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Lebenslang Lebensborn

Die Wunschkinder der SS und was aus ihnen wurde

AutorDorothee Schmitz-Köster, Tristan Vankann
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783492958714
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Groß - blond - blauäugig, so sollten sie aussehen, die Kinder, die in den Lebensborn-Heimen auf die Welt kamen, die der SS-Organisation übergeben wurden oder die in ihre Hände gerieten, nachdem sie verschleppt und zwangsgermanisiert worden waren. Der Plan: Ob deutscher oder ausländischer Herkunft, sie sollten die »arische Rasse« vergrößern und eine neue Elite bilden. Die meisten der 18.000 Betroffenen sprechen bis heute nicht über ihre Lebensborn-Zeit - um sich und ihre Mütter zu schützen, aus Scham oder weil ihre Herkunft so konsequent verschwiegen wurde, dass sie ahnungslos sind. Doch einige gehen inzwischen an die Öffentlichkeit. Die Journalistin Dorothee Schmitz-Köster zeichnet in 20 Porträts ihre Schicksale nach. Und der Fotograf Tristan Vankann zeigt in bewegenden Aufnahmen die Gesichter von Lebensborn-Kindern heute.

Dr. Dorothee Schmitz-Köster, geboren 1950, lebt in Berlin und Bremen als freie Rundfunkjournalistin und Autorin. Sie beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte des Lebensborn. Zuletzt erschienen von ihr »Kind L 364« und »Der Krieg meines Vaters«.

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VORWORT


Groß, blond und blauäugig – so sollten sie aussehen, die Kinder, die im Lebensborn geboren wurden, die Kinder, die der Lebensborn registrierte, verwaltete, betreute. Groß, blond und blauäugig, »arisch« also, und dazu gesund und erbgesund. Reine Verkörperungen des Rasseideals, das sich die Nationalsozialisten auf die Fahnen geschrieben hatten und das sie mit grausamer Konsequenz verfolgten.

Die Natur und die eigene Politik haben den selbst ernannten Rassespezialisten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Lebensborn-Kinder sind genauso hell- oder dunkelhaarig, blau- oder braunäugig wie alle anderen. Sie sind genauso häufig gesund oder krank, und sie haben Gesundheit und Krankheiten genauso weitervererbt. Auch die Zukunftsprojektionen der SS-Organisation sind geplatzt. Aus der anvisierten »künftigen Elite«, die je nach Geschlecht Führungs- oder Reproduktionsaufgaben übernehmen sollte, sind Frauen und Männer geworden, die sich oben und unten, rechts und links und manchmal auch quer in Hierarchien und Strukturen bewegen. Ganz abgesehen davon, dass unter ihnen kinderreiche Eltern kaum zu finden sind. Das Lebensborn-Projekt ist also gründlich fehlgeschlagen. Nur: Bei seinen Kindern hat es Spuren hinterlassen. Davon will dieses Buch erzählen.

Wie findet man Lebensborn-Kinder, wo findet man Lebensborn-Kinder? Wenn man Zugriff auf ihre Geburtsdokumente hätte, die heute in den normalen Standesämtern liegen, wäre es leicht. Man würde nach Steinhöring und Wernigerode fahren, nach Nordrach und Hohehorst/Löhnhorst, nach Wiesbaden und Klosterheide – in die Städte oder Dörfer, in denen (deutsche) Lebensborn-Heime existiert haben. Man würde Namen notieren, im Internet recherchieren und sicher eine ganze Reihe von Frauen und Männern ausfindig machen. Aber das ist nicht möglich – aus Datenschutzgründen. Es wäre leicht, wenn man die Namen nutzen dürfte, die in den Archivakten auftauchen. Aber dem steht das Archivgesetz entgegen.

So begegnet man Lebensborn-Kindern eigentlich nur, wenn sie sich zu erkennen geben. Wenn sie in die Öffentlichkeit gehen, um ihre Geschichte zu erzählen, wenn sie Kontakt aufnehmen, weil sie Rat und Hilfestellung bei der Suche nach ihren Wurzeln brauchen. Ein Buch über Lebensborn-Kinder kann sich deshalb nur auf diejenigen stützen, die den Schritt nach draußen getan haben. Aber das ist – gemessen an der Gesamtzahl – bisher die Minderheit. Ich habe in den 17 Jahren, die ich mich mit dem Thema beschäftige, 130 Frauen und Männer kennengelernt, die in einem Lebensborn-Heim auf die Welt gekommen sind oder vom Lebensborn registriert und begutachtet, betreut, vermittelt oder umgepolt wurden. Wo sind die anderen?

In den deutschen und österreichischen Lebensborn-Heimen kamen immerhin 7000 bis 8000 Babys auf die Welt. In Norwegen registrierte und verwaltete die Organisation etwa 8000 Kinder. Hinzu kommen etwa 350 zwangsgermanisierte Mädchen und Jungen aus Ost- und Südosteuropa. Weiter gibt es eine unbekannte Zahl von belgischen, französischen und luxemburgischen Lebensborn-Kindern. Und schließlich eine ebenfalls unbekannte Zahl kleiner Menschen, die dem Lebensborn erst nach der Geburt übergeben wurden. Summa summarum also 18000 Personen, die als Kinder in der Hand der Organisation waren und die heute zwischen 67 und 77 Jahre alt sind. Warum sind sie unsichtbar?

Es gibt Frauen und Männer, die nicht wissen, dass sie Lebensborn-Kinder sind. Ihre Eltern haben darüber geschwiegen oder Lügengeschichten erzählt. Und sie haben das hingenommen und geglaubt. Als Kinder. Als Erwachsene.

Es gibt Menschen, die zwar wissen, dass sie in einem Lebensborn-Heim auf die Welt gekommen sind, die sich aber nicht als »richtige« Lebensborn-Kinder betrachten. Sie seien ganz normal entstanden und nicht »gezüchtet«, argumentieren sie. Der fatal-falsche Mythos von der »Zuchtanstalt Lebensborn«, in der ausgesuchte Frauen und Männer zum Zweck der Kinderzeugung zusammengeführt wurden, geistert auch in den Köpfen der Betroffenen noch herum.

Es gibt Lebensborn-Kinder, die unerkannt bleiben wollen, weil sie um ihr Ansehen besorgt sind. Sie fürchten die Macht der Mythen, die sich um die Organisation ranken und die ein schlechtes Licht auf die Mutter, auf den Vater, auf sie selbst werfen.

Und schließlich gibt es Frauen und Männer, denen einfach die Kraft und der Mut fehlen, sich zu zeigen. Verstrickt in die eigene Geschichte, umgeben von tausend ungeklärten Fragen, suchen sie nach Antworten – um dann vielleicht ihre eigenen Kinder einzuweihen, um dann vielleicht doch Kontakt zu anderen Betroffenen aufzunehmen und sich öffentlich zu machen …

Viele Gründe also, nicht über die Lebensborn-Geburt zu sprechen, sie zu ignorieren, zu verleugnen, zu verschweigen. Verständliche, nachvollziehbare Gründe. Nur: Dieses Ignorieren, Verleugnen und Verschweigen setzt genau das fort, was viele Lebensborn-Eltern betrieben haben, mit fatalen Folgen für ihre Kinder. Und für ihre Enkel, denn das Schweigen hat die nächste Generation längst erreicht. Diese Kontinuität aufzubrechen – das ist einer der Gründe, warum Lebensborn-Kinder heute bereit sind, sich zu zeigen. Außerdem wollen sie die falschen Vorstellungen über die Organisation aus der Welt schaffen, damit die tatsächlichen Ziele, die tatsächliche Praxis in den Vordergrund der Auseinandersetzung rücken.

Wer oder was war der Lebensborn? Der Lebensborn e.V. war eine SS-Organisation und ein Lieblingsprojekt von Heinrich Himmler, dem »Reichsführer SS«. Er hatte 1935 die Gründung veranlasst, er hatte die Organisation im Blick, er steuerte, er entschied – neben dem Lebensborn-Vorstand, der sich aus SS-»Führern« zusammensetzte.

Der Lebensborn war ein Rasseprojekt. Mit seiner Hilfe sollte die »arische Rasse« vergrößert und kultiviert werden, um einmal die Weltherrschaft zu übernehmen. Für dieses gigantomanische Ziel brauchten die Nationalsozialisten nicht nur mehr Menschen – sie brauchten auch eine Führungselite, die sich unter anderem aus dem Lebensborn-Projekt rekrutieren sollte.

Seit 1936 eröffnete die SS-Organisation Entbindungs- und Kinderheime, zuerst in Deutschland (9), später auch im »angeschlossenen« Österreich (2), im besetzten Norwegen (11), Belgien, Frankreich und Luxemburg (jeweils 1). Dort sollten »arische«, gesunde und erbgesunde Frauen, die von einem »arischen«, gesunden und erbgesunden Mann schwanger waren, ihr Kind zur Welt bringen. In ruhiger, komfortabler Umgebung, unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit, wenn die Frauen es wollten oder brauchten. Die gute Versorgung zog vor allem verheiratete Frauen an, die zur »SS-Sippe« gehörten. Eigentlich war den Lebensborn-Machern eine andere Klientel wichtiger. Sie wollten ledige, schwangere Frauen »guten Blutes« dazu bringen, nicht abzutreiben, sondern ihr Kind auszutragen und im Lebensborn zu entbinden. Und damit die »Schande« der unehelichen Geburt ihnen keine Nachteile brachte, bot die SS-Organisation ihnen die Möglichkeit, Schwangerschaft, Entbindung und letztlich auch das Kind geheim zu halten.

Mit Kriegsbeginn wurde der Lebensborn auch in besetzten Ländern aktiv. In Osteuropa war er an der Zwangsgermanisierung von Kindern beteiligt, die in den Augen der »Rassenhygieniker« »gutes Blut« besaßen. Und in west- und nordeuropäischen Ländern verschaffte er sich Zugriff auf Kinder, die einen deutschen Besatzervater und eine norwegische, belgische, luxemburgische oder französische Mutter hatten. Denn auch sie galten als »rassisch wertvoll«.

Welche Rolle spielt die Lebensborn-Geburt, die Lebensborn-Erfahrung im Leben der Menschen, die als Kinder in der Hand der SS-Organisation waren? Darauf sollen 20 Lebensgeschichten Antworten geben. Sie fächern ein breites Spektrum unterschiedlicher Biografien auf und machen damit klar: Das Lebensborn-Kind gibt es nicht!

Unter den Frauen und Männern, die ihr Gesicht zeigen, sind ehelich und außerehelich Geborene. Einige sind bei den Eltern aufgewachsen, andere in Pflege- beziehungsweise Adoptivfamilien. Es gibt Kinder von »Tätern« und von politisch Indifferenten, soweit das im NS-System möglich war. Drei Lebensborn-Kinder haben ausländische Wurzeln. Zwei passten nicht ins Schema der SS-Organisation und wurden deshalb »aussortiert«.

Unter den Frauen und Männern sind Westdeutsche und Ostdeutsche. Manche haben Karriere gemacht, manche leben ein bescheidenes Leben. Es gibt langjährig Verheiratete und Geschiedene, Singles und Witwen, Schwule und Heterosexuelle, Linke und Rechte.

Einige von ihnen haben ihre Geschichte ausrecherchiert, andere stecken mittendrin. Es gibt wenig informierte Lebensborn-Kinder und regelrechte Experten. Manche sind in den Beschädigungen gefangen, die ihnen durch den Lebensborn zugefügt wurden, andere haben es geschafft, sie zu neutralisieren, zu heilen. Und es gibt auch Frauen und Männer, die nicht verletzt, nicht traumatisiert sind – denn nicht alle Lebensborn-Kinder sind ungewollte oder ungeliebte, verleugnete oder herumgestoßene Menschen.

Über die Generation der Kriegskinder, zu denen die Lebensborn-Kinder ja auch gehören, ist schon viel geforscht und veröffentlicht worden. Nur ist diese »Untergruppe« bisher kaum in den Blick geraten. Dabei gehört auch ihre Geschichte, die so deutlich vom Rasse- und Gesundheitswahn der Nationalsozialisten zeugt, in das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft.

Dorothee Schmitz-Köster, Berlin und Bremen im Mai 2012

Als Dorothee Schmitz-Köster mich fragte, ob ich Lebensborn-Kinder für einen Porträtband fotografieren wollte, war ich sofort begeistert. Der Umgang mit Menschen, ihren Geschichten, ihren Erlebnissen...

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