Mit einem Blick auf die beiden beschriebenen Lebensstildimensionen (Ausstattungsniveau und Modernität/biografische Perspektive), kommen erwartungsgemäß die dominanten Nutzer-gruppen aus dem teilmodernen (Aufstiegsorientierte, Liberal Gehobene) und die am wenigsten Vertretenen aus dem traditionellen (Konservativ Gehobene, Traditionelle Arbeiter) Segment. Bildung als grundlegende Ressource für den Gang in die Bibliothek lässt darüber hinaus auf eine schwächere Vertretung des untersten Ausstattungsniveaus (Traditionelle Arbeiter, Heimzentrierte, Unterhaltungssuchende) schließen.[54] Als Nährboden der vergleichenden Analyse dienen die ausführlich begründeten Hypothesen Juliane Linkes, welche im Folgenden aufgeführt und anschließend geprüft werden.
„H.1: Die Verteilung der Lebensstiltypen an der Stadtbibliothek Leipzig wird sich von der in Stuttgart unterscheiden.“[55]
Da zwischen Stuttgart und Leipzig nicht zuletzt auch aufgrund der jahrzehntelangen Teilung Deutschlands nach wie vor recht markante sozialstrukturelle Unterschiede und sozialisationsbedingte Mentalitätsabweichungen auszumachen sind und diese sich auch in der Ausgestaltung des Lebens manifestieren, ist sowohl allgemein als auch bezogen auf die Bibliotheksnutzung eine unterschiedliche Lebensstilverteilung zu erwarten.[56] Ungleiche regional wie geschichtlich bedingte Lebensbedingungen führen zu unterschiedlichen Werthaltungen und Überzeugungen, so die Annahme. Dies wird sich auch in der Lebensstilverteilung niederschlagen.
Beide Städte haben mehr als 500.000 Einwohner und weisen eine ähnliche Altersstruktur auf:
„Die Anteile der 18- bis 25-Jährigen sind nahezu gleich verteilt. Es folgen die 45- bis unter 65-Jährigen mit etwa einem Viertel und die 18- bis unter 25-Jährigen mit rund neun Prozent. Unterschiede ergeben sich bei Kindern und Menschen ab 65 Jahren. In Leipzig gibt es knapp vier Prozent mehr 65+-Jährige und dafür weniger Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren als in Stuttgart.“[57]
Auch im Bildungsbereich gibt es keine nennenswerten Unterschiede. Die gesamtdeutsche Wiedervereinigung brachte zunächst keine Angleichung, sondern eine Sprengung sozialer Milieus mit sich. Die Kluft zwischen Armen und Reichen sowie Traditionalisten und Modernisten wuchs. Bis 2000 erfasste deshalb das Sinus-Institut für Ost und West eigenständige Modelle sozialer Milieus. Seit 2001 existiert ein gesamtdeutsches Modell.[58]
Darüber hinaus ist in Westdeutschland im Sinne der Theorie des Postmaterialismus von Ronald Inglehart mit einer stärkeren Verankerung und Verbreitung postmaterialistischer Werte (wie z.B. Selbstentfaltung, Partizipation, Lebensqualität oder Emanzipation) zu rechnen als in Ostdeutschland, wo demgegenüber aller Voraussicht nach materialistische Werte (wie z.B. Leistung, Sicherheit, Prestige, sozialer Aufstieg) einen höheren Stellenwert haben.[59] Laut der Mangelhypothese im Kontext des Postmaterialismus streben vor allem jene nach materiellem Konsum, die im Laufe ihrer Sozialisation oder fortwährend an materiellem Mangel leiden.[60] Während in Ostdeutschland die Mehrheit Bedingungen vorfanden, um lediglich nach grundlegenden materiellen Bedürfnissen zu streben, stellte die Befriedigung von materiellen Grundbedürfnissen in Westdeutschland eine viel größere Selbstverständlichkeit dar. Folglich konnte bei in Westdeutschland sozialisierten Menschen das Streben nach postmateriellen Werten in den Vordergrund rücken. Bis zum politischen Systemwechsel Ende der 1980er-Jahre produzierte das politische System in Ostdeutschland eher materialistische Werthalt-ungen, in Westdeutschland hingegen eher postmaterialistische. Gesellschaftlich verankerte sowie sozialisationsbedingte Wertvorstellungen wandeln sich nur schleichend über nachkommende Generationen hinweg. Deshalb ist anzunehmen, dass nach wie vor (wenn auch mit abnehmender Tendenz) in Westdeutschland der (postmaterialistisch orientierte) Lebensstiltyp der Reflexiven stärker und der (materialistisch orientierte) Typ der Unterhaltungssuchenden schwächer besetzt sein wird als in Ostdeutschland. Umgekehrt sind in Ostdeutschland dementsprechend mehr Unterhaltungssuchende und weniger Reflexive zu erwarten.
„H.2: Trotz aller Unterschiede werden sich die Verteilungen der Lebensstiltypen an den Stadtbibliotheken Stuttgart und Leipzig ähneln.”[61]
Als Teil ein und desselben politischen Systems gleichen sich die Lebensstile zwischen Ost und West seit der Wiedervereinigung tendenziell immer weiter an. Aber nicht nur schleichende Angleichungsprozesse lassen auf eine ähnliche Verteilung schließen, sondern auch die Tatsache, dass es sich in beiden Städten um eine (wenn auch heterogen zusammengesetzte, aber dennoch spezifisch umrissene) Bevölkerungsgruppe handelt: Allesamt sind Bibliotheksnutzer.
Der Großteil der befragten Personen in Stuttgart (ca. 82 %) verteilt sich auf vier der neun Lebensstiltypen, die alle im Bereich eines mittleren oder gehobenen Ausstattungsniveaus und einer teil- oder modernen Orientierung liegen. Personen mit niedrigem Ausstattungsniveau verhalten sich im Allgemeinen distanziert zu (gedruckten) Medien und werden voraussichtlich auch in Leipzig nicht zu den typischen Bibliotheksnutzern zählen. Auf der anderen Seite beruht der sowohl in Stuttgart als höchstwahrscheinlich auch in Leipzig geringe Anteil an Konservativ Gehobenen, die (ausgerüstet mit einem hohen Ausstattungsniveau) prinzipiell ein sehr enges Verhältnis zum Lesen und zu kulturellen Veranstaltungen pflegen, vermutlich nicht auf einer Distanz zum Buch, sondern vielmehr auf einer Vorliebe zum Bücherkauf bzw. -besitz.[62]
Die kritisch anzumerkende Widersprüchlichkeit der ersten beiden Hypothesen von Linke kann in der Analyse aller Voraussicht nach nur punktweise, keinesfalls jedoch durchgängig aufgelöst werden.
“H.3: Die Typen der Aufstiegsorientierten und Hedonisten werden prozentual den größten Anteil ausmachen.”[63]
Aufstiegsorientierte gehören zur so genannten “Mitte der Gesellschaft” mit mittlerem Ausstattungsniveau und teilmodernen Einstellungen, wohingegen Hedonisten zwar demselben Ausstattungsniveau zuzurechnen, aber moderner und biografisch offener sind.
Lebensstiltypen mit gehobenem Ausstattungsniveau sind in Ostdeutschland stark unterrepräsentiert, während Typen mit einem niedrigen Ausstattungsniveau überrepräsentiert sind, wie aus einer Studie von Gunnar Otte und Nina Baur hervorgeht.[64] In Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern verzeichnen sie einen qualitativen Anstieg in Richtung einer höheren Ausstattung sowie einer moderneren Lebensauffassung.[65] Das vielfältige Angebot in einer modernen Großstadt wie Leipzig wird die polarisierende Verteilung zwischen niedrigem und hohem Ausstattungsniveau voraussichtlich abschwächen. In Hinblick auf die Dimension Modernität/biografische Perspektive werden, aufgrund der allgemein stärkeren Nutzung von Bibliotheken durch jüngere, modern orientiertere Personen (wie auch in Stuttgart) kaum traditionale, sondern vermehrt teilmoderne und moderne Lebensstiltypen zu erwarten sein. Hinzu kommt in Leipzig noch die weitverbreitete Distanz zu religiösen Prinzipien, was auch für eine stärkere Besetzung moderner Lebensstile spricht. Aus diesen Gründen ist anzunehmen, dass einerseits das mittlere Ausstattungsniveau und auf der anderen Seite moderne Orientierungen in Leipzig am stärksten besetzt sein werden. Die zwei modernen und eher großstädtischen Lebensstiltypen des mittleren Ausstattungsniveaus (Aufstiegsorientierte, Hedonisten) werden die Verteilung dominieren. Die Konventionalisten als übriger Typ der mittleren Ausstattung werden mit ihren eher ländlichen oder kleinstädtischen Verhaltensmustern (ebenso wie in Stuttgart) auch in Leipzig wohl nur sehr schwach besetzt sein.[66]
“H.4: Am wenigsten werden die Lebensstiltypen Konservativ Gehobene und Traditionelle Arbeiter vertreten sein.”[67]
Traditional orientierte Lebensstiltypen sind im Großstadtraum nur sehr schwach vertreten. Zudem haben sie in der Regel eine geschlossene biografische Perspektive. Hinzukommend gehören beide nicht dem voraussichtlich dominanten mittleren Ausstattungsniveau an. Konservativ Gehobene sind durch ein gehobenes Ausstattungsniveau, Traditionelle Arbeiter demgegenüber durch ein niedriges charakterisiert. Als Grund für die niedrige Verteilung kann, neben bereits erwähnten Erklärungsansätzen, auch das Fernbleiben älterer Menschen von Bibliotheken, welche oft Träger dieser Lebensstiltypen sind, genannt werden.
Die “niedrige Ausprägung sämtlicher ökonomischer und kultureller Komponenten des Ausstattungsniveaus” in Ostdeutschland dient als eine Erklärung für den noch geringeren Anteil an Konservativ Gehobenen in Leipzig gegenüber Stuttgart.[68]...