Einmal musste ich sogar mit dem Leiterwagen in den kilometerweit entfernten Wald um Holz fahren. Die mir beigestellte Erwachsene, Lene Schüller, verstand gar nichts, aber auch absolut nichts von Pferdebehandlung. Es begann schön, fast romantisch, bis ein großes Feld kam, auf dem Leute arbeiteten, und Dusja trotz all meines Rufens und Ziehens ohne jeglichen Grund geradeaus ins Feld trottete. Die Bauern betrachteten die Szene gelassen, lachten höhnisch und ließen mich und Lene Dusja aus eigener Kraft das Geschirr richten und sie aus dem Feld expedieren. Danach klappte alles und wir kehrten nachts mit der Fuhre Holz stolz nach Hause zurück. Ich muss hinzufügen, ich war erst dreizehn Jahre alt und hätte mich eigentlich auch verirren können.

Der Winter im russischen Norden ist lang, Sommer und Herbst kurz, der Frühling beinahe nicht vorhanden. Es taut auf Anhieb überall und einige Tage lang konnten wir kein Wasser vom Brunnen holen, weil es stank. Man brachte es in Zisternenwägen von außerhalb. Doch wie sich zeigte, war dies nicht das Schlimmste in diesem Frühjahr. Schmelzender Schnee und heiße Sonne brüteten Myriaden von Gelsen aus, und das war nun wirklich nicht zu ertragen. Wir räucherten die Zimmer aus, schlossen die Fenster dicht, saßen lieber im Rauch als in Gelsenschwärmen. Die Frauen rannten – langsam gehen war nicht ratsam – mit verschleierten Gesichtern umher, die Kinder kratzten sich und bekamen an Beinen und Armen Geschwüre, die mit einer grünen Tinktur bestrichen wurden. Zum Glück dauerte die Plage nicht lange. Ende Juli war alles vorbei. Danach mussten wir die Wände weißen, weil die massakrierten Gelsen darauf klebten. Ich merke, es klingt alles so fröhlich. War es ja auch für uns Junge. Als wir im Herbst im Kolchos arbeiten mussten, verpflichtet eigentlich allein durch das Gefühl, nicht abseits stehen zu wollen, war es nicht leicht, aber wir hatten auch Spaß am Wetteifern miteinander. Die schwerste Arbeit war das Lein-Raufen, wobei man den niedrigen Flachs mit der Wurzel aus der Erde ziehen musste. Heute gibt es Maschinen dafür. Ich hoffe, auch im Dorf Sacharjino. Etwas leichter war das Auslegen des Flachses zum Trocknen. Darin stellte ich einmal den Tagesrekord auf. Auch schwer war das Sammeln der Erdäpfelknollen aus den vom Pflug aufgeworfenen Furchen, leicht und lustig die Arbeit an der Dreschmaschine. Für mich mit weniger vergnüglichen Folgen: Allergie, Bronchialasthma.

Ein schulisches Erlebnis aus der Zeit in Sacharjino belastet mich bis heute. So selbstverständlich, wie die Kinder aus Moskau bei fast jedem Wetter den Schulweg schafften und im Kolchos arbeiteten, so großstädtisch überheblich waren sie mitunter gegenüber den Lehrern und auch gegenüber den Dorfkindern, die mit uns die Schulbank drückten. Ich fand unser Verhalten mies, aber ich hatte nicht die Selbstsicherheit, mich der Gruppe entgegenzustellen – aus Harmoniebedürfnis oder simpler Feigheit?

Als Opfer wurde die Deutschlehrerin erwählt, eine veritable Deutschlehrerin, blass, hager, verhärmt, ich weiß gar nicht, warum wir gegen sie rebellierten. Ein Schlachtplan wurde ausgeheckt: mitten in der Stunde, deutsche Vokabeln deklinierend, im Gänsemarsch aus der Klasse gehen. Ein mulmiges Gefühl hatte ich dabei, aber ich habe mitgetan. Später erzählte uns jemand, dass der Mann der Deutschlehrerin in einem sibirischen Lager, sie selbst als Wolgadeutsche ausgesiedelt war und sich nun, allein in dieser kulturellen Einöde, als Deutschlehrerin durchbringen musste. Ein gesunder Instinkt sagte uns, dass wir etwas Übles getan hatten. Wir entschuldigten uns. Von da an gab es Frieden und Wohlwollen. Und wir zwei, die Lehrerin und ich, unterhielten uns gerne. Sie hatte dort wenige, um mit ihnen zu reden, schon gar nicht auf Deutsch.

Immer gegenwärtig war der Krieg. Die Schlacht um Moskau, im folgenden Jahr die Schlacht um Stalingrad. Private Radioapparate waren seit Kriegsbeginn requiriert, erlaubt nur die krächzenden Tellerradios an der Wand, die Einheitsprogramm sendeten. Zeitungen kamen selten, wurden weitergereicht, gierig gelesen, die Reportagen von Ilja Ehrenburg und Wassilij Grossman, alles, was an Information zu finden war. Unsere Klasse besuchte die Kriegsverletzten im Lazarett. Wir sangen und deklamierten und brachten kleine Geschenke, meist selbst genähte Tabaksbeutel für Machorka. Sie waren dankbar. Und mir verbot diesmal niemand das...

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