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E-Book

Lebenslänglich Knastlehrer

Meine Erfahrungen aus 20 Jahren Jugendgefängnis

AutorKlaus Vogel
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783864136184
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Seit über 30 Jahren ist Klaus Vogel Lehrer aus Passion - und den Großteil davon im Gefängnis. Er ist Schulleiter in der Jugendstrafanstalt Berlin und unterrichtet straffällig gewordene Jugendliche, um ihnen einen Schulabschluss und damit die Wiedereingliederung in das Leben nach dem Knast zu ermöglichen. In diesem Buch erzählt er aus seinem reichen Erfahrungsschatz, von Erfolgen, von Misserfolgen, was das Besondere am Unterrichten im Gefängnis ist, von Jugendlichen, die das Gefängnis hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen können, und von denen, die immer wieder kommen. Und das sind nicht wenige. Umrahmt von vielen Begebenheiten aus seinem langjährigen Berufsalltag erklärt Klaus Vogel, woran es im Umgang mit den straffälligen Jugendlichen mangelt, was sich ändern müsste - und warum er seinen Beruf trotz aller Probleme und Widerstände noch immer aus tiefer Überzeugung und voller Herzblut ausübt.

Klaus Vogel, Jahrgang 1953, ist seit 1999 Schulleiter in der Jugendstrafanstalt Berlin, die in den letzten Jahren über 600 jugendliche Straftäter beherbergte. Zusätzlich ist er Vorsitzender der Berufsorganisation der Lehrer und Lehrerinnen im Strafvollzug, organisiert regelmäßig nationale Fachtagungen und war an diversen Kooperationen länderübergreifender vollzugspädagogischer Projekte beteiligt. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

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Leseprobe

Teil 2: Umschluss2 (1989–1999)


Im Osten viel Neues – Als die Einheit im Vollzug ankam


Wohl jeder Mensch weiß, welche Veränderungen der Übergang von den Achtziger- zu den Neunzigerjahren für Deutschland bedeutete. Doch kaum ein Mensch ahnt, welche Folgen diese Zeit für den Justizvollzug mit sich brachte und damit auch für meine Arbeit als Lehrer.

Ich selbst konnte 1990 nicht einmal ahnen, was auf mich und meine Kollegen zukam. Während die Welt noch staunend auf die friedlichen Revolutionen von 1989 und deren durchaus begrüßenswerte Folgen schaute, standen wir in den Folgejahren vor vollkommen neuen Aufgaben und Problemen. Denn die neue Freiheit in vielen Teilen der ehemaligen Sowjetunion brachte auch einen massiven Zuzug von Kriminellen aus jenen Regionen in den Westen mit sich. Kriminellen, die sich sehr stark von jenen Menschen unterschieden, mit denen wir es bislang zu tun hatten.

Außerdem kam ich persönlich schon in den frühen Neunzigerjahren mit einer Problematik in Kontakt, die in der Welt erst ein gutes Jahrzehnt später wirklich Beachtung fand: Attentate mit islamistischem Hintergrund, die der 11. September 2001 unauslöschlich in die Erinnerung der Menschen einbrannte.

Rund zehn Jahre zuvor fand ein Anschlag mitten in Berlin statt. Der richtete sich allerdings nicht gegen den Westen an sich, Ziel waren vielmehr oppositionelle Politiker aus einer islamischen Republik. Der mutmaßliche Haupttäter war schnell gefunden: Er hieß Bahram Kücük, und er wurde mein Schüler – ein Schüler, mit dem ich so lange und so intensiv zusammenarbeiten sollte wie mit kaum einem anderen in meiner mehr als 30-jährigen Laufbahn.

Aber fangen wir vorne an. Der Tag, der gerade für einen Berliner wie mich unvergesslich bleiben sollte, war ein Donnerstag: der 9. November 1989, und damit der Tag, an dem nach 28 Jahren jene Mauer fiel, die Berlin in Ost und West teilte.

Wie jeder Berliner erinnere ich mich genau an diesen Tag. Daran, dass es bereits Abend war, als uns diese eigentlich unglaubliche Meldung über die Fernsehbildschirme in unseren Wohnungen erreichte: Die Mauer war offen.

Danach war in Berlin natürlich nichts mehr so, wie man es all die Jahrzehnte gewohnt war, und als politisch interessierter Mensch verfolgte ich die weitere Entwicklung natürlich intensiv und gespannt.

Für meinen Alltag als Lehrer im Justizvollzug brachten die ersten Tage und Monate nach dem Mauerfall zunächst denkbar wenige Veränderungen mit sich. Die Mauern der Justizvollzugsanstalten in Westberlin standen weiter, ihre Tore blieben geschlossen und die Arbeit dahinter ging ihren Gang.

Das jedoch galt nur für Westberlin. Im damaligen Ostberlin veränderte der Mauerfall und die Wende insgesamt die Situation in Bezug auf die Haftanstalten vollkommen. Während bei uns hauptsächlich Straftäter inhaftiert wurden, konzentrierte man sich in der DDR hauptsächlich auf jene Menschen, die politisch eine eigene und vor allem eine kritische Meinung zum System einnahmen. Manche waren wegen Republikflucht inhaftiert, manche, weil sie vielleicht einfach nur den falschen Fernsehsender eingeschaltet hatten. Diese politischen Häftlinge wurden in den Haftanstalten der Staatssicherheit psychisch und auch physisch gefoltert.

Das änderte sich nach dem Mauerfall in einer kaum für möglich gehaltenen Geschwindigkeit. Kaum eine Woche nach der überraschenden Nachricht des 9. November wurde das berüchtigte Ministerium für Staatssicherheit – die Stasi – in das Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) umbenannt. Nicht zuletzt mit dem Ziel, den riesigen Überwachungsapparat zu verkleinern. Auch diese Pläne wurden allerdings von der Zeit und vor allem von dem neu erwachten Willen der Bürger überholt: Unter Druck geraten, löste der Ministerrat bereits am 14. Dezember 1989 das AfNS wieder auf.

Das Entscheidende für mich und den gesamten Justizvollzug bestand jedoch in einem damit verbundenen Umstand: Gleichzeitig wurden die Untersuchungshaftanstalten der DDR aufgelöst beziehungsweise geschlossen. Dazu zählte auch die berüchtigte Anstalt Berlin-Hohenschönhausen, die seit 1951 als zentrales Untersuchungsgefängnis der Stasi diente. Die letzten Inhaftierten wurden im Frühjahr 1990 entlassen, die Anstalt dann am 2. Oktober 1990 offiziell geschlossen – also einen Tag vor der offiziellen Wiedervereinigung Deutschlands.

Doch es ging eben nicht nur um Hohenschönhausen. Als die Wiedervereinigung kam, wurden alle Knäste in Ostberlin geschlossen – Lichtenberg, Rummelsburg, Hohenschönhausen, Pankow und was da noch so war, alle wurden komplett zugemacht. Man hat damals gesagt, dass ein Vollzug wie in diesen Haftanstalten den Menschen in der ehemaligen DDR nicht mehr zuzumuten sei.

Allerdings gab es auch in der DDR nicht nur politische Gefangene. Obwohl das Regime kaum davon sprach, kannte man auch in der DDR gewöhnliche Kriminalität und damit auch inhaftierte Straftäter. Nur hatte man nun eben die Anstalten geschlossen, in denen diese Menschen ihre Strafe absitzen sollten.

Damit war klar, dass wir als Westberliner Gefängnisse eine zusätzliche Aufgabe bekamen: Wir mussten die kriminellen Straf- und Untersuchungsgefangenen in unseren Anstalten aufnehmen. Das bedeutete: Alle – und damit meine ich wirklich alle – verbliebenen, nicht politischen Inhaftierten aus den nun geschlossenen Anstalten kamen zu uns in den Westen.

Die Belegungszahlen stiegen also sehr schnell sehr stark an. In kürzester Zeit hatten wir rund ein Viertel mehr Insassen zu betreuen. Ein Umstand, dem wir zunächst nur sehr begrenzt gewachsen waren. Nicht zuletzt, weil wir in der Folge neben dem Überbelegungsproblem auch ein Personalproblem bekamen.

Denn mit den neuen Häftlingen kam nicht automatisch auch das Personal zu uns. Die Mitarbeiter der ehemaligen ostdeutschen Haftanstalten wurden vielmehr zunächst einmal »gegauckt«, bevor man entschied, ob sie auch im westlichen Strafvollzug weiter Dienst tun können.

Der Begriff »gegauckt« steht für die Arbeit der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, seinerzeit geleitet von dem heutigen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Es ging also darum herauszufinden, wie sehr eine einzelne Person in die Tätigkeiten der ehemaligen Stasi verwickelt war, was sie sich zu DDR-Zeiten in diesem Zusammenhang zuschulden hatte kommen lassen. Eine große Zahl der ehemaligen Mitarbeiter und Bediensteten der DDR-Haftanstalten sind dabei sofort aus dem Raster herausgefallen und konnten nicht übernommen werden. Weil sie eben eine Akte bei der Stasi hatten und dort als sogenannter IM – also inoffizieller Mitarbeiter – geführt wurden. Oder weil es eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit gab.

Positiv »gegauckte« und damit unverdächtige Bedienstete der Ostberliner Haftanstalten wiederum konnten unter bestimmten Voraussetzungen in die Westberliner Gefängnisse übernommen werden. Zusätzlich haben wir sehr schnell angefangen, auch neues Personal zu rekrutieren.

In diesen gesamten Prozess war ich als Lehrer involviert. Denn bevor wir das neue Personal im Vollzug wirklich einsetzen konnten, musste es erst einmal in Ausbildungslehrgängen geschult werden – das galt für die frisch rekrutierten Neuzugänge und vor allem die übernommenen Ostberliner. Wir mussten vor deren Einsatz eben erst einmal prüfen, ob diese Menschen in der Lage sind, einen Vollzug nach unseren Ideen und Richtlinien durchzuführen.

In Berlin kamen etwa drei Lehrgänge mit jeweils 20 Personen zusammen, insgesamt also rund 60.

Ich habe in zwei dieser Lehrgänge für die Bediensteten aus der ehemaligen DDR politische Bildung unterrichtet. Was durchaus intensive Arbeit bedeutete. Denn man beließ es damals nicht bei ein paar oberflächlichen Unterweisungen, die Kurse dauerten jeweils ein Vierteljahr.

Schließlich gab es viele neue Themenfelder, die dabei vermittelt werden mussten. Es ging um die allgemeine politische Bildung, um das Grundgesetz und damit die Rechtsgrundlagen, die Zielsetzungen im Vollzug, Themenbereiche wie Sicherheit und vieles mehr.

Das hört sich vermutlich einfacher an, als es wirklich war. Denn es war damals eben nicht alles so selbstverständlich, wie es heute wirkt. Die Menschen kamen aus einem völlig anderen System. Das galt für das politische System ebenso wie für das des Justizvollzugs. Vieles von dem, was wir damals in den Lehrgängen vermittelten, war Vollzugsbeamten aus der DDR also vollkommen neu. Hinzu kam, dass nicht jeder Teilnehmer in den Lehrgängen bereitwillig alles Wissen annahm, das wir vermittelten oder zu vermitteln versuchten. Da stand immer auch noch eine Stimmung im Raum, die besagte: »Es war ja nicht wirklich alles schlecht bei uns in der DDR.« Das wiederum war verbunden mit einer kritischen Grundhaltung, hinter der die Vermutung stand, dass wir diese Menschen nun vollkommen umkrempeln und ihnen auch eine Ideologie aufzwingen wollten. Es gab also, zurückhaltend ausgedrückt, einige Widerstände gegen unsere Bemühungen.

Dazu muss ich sagen, dass ich von meinem persönlichen Standpunkt durchaus Verständnis für gewisse Grundideen des Sozialismus hatte. Ich bekam also als Individuum kein Problem damit, wenn mir jemand zu verstehen geben wollte, dass die Grundgedanken des Sozialismus nicht alle vollkommen verkehrt waren.

Darum ging es bei den Lehrgängen aber auch gar nicht. Es war nicht unsere Aufgabe und auch nicht unser Wille, ein System zu verdammen und das andere in den Himmel zu heben. Wir hatten angehenden Mitarbeitern die Unterschiede der Systeme und deren Ausrichtung zu...

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