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E-Book

Lebendigkeit

Eine erotische Ökologie

AutorAndreas Weber
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641126155
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Nach seinem Erfolgstitel »Alles fühlt« stellt der Biologe und Philosoph Andreas Weber in seinem neuen Buch eine brisante These auf: Kann es sein, dass unser Planet derzeit weniger an einer Umwelt- oder Finanzkrise leidet, sondern an einem Mangel an Liebe seiner Bewohner? Liebe und Erotik nicht verstanden als kitschiges Gefühl, sondern als unbändige Kraft der Fülle und schöpferischen Energie. Klug und überraschend, auf philosophische wie auf ganz alltagspraktische Weise geht Weber der Frage nach, wie wir die Welt berühren und uns von der Welt berühren lassen.
  • Nur die Liebe kann uns retten
  • Der Mensch, die Natur und die Biologie der Liebe
  • Vom Autor des Bestsellers 'Alles fühlt'


Dr. phil. Andreas Weber, geb. 1967, Buchautor, Journalist und Politikberater, studierte Biologie und Philosophie. Für seinen Artikel »Lasst uns raus« in der Zeitschrift GEO gewann der Naturphilosoph den Deutschen Reporterpreis 2010. Sein Buch »Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur« erzielte anhaltende Resonanz. Andreas Weber lebt mit seinen zwei Kindern Max und Emma in Berlin und in Varese, Ligurien.

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Leseprobe

VORSPIEL

1 Die Tragfähigkeit der Luft

»Und so hat niemand mehr Geist, als er Liebe hat.«

Theodor Lessing2

»Es raspelt wieder in meinem Kamin«, sagt die Freundin ganz aufgeregt. Dann muss sie selbst über ihre Worte lachen. Sie wippt von einem Bein auf das andere. Sie hat sich nicht umgezogen. In ihrem Hauskleid steht sie vor meinem Tisch, draußen auf der Terrasse von Walters Bar.

Laue Luft erfüllt den Platz im Zentrum des kleinen italienischen Städtchens in den Bergen über der Riviera. Die Sonne ist schon verschwunden, aber wie ihr Nachbild setzt sich silbriges Licht zwischen den Häusern fest, als wolle auch die Nacht erleuchtet bleiben. »Irgendwas kratzt und scharrt wieder hinter der Wand. Kannst du nicht noch einmal schauen?«, fragt sie. Wieder muss sie lachen. »Vielleicht ist eine Katze hineingefallen«, sage ich. Ich stehe auf, winke dem Wirt zu, dass ich später bezahle, und gehe hinter der Freundin die warme Gasse zur Wohnung hinauf.

Sie arbeitet in der Schule. Sie hat dort eine Stelle, die es in dieser Art bei uns schon lange nicht mehr gibt: Sie ist Pedellin. Ihre Aufgaben umfassen die der Sekretärin, der Hausmeisterin und der Putzfrau. Und sie muss rechtzeitig die ­Klingel zur Pause drücken. Aber in Wahrheit ist sie die Schulkrankenschwester. Immer wieder einmal sieht man Schüler an ihrem Tisch, der quer am Ende des Korridors steht. Mädchen und Jungen sitzen dort, von der Last des Lernens, der Qual des Kindseins niedergedrückt, den Kopf zwischen den Armen. Auch mitten in der Stunde.

Hier warten die Kinder nicht betreten beim Rektor, weil sie etwas ausgefressen haben. Hier sitzen sie am Tisch der in­offiziellen Schulkrankenschwester, wenn sie unglücklich sind, den Kopf in den Armen verborgen. Die Pedellin tröstet sie. Oder eigentlich tröstet sie gar nicht. Sie lacht. Sie lacht über ihre Schmerzen und ihr Leid. Die Schüler schleppen sich weinend zu ihr, und sie lacht. Und gerade das ist die Medizin. Die Pe­dellin lacht, aber sie lacht nicht die Schüler aus, sondern die Schmerzen. Sie lacht über das Millionste kleine Unglück, so herzlich und so freundlich, dass es ansteckt und die Wut oder der Schmerz ihre Größe verlieren.

In ihrer Wohnung steige ich auf einen wackligen Stuhl. Sie besitzt insgesamt nicht mehr als drei, alle irgendwie defekt. Wenn Gäste zum Essen da sind, müssen sie Sofapolster an den Tisch heranrücken. Ich ziehe das zusammengeknäulte Handtuch aus dem Loch in der Wand, das für ein Ofenrohr vorgesehen ist. Ruß fällt raschelnd auf die Dielen und auf den Tisch. Wir müssen uns anschauen und schon wieder lachen. Ich habe das am Morgen bereits einmal gemacht, habe das Handtuch herausgezogen und auf Zehenspitzen auf dem Stuhl stehend mit einer Taschenlampe in das Loch über meinem Kopf geleuchtet. Ohne Ergebnis.

Diesmal taste ich mit der Hand. Wieder hören wir das Scharren, diesmal lauter, hektisch. Ich fasse tiefer in den Kamin und berühre etwas Glattes, Nachgiebiges, etwas, das abgerundet ist und sich bewegt. Ich schaudere kurz – und packe dann zu. Als meine Hand wieder zum Vorschein kommt, sehe ich, dass es ein junger Mauersegler ist. Sein Körper strahlt Wärme aus. Ich spüre das im Stakkato schlagende Herz.

Ich gehe zum weit aufstehenden Fenster, öffne die Hand, und der Vogel entschwindet wie ein Pfeil ins silbrige Licht des Abendhimmels. Offenbar war er von oben in den Schornstein geflogen und nicht mehr hinausgekommen.

Lächelnd schauen wir uns an. Wir können nicht anders, wir müssen lächeln. Es ist still – aber dann hören wir wieder das Geräusch. Es raspelt weiter. Ich taste noch einmal, greife noch tiefer in die Rußbrocken, fördere einen zweiten Mauersegler zutage und entlasse auch ihn aus dem Fenster in die Freiheit, wo er zwischen den Häusern die Straße entlangkurvt und hinter einer Biegung verschwindet. Die Mauersegler lassen sich in die Luft fallen und werden erneut zu ihrem Element. In diesem Augenblick sind sie gerettet – selbst wenn sie schon zu geschwächt sind, um zu überleben. Ich höre ihre Jubelrufe, ihr lang gezogenes Schrillen im Abend verklingen. Und derselbe Jubel erfüllt uns, die wir uns in den Armen liegen, vor Glück, gerettet zu sein.

In jenem Moment begreife ich: Die Mauersegler sind ein Element der Luft – aber sie sind auch ein Element des Glücks. Die Mauersegler sind die Kinder der Liebe der Luft zu sich selbst. Und ich ahne zum ersten Mal, dass wir diese Liebe gar nicht richtig verstehen, wenn wir sie auf ein Gefühl beschränken, das nur wir verspüren, etwa wenn wir einen besonders begehrenswerten Menschen in unserem Leben zu halten versuchen. Ich habe an jenem Sommerabend den Eindruck, dass die Liebe nichts anderes ist als die reine Lebendigkeit in Fleisch und Blut, mit klopfendem Herzen und ausgebreiteten Schwingen. Ja, dass jeder Moment, in dem wir dem Leben und seinem Begehren mit Zärtlichkeit begegnen, diese Liebe entfaltet, so wie der junge Vogel gerade seine überlangen Schwingen in die Freiheit und in die Lebendigkeit hinein entfaltet hat.

Lieben heißt also, dachte ich, im vollen Maß lebendig zu sein. Aber das brachte eine ganze Menge Konsequenzen mit sich. Dann müssen wir nämlich, so wurde mir klar, was wir für das Leben halten und für dessen Sinn, noch einmal ganz neu überdenken. Dann haben wir möglicherweise vom Leben und von dem dazugehörigen Gefühl bislang wenig verstanden. Oder viel vergessen.

Und es könnte sein, dass unser Planet in Wahrheit nicht in einer Umweltkrise steckt, oder in einer Wirtschaftskrise. Sondern dass die Erde derzeit unter dem Mangel unserer Liebe leidet – während sie in die sechste Aussterbewelle eingetreten ist, immer mehr Menschen über das Gefühl der Sinnlosigkeit ­klagen, Depressionen und Persönlichkeitsstörungen auf dem Vormarsch sind und immer noch Milliarden von uns in der Düsternis absoluter Armut leben.

Aber diese Liebe, so dachte ich, während die Pfeilspur der befreiten Mauersegler als Nachbild in die leere Luft des Abends gebrannt schien, ist ja nichts anderes als der unermüdliche Drang der Lebewesen und der Ökosysteme, zu wachsen und sich zu entfalten. Sie ist das Begehren nach solcher Entfaltung und die Freude über die Erfüllung dieses Drangs – und zugleich das Glück, das die Freundin und ich eben fühlten, als wir uns nach der Rettung der kleinen Tiere in den Armen lagen. Sie entfaltet sich, gleich ob mir oder einem anderen Wesen Gutes geschieht, weil sie die Freude darüber ist, wenn in der Welt das Leben zunimmt, irgendwo.

Diese Liebe leitet die Sicherheit, mit der zwei Zellen ei­nander finden, die Präzision, mit der eifrige Moleküle viele Hunderttausend Male pro Sekunde Sprünge und Brüche in der DNA unserer Zellen reparieren. Sie begleitet das Austreiben der Blumen und den Instinkt der Weichkäfer, die vom Pollen der Blüten fressen. Die Liebe lenkt all diese Prozesse des Lebens – aber nicht als kitschiges Gefühl, sondern als eine unbändige Kraft, mit der sich die schöpferische Energie der Welt zu Individuen formt und diese wieder zerstört.

Liebe, so überlegte ich, war so etwas wie die Innenseite von Lebendigkeit. An diesem Abend war ich in sie hineingerutscht, absichtslos, tastend, ein bisschen beklommen, so wie ich mit meiner Hand fast erschrocken auf die pulsierende Wärme der jungen Vögel in der rußigen Höhle des Ofens gestoßen war.

Und plötzlich klopfte auch mein Herz wie das des kleinen Mauerseglers. Was gab es noch alles zu entdecken! Wie sehr würden wir wieder begreifen können, in welchem Maß auch wir an dieser Kraft teilhaben. Und zu was wir sie nutzen können, um in einem produktiven und poetischen Sinn lebendig zu werden.

Eros: Was die Welt wirklicher macht

Wenn wir über Liebe sprechen, dann denken wir gewöhnlich an Menschen, an Paare vor allem, wir denken an Zweisamkeit und Einklang, an Enttäuschung und Melodrama. Wir denken an die Liebe zu uns selbst, nicht an die Liebe zur Welt. Eros, das klingt nach einem guten Nachtisch, nach »happy ending«. Aber Eros, der griechische Gott der Liebe, galt in der Antike als tragische Gestalt. Er war nicht der Gott der genussvollen Erfüllung, sondern jener der emotionalen Intensität, die auch oder gerade in der Abwesenheit brennt.

Aber waren wir, überlegte ich, dann nicht alle und mit uns die großen Projekte unserer Zivilisation in einem Irrtum be­fan­gen? Hatten wir womöglich kollektiv vergessen, was als entscheidendes Moment Liebe erst gebar? Dass sie nicht ein be­glückender Rausch war, sondern Maßstab des Gelingens einer Beziehung, in der mehr als einer, ich und du, der Einzelne und die Welt, gemeinsam Platz finden mussten? Hatten wir uns alle, im technologisch bequemen und monströsen 21. Jahrhundert, im Streben nach einer möglichst angenehmen Existenz, nach Geborgenheit, Anerkennung und allabendlichem Vergessen, in ein Bild des Liebens verrannt, das uns von der Lebendigkeit fortführte und immer tiefer in eine Spirale der Bedürfnisse hineinsaugte, in deren Mitte nichts stand als das optimierte eigene Ich, abgetrennt, unverbunden – und letztlich tot?

Die Suche nach der Liebe ist eine zentrale Bewegung, die unser Leben kennzeichnet, und sie bleibt so unermüdlich wie unerfüllt. Ihr dauerndes Scheitern könnte bedeuten, dass wir das Lieben genauso wenig verstehen, wie wir das Lebendige, die Natur, die ebenfalls bedrohte schöpferische Kraft der Erde verstehen. Wir lieben oft falsch. Das ist die Ausgangsthese dieses Buches, im Privaten wie im Politischen, im Großen wie im Kleinen, in der Kultur wie im Bett. Wir lieben falsch, weil wir mit dem, was...

Blick ins Buch

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