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E-Book

Lehren

AutorAndreas Gruschka
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783170238183
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Die emphatische Vorstellung, dass ein Pädagoge in erster Linie ein Lehrender ist, der eine Lehre vertritt (ein Habitus des Denkens und Urteilens u.ä.) und selbst gelehrt sein sollte, damit er das Lehren überhaupt vollziehen kann, hat sich heutzutage verflüchtigt. Die Lehr-Lernforschung kann damit nichts mehr anfangen. Ihr geht es in erster Linie um ein Wissen, wie letztlich beliebige Inhalte Schülern zu vermitteln sind. Die Inhalte dienen letztlich nur der Illustration. Ähnliches gilt bei den Reformpädagogen: Das selbstgesteuerte und selbstwirksame Lernen braucht den Pädagogen nur noch als Arrangeur von Lernangeboten und eventuell noch als Lernberater, als Mediator oder als Moderator. Kernanliegen dieses Buches ist dagegen eine bildungstheoretische und bildungspraktische Rehabilitation des Lehrens und der Lehre. Das wird veranschaulicht an verschiedenen Modellen unterschiedlicher Lehrpraxen (aus verschiedenen Epochen), wobei die Beispiele für das handwerklich-technische, das ästhetisch-reflexive, das kognitive und das moralische Lehren stehen.

Dr. Andreas Gruschka ist Professor für Erziehungswissenschaft am Institut für Schulpädagogik der Universität Frankfurt/Main.

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Leseprobe

1


Die Semantik: Lehren als Erfahrungshintergrund


Die Rede vom Lehren besitzt ein signifikantes semantisches Umfeld. Dieses verweist uns auf eine alltagssprachliche Weise sowohl der Prädizierung einer bestimmten sozialen Praxis als auch der Normierung von Erwartungen an diese Praxis. Dabei operieren wir mit verschiedenen Konkretisierungen des Begriffs und deren möglicher oder abgelehnter Beziehung auf das Verbindende der Praktiken des Lehrens (mit Unterbegriffen wie: Lehrmittel, Lehrinhalte, Lehrprüfung), die vom Lehren abweichenden pädagogischen Formen (Beraten, Spielen, Strafen – differentia specifica) sowie mehr implizit auf einen Oberbegriff, den wir wie ein genus proximum behandeln können: Bildung, Erziehung oder Pädagogik. Mit semantischer Selbstbesinnung bemühen wir uns um so etwas wie eine Definition. Lehren stellt eine spezifisch absichtsvolle Form der Ansprache in sozialer Kommunikation und Interaktion dar. Die gilt als legitim nur dort, wo sie explizit gewünscht ist oder wo sie institutionell (wie in der Schule) als selbstverständlich vorgesehen ist. Dass Lehren schnell zu einer übergriffigen Form des Sozialkontaktes wird, erkennt man überall dort, wo diese Voraussetzungen nicht gegeben sind. Dann wird Lehren als unwillkommene Belehrung wahrgenommen. Lehren bedarf einer Autorisierung. Die alltägliche Kommunikation zwischen Erwachsenen unterstellt im Normfall eine Symmetrie der Kommunizierenden. Diese ist beim Lehren nicht mehr gegeben. In der Regel lehrt jemand jemanden etwas, was dieser noch nicht beherrscht, Letzterer wird damit zum Lehrling eines Lehrenden. In Abhängigkeitsverhältnissen kann befohlen und angewiesen werden, in Marktbeziehungen gekauft und verkauft oder einfach getauscht werden, in pädagogischen Verhältnissen ist einer der Modi des hier zugrundeliegenden hierarchischen Verhältnisses das Lehren. Hier will jemand etwas gelehrt bekommen, ein Lehrer möchte etwas beibringen. Am besten ist es, wenn beide sich in diesem Interesse treffen. Lehren findet aber auch statt, wo diese Voraussetzung nicht gegeben ist. Das gilt so auch für das Lernen, das zustande kommt ohne Anleitung durch einen Lehrer.

Lehren eignet sich als pädagogischer Oberbegriff für eine Fülle von Operationen einer Person, die sich mit ihnen zum Lehrer macht. Wo diese etwas zeigt, vormacht, zu etwas anleitet, etwas erklärt, üben lässt u. Ä. m., kann man von Ausdrucksformen des Lehrens sprechen. Wo sie prüft, straft oder lobt, ist schon nicht mehr eindeutig von Akten des Lehrens zu sprechen, eher schon von unterstützenden Maßnahmen, vielleicht von Ersatzhandlungen, mit denen dem Lehren aufgeholfen werden soll. Dann wird mit der drohenden Prüfung das notwendige vorgängige Lehren gerechtfertigt. Strafen und Loben leisten ebenfalls motivationale Hilfen für die Aufnahmebereitschaft einer Lehre, aber sie sind als solche nicht schon Lehren. Sie können aber dem Schüler als eine »Lehre« dienen, womit er erzogen, ihm aber nicht mehr etwas Fachliches vermittelt wird. Wer mit Schülern diskutiert und das nicht als didaktischen Trick versteht und behandelt, der lehrt nicht mehr, sondern stellt sich mit den Adressaten auf eine Stufe. Es wird nach dem besten Argument entsprechend der gemeinsam geteilten »Logik des besseren Arguments« gesucht. Standpunkte werden vertreten, die als solche nicht hierarchisch geordnet sind: je nach dem Status der Person, von der sie stammen. Diskussionen sind lehrreich, aber nicht als Lehren misszuverstehen. Ebenso ist es mit dem Spielen. Der Lehrende, der Lernende spielen lässt, lässt diese nicht wirklich spielen, auch wenn er mitspielt. Die funktional zu Spielenden Gemachten spielen nicht mehr wirklich. Und natürlich sind Spiele nicht selten äußerst lehrreich, aber eben nicht mit dem Lehren von etwas zu verwechseln. Wer bloß anweist, lehrt noch nicht, sondern setzt seine Macht ein, um jemanden zum Tun von etwas zu bewegen. Der Unteroffizier lehrt ebenso wenig wie der Lehrer, wenn er bloß Befehle erteilt. Wer berät und dabei ernst nimmt, dass ein Ratschlag nicht Schläge für den Beratenen bedeuten darf wie auch nicht eine das Bewusstsein umgehende Manipulation, belehrt nicht mehr, er hilft, vielleicht erzieht er zur Selbständigkeit, vielleicht verstärkt er aber auch Unselbständigkeit. Indem er berät, lehrt er nicht mehr.

Die nähere Bestimmung des Lehrens verlangt damit nach zwei weiteren Elementen. Lehren als Tätigkeit erfordert eine Person, die damit ausgewiesen wird, den Lehrer/die Lehrerin, und eine Sache, die mit dem Tun (Lehren) noch nicht bestimmt ist: die Lehre. Lehren enthält einen methodischen Teil, die Lehrmethode, wie auch einen inhaltlichen Teil, die Lehrinhalte. Das eine wird gerne gegen das andere ausgespielt, so dass das Wie sich vor das Was oder das Was sich vor das Wie schieben lässt, womit Selbstverständnisse des Lehrens, ja solche der Pädagogik, pointiert werden können.

Der Lehrer/die Lehrerin heute ist vor allem der angestellte oder beamtete Pädagoge, der in einer Schule unterrichtet. Der Erzieher/die Erzieherin arbeitet dagegen in einem Kindergarten oder einer anderen sozialpädagogischen Einrichtung. Das bedeutet nicht, dass der Lehrer nicht auch erzieht, oder auch nicht, dass Kindergärtnerinnen den Drei- bis Sechsjährigen nichts beibringen würden. Aber der Lehrer ist vor allem der Schüler-Unterrichtende, und der Erzieher erzieht die Kinder, während er vor allem die Spiele oder das Malen der Kinder arrangiert. Der Lehrer als der Schulmeister wird oder wurde vor allem in der Volksschule als solcher bezeichnet, während sich die anderen Lehrer gerne anders bezeichnen lassen, sei es als Berufsschullehrer oder als Studienräte. Womit schon etwas anderes indiziert werden soll als das grundlegende, einfache Lehren. Der Berufsschullehrer, heute selbst ein Studienrat, theoretisiert das berufliche Tun, der Studienrat berät die bereits so nobilitierten Studien seiner Gymnasialschüler. Das verleiht dem Lehrer bereits etwas Höheres. Das Höchste findet folglich dort statt, wo Lehren in der Hochschule angekommen ist. Dann erlaubt man sich in Deutschland vom Hochschullehrer zu sprechen, womit ausgedrückt werden soll, dass erst dieser es wirklich mit Studien zu tun hat, die die Studenten durchzuführen haben. Studien sind die Aufgaben, die der Professor stellt, deren Umsetzung aber nicht mehr unterrichtet werden muss, sondern eigenständig durch die Studenten erfolgen sollte. In diesem Sinne hat der Hochschullehrer im Geiste Humboldts keine schulische Lehrfunktion mehr. Er ist Professor, ein Forscher und Lehrer in einer Person, womit die Studien, die er anleitet, aus Erkenntnissen stammen können, die er selbst forschend erarbeitet hat.

Der Studienrat hat sich früher oft damit profiliert, dass er als Dr. phil., und damit als graduierter Akademiker, eigenständiges wissenschaftliches Arbeiten nachgewiesen hatte und Lehrwerke schrieb. Das ist heute selten geworden. Der Philologe im Gymnasium ist nicht mehr unbedingt ein solcher, der mit der Analyse und der Edition von Texten hervorgetreten ist. Das dürfte das Lehren in der höheren Schule mit prägen, das nicht mehr die forschend produktive Auslegung von Texten ist, sondern die Vermittlung von Kategorien, mit denen etwa Textsorten unterschieden werden. Lehren ist die Einführung in Klassifikationen, Regeln, Techniken, Formeln, Schemata, Figuren und deren reproduktive Einübung. Sie nähert sich damit der Kunde an, die in den Berufen als Sammlung des berufsspezifischen Wissens, seiner Ordnung und Anwendung auftritt.

Die materiale Gestalt der Kunde ist bis heute das Lehrbuch. Lehrwerke sind in der Schule vor allem Arbeitsbücher geworden. In ihnen wird das fachliche Wissen mit oft gewaltigem didaktischen Aufwand so vereinfacht zum Lernstoff, dass eine fachliche Lehre im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnisse fast ausgeschlossen ist. Schüler werden in die Regeln der Aufgabenbearbeitung eingewiesen, aber nicht mehr mit der Lehre oder Kunde von etwas umfassend verwickelt. Modelle werden so vereinfacht, dass die in sie eingegangene Lehre oder Kunde nicht mehr zu erkennen ist. Wissenschaftliche Lehrbücher sind heute vielfach Kopien solcher Schulbücher, nicht mehr unbedingt wissenschaftliche Monografien, die die Darstellung von Wissenschaftsgebieten, Theorien, Arbeitsfeldern, Paradigmen der Forschung u. Ä. m. enthalten. Als einführende Lehrwerke stellen sie nicht mehr unbedingt die Synthese aus eigenen Forschungen dar. Letztere aber würden erst legitimieren, dass der moderne Hochschullehrer auf einer Lehrkanzel sitzt bzw. einen Lehrstuhl besetzt. Er hat die »venia legendi« erhalten, also die Lehrbefugnis in seinem Fach, deren schwacher Abglanz beim Schullehrer das Staatsexamen ist. Während dieses in einem bürokratischen Akt abgenommen wird, stellt jene eine Initiation in die Wissenschaft dar. Die Venia erhebt den Hochschullehrer in den Stand der eigenverantworteten Lehre, in die darf keiner mehr ordnend eingreifen, nicht in sie hineinreden. Hier ist die Lehre frei geworden, und der Hochschullehrer ist damit auf die Einheit von Forschung und Lehre verpflichtet. Die Freiheit ist gebunden an die unbedingte Suche nach Wahrheit der Erkenntnis, die in der...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Titel1
Inhalt8
Einleitung: Motivierung des Bandes10
1 Die Semantik: Lehren als Erfahrungshintergrund18
2 Das Dilemma: Das Lehren soll zum Lernen übergehen, kann aber die operative Geschiedenheit des Lehrens und Lernens nicht überwinden32
3 Der aktuelle Fokus: Kompetenzorientierung und das damit an den Rand Gedrängte: Was soll gelehrt werden?45
4 Der Kontrast: Die beiden gegenwärtigen Negationen des Lehrens57
4.1 Das psychologische Allgemeine und das Abstraktwerden des Lehrens in der Lehr-Lern-Forschung57
4.2 Die scheinbare Überwindung des Lehrens in reformpädagogischen Modellen67
5 Die Empirie: Eingehüllte Rationalität und Unvernunft in der alltäglichen Lehrpraxis deutscher Schulen76
6 Acht Modelle des Lehrens91
6.1 Der Philosoph verweigert das Lehren (Sokrates)92
6.2 Der Meister lässt rudern (Lino Farnea)102
6.3 Der Experte zeigt das Sehen (Michael Baxandall112
6.4 Der Guru erzieht und verführt zum Tanzen (Royston Maldoom)119
6.5 Der Gelehrte demonstriert das Denken (Theodor W. Adorno)127
6.6 Der Forscher methodisiert die Neugierde (Ulrich Oevermann)137
6.7 Der Erzieher arrangiert eine moralische Lektion (Jean-Jacques Rousseau)146
6.8 Der Lehrer führt zur Krise des Erkennens (Martin Wagenschein)156
7 Das Resümee: Eine Übertragung166
Literatur172

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