Nach den für Deutschland geltenden handelsrechtlichen Bestimmungen ist neben dem Jahresabschluss, unabhängig davon, ob er nach den Vorschriften des HGB oder der IFRS erstellt wurde, auch ein Abschluss nach den Vorschriften des Steuerrechts zu erstellen. Somit ergibt sich die Pflicht, sowohl eine Handelsbilanz als auch eine Steuerbilanz aufzustellen. Unterschiedliche Regelungen für die Handels- und Steuerbilanz sind der Ursprung für latente Steuern (vgl. Coenenberg et al. 2009: 462).
Im Handelsgesetzbuch ist die Steuerabgrenzung im § 274 HGB geregelt, der die Überschrift „Latente Steuern“ trägt. § 274 HGB ist in der Version vor Inkrafttreten des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz mit „Steuerabgrenzung“ betitelt. In den IFRS sind latente Steuern im International Accounting Standard (IAS) 12, der mit income taxes (Ertragsteuern) überschrieben ist, kodifiziert.
Latente Steuern entstehen durch Differenzen zwischen der Handelsbilanz und der Steuerbilanz. Dabei werden drei Arten von Differenzen unterschieden: zum einen die zeitlich unbegrenzten Differenzen (permanente Differenzen, permanent differences), zum anderen die zeitlich begrenzten Differenzen (timing differences) und zum dritten die quasi zeitlich unbegrenzten Differenzen (quasi permanent differences). Im Timing-Konzept wird darauf abgehoben, dass die Abweichung nur beachtet wird, wenn sie sowohl bei ihrer Entstehung als auch bei ihrer Umkehr bzw. Auflösung ergebniswirksam ist. Im Unterschied dazu genügen im Temporary-Konzept Ansatz- oder Bewertungsunterschiede in den beiden Rechnungslegungswerken, die bei ihrer Umkehr oder Aufhebung erfolgswirksam werden.
Unterschiede zwischen Handels- und Steuerbilanzergebnis, die in einer Abrechnungsperiode entstehen und sich in den folgenden Perioden nicht wieder ausgleichen, werden als zeitlich unbegrenzte Differenzen bezeichnet. Solche Abweichungen entstehen durch Geschäftsvorfälle, die nur in einem der beiden Rechnungswerke erfolgswirksam behandelt werden, soweit es das Timing-Konzept angeht, bzw. durch außerbilanzielle Hinzurechnungen oder Kürzungen, die aus der steuerlichen Gewinnermittlung herrühren, sofern es das Temporary-Konzept betrifft. Beispiele für solche Abweichungen, die sich in den Folgejahren nicht wieder umkehren, sind steuerfreie Erträge wie Investitionszulagen oder Aufwendungen, die steuerrechtlich nicht anerkannt werden, nicht abzugsfähige Betriebsausgaben gemäß § 4 Abs. 5 EStG, wie z.B. Strafen, Aufwendungen gemäß § 10 KStG, die nicht abziehbar sind und verdeckte Gewinnausschüttungen gemäß § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG. Hier entstehen keine latenten Steuern, weil der Steueraufwand anderer Perioden nicht beeinflusst wird (vgl. Rabeneck/Reichert 2002: 1366).
Werden Aufwendungen oder Erträge zwar in gleicher Höhe sowohl in der Handels- und Steuerbilanz erfasst, doch geschieht dies in unterschiedlichen Abrechnungsperioden und gleichen sich diese Differenzen in den Folgeperioden wieder vollständig aus, so ist von zeitlich begrenzten Differenzen die Rede (vgl. Rabeneck/Reichert 2002: 1367).
2.1.3 Quasi zeitlich unbegrenzte Differenzen
Zusätzlich zu den bisher genannten Abweichungen, den zeitlich begrenzten und den zeitlich unbegrenzten Unterschieden, gibt es eine Gruppe von Differenzen, die weder der einen noch der anderen Art eindeutig zugeordnet werden können. Es handelt sich dabei um die sogenannten quasi zeitlich unbegrenzten Differenzen (quasi permanent differences), welche sich erst in ferner Zukunft, im Extremfall erst bei der Liquidation des Unternehmens, nivellieren. Unterschiedliche handels- und steuerrechtliche Bewertungen von nicht abnutzbaren Vermögensgegenständen des Anlagevermögens, wie z.B. bei Grundstücken, oder handelsrechtliche Abschreibungen auf Beteiligungen, sind ein Beispiel für quasi permanente Differenzen (vgl. Küting et al. 2009: 502).
Die quasi zeitlich unbegrenzten Differenzen können allerdings zu zeitlich begrenzten Differenzen werden. Somit ist jährlich zu überprüfen, ob sich aufgrund von Veränderungen der gesetzlichen Regelungen, eintretender veränderter unternehmerischer Verhältnisse oder einer geplanten Disposition in absehbarer Zeit diese Unterschiede nicht doch ausgleichen werden (vgl. IDW 1988: Tz. 3).
Obwohl für die Zukunft in der deutschen Rechnungslegung, wie schon vorher in der internationalen Praxis, das Temporary-Konzept zu Grunde gelegt wird, gilt für Jahresabschlüsse bis zum 31.12.2009 noch die Fassung des HGB vor Inkrafttreten des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, in der das Timing-Konzept zur Anwendung kommt (vgl. Coenenberg et al. 2009: 463).
Im HGB a. F. ist keine Abgrenzungsmethode normiert. Nach herrschender Meinung (h. M.) basierte die Steuerabgrenzung gemäß § 274 HGB (a. F.) auf dem an der Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) orientierten Timing-Konzept (vgl. Hayn/Waldersee 2008: 248). Als GuV-orientiert wird dieses Konzept deswegen bezeichnet, weil Ansatz- und Bewertungsunterschiede zwischen der Handels- und Steuerbilanz dann abgegrenzt werden müssen, wenn diese Differenzen sowohl im Zeitpunkt ihrer Entstehung als auch ihrer Umkehr zu einem unterschiedlichen handels- und steuerrechtlichen Ergebnis führen (vgl. Küting et al. 2009: 501). In diese Steuerabgrenzung werden also nur die Bilanzierungs- und Bewertungsunterschiede zwischen der Handels- und Steuerbilanz einbezogen, die sich sowohl bei ihrer Entstehung als auch bei der weiteren Entwicklung, demzufolge der möglichen Auflösung oder der Umkehrung, auf die Gewinn- und Verlustrechnung auswirken (vgl. Rabeneck/Reichert 2002: 1366).
Bei dieser Konzeption werden die oben genannten Arten von Differenzen unterschieden. In der Abbildung 1 wird dargestellt, dass sich das Timing-Konzept der latenten Steuerabgrenzung ausschließlich auf die zeitlich begrenzten Differenzen (timing differences) bezieht. Ist der Steuerbilanzgewinn infolge zeitlich begrenzter Differenzen zunächst niedriger und später entsprechend höher als in der Handelsbilanz, entsteht, verglichen mit dem Handelsbilanzgewinn, zunächst ein zu niedriger und später dann ein zu hoher Steueraufwand. Das Konzept der Steuerlatenzen gleicht diesen Zustand mit der Bildung eines passiven latenten Steuerpostens aus, der später bei Umkehrung des Effekts wieder aufgelöst wird. Ist der Steuerbilanzgewinn durch die zeitlich begrenzte Differenzen vorerst höher und anschließend niedriger als der Handelsbilanzgewinn, so kommt es entsprechend zu einer aktiven latenten Steuerabgrenzung (vgl. Coenenberg et al. 2009: 464). Würde auf eine latente Steuerabgrenzung verzichtet werden, so wäre der Steueraufwand zunächst zu hoch und später zu niedrig ausgewiesen, was zur Folge hätte, dass der Steueraufwand in keiner sinnvollen Relation zum Handelsbilanzgewinn stehen würde (vgl. Coenenberg et al. 2009: 465).
Abbildung 1: Timing-Konzept (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Coenenberg et al. 2009: 466)
Für quasi zeitlich unbegrenzte Differenzen ist im Timing-Konzept sicherzustellen, dass überprüft wird, ob aus quasi zeitlich unbegrenzten Differenzen zeitlich begrenzte Differenzen geworden sind. Dies muss anhand der am Bilanzstichtag erkennbaren Entwicklungen geschehen (vgl. Coenenberg et al. 2009: 465).
Nach der GuV-orientierten Sichtweise des Timing-Konzepts ist es das Ziel der Abgrenzung von latenten Steuern, in der Gewinn- und Verlustrechnung einen Steueraufwand auszuweisen, mit dem das handelsrechtlich ermittelte Ergebnis korrespondiert. Zweck des Timing-Konzepts ist also ein periodengerechter Erfolgsausweis (vgl. Küting et al. 2009: 502).
2.3 Temporary-Konzept
Mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz hat der deutsche Gesetzgeber einen konzeptionellen Wandel in der Steuerabgrenzung vollzogen. In der Neufassung des § 274 HGB wird, wie bereits früher schon im IAS 12 geschehen, das bilanzorientierte Temporary-Konzept vorgeschrieben. Im Gesetzestext steht nun, dass Differenzen zwischen den „... handelsrechtlichen Wertansätzen von Vermögensgegenständen, Schulden und Rechnungsabgrenzungsposten und ihren steuerlichen Wertansätzen ...“ (vgl. § 274 Abs. 1 Satz 1 HGB.), die sich in zukünftigen Perioden umkehren und somit eine Steuerbe- oder -entlastung zur Konsequenz haben, abgegrenzt werden (vgl. Küting et al. 2009: 502). Die Bilanzorientierung ergibt sich aus dem Text, dass es eben für die Abgrenzungsnotwendigkeit genügt, eine Abweichung zwischen der Steuer- und der Handelsbilanz zu haben, die bei ihrer Umkehr einen Steuereffekt zu Folge hat....