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E-Book

Lenin kam nur bis Lüdenscheid

Meine kleine deutsche Revolution

AutorRichard David Precht
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783641168704
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Als Kind westdeutscher Linker im provinziellen Solingen lernt Richard David Precht schon früh zwischen Gut und Böse zu unterscheiden: Sozialismus und Kapitalismus. Er wächst mit einem klaren Feindbild, den USA, auf, und natürlich ist Coca-Cola ebenso verpönt wie Ketchup, 'Flipper' oder 'Raumschiff Enterprise'. Dafür gibt es das GRIPS-Theater und Lieder von Degenhardt und Süverküp ... Prechts Kindheits- und Jugenderinnerungen sind eine liebevolle Rückschau auf ein politisches Elternhaus - amüsant, nachdenklich und mit großem Gespür für die prägenden Details.

Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit seinem sensationellen Erfolg mit »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?« waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr.1-Podcast »LANZ & PRECHT« im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen.

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Leseprobe

Vorwort

Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Bis Solingen ist er nicht gekommen. Aber fünfundzwanzig Kilometer weiter östlich, im Zeltlager in Lüdenscheid, schien die Weltrevolution bereits geglückt. Die große Bühne glänzte im Sonnenlicht des jungen Morgens. Zu beiden Seiten wehten die roten Fahnen. Von der Wiese her klimperten schon die Gitarren von Christiane und Fredrik Vahle, eine kleine Schar Kinder hatte einen Kreis um sie gebildet, die anderen schliefen noch in den Zelten. Wieder und wieder hatten wir gestern Abend ihre Lieder gesungen: das Lied von der Rübe, die der kleine Paul nur mit Hilfe der »Italiener-Kinder« aus der Erde ziehen kann, vom Hasen Augustin, der den dicken Jäger verarscht, und vom Fisch Fasch, dem faulen Nutznießer, dem die erbosten Arbeiter den weißen Hintern versohlen. Wir kannten sie alle von der Kinderplatte.

Die Lager fanden jedes Jahr statt, aber für Hanna und mich war es 1974 das erste Mal. Überall prangten die Embleme der DKP und der Naturfreunde, hier im Bergischen Land war beides nahezu identisch. Zu Tausenden waren die Parteimitglieder der KPD nach dem Verbot in den Fünfzigern der Naturfreundebewegung beigetreten und hatten sie fest in der Hand.

Ich setzte mich zu Christiane und Fredrik und sang mit. Es roch nach feuchtem Gras und nach dem Feuer der letzten Nacht. Allmählich wurde es wärmer. Die roten Fahnen hingen ruhig herab, es war jetzt windstill. Ich streckte mich auf die Wiese und gab mich der Stimmung hin, und immer wieder kam es mir unglaublich vor, so mittendrin zu sein unter Gleichgesinnten. Wie selten hatte ich dieses Gefühl, einer größeren Gruppe zuzugehören als meiner Familie. Hanna schien es genauso zu gehen, den gestrigen Tag über hatten wir uns kaum gesehen, ein jeder war seine eigenen Wege gegangen in dem unübersichtlichen Wust von Angeboten.

Auch heute gab es viel zu tun. Ich feilte eine ziemlich klobige Eule aus einem Ytong-Stein, las das erste Tim-und-Struppi-Heft meines Lebens und motivierte ein paar Kinder zu einem improvisierten Theaterstück auf der großen Bühne. Dann kam der Auftritt der Roten Grütze, eines Kindertheaters aus Berlin. Wir ärgerten uns, dass wir den Platz räumen mussten. Das Stück war doof. Es ging ziemlich viel um Kacka und Pipi. Warum die Linken das so toll fanden, wollte mir nicht in den Kopf. Auf der Bühne hatten alle Darsteller Unterhemden an, und auf den Hemden der Frauen waren mit gelber Farbe Brüste aufgemalt; sehr ansprechend war das nicht.

Die Erinnerung ist wie ein Autoscheinwerfer, der mal ein Haus, mal ein Gesicht der Dunkelheit entreißt. Denke ich an Lüdenscheid, sind es die Käfer, die vielen Junikäfer, die am frühen Abend aus der Erde krochen. Maikäfer kannte ich, hatte ich schon gesehen, aber die kleineren Junikäfer noch nie. Überall auf der Wiese brummte es. Aus den Büschen am Rand kam das Gekicher der Gruppenleiter und ihrer Freundinnen.

Im Zelt zeigte Hanna mir ein T-Shirt, das sie nachmittags unter Anleitung mit dem Händedruck bemalt hatte, dem Zeichen der Naturfreunde und der Kommunisten. Sie sagte, dass sie von nun an bei den »Jungen Pionieren« mitmachen wollte und dass sie sich dann wohl ihre langen Haare abschneiden müsste, weil sie nicht zeltlagertauglich wären. Tatsächlich waren sie verfilzt und hingen voller Kletten. Hinter ihr sah ich ein älteres Mädchen, das ihr T-Shirt auszog. Ihre Brüste waren nicht aufgemalt, sie machten ein kribbeliges Gefühl. Ich hätte sie länger angeguckt, hätten nicht die Junikäfer draußen auf mich gewartet.

Hanna und ich traten zusammen ins Freie. In der Dämmerung glühten die Fackeln, und überall zwischen den Bäumen gingen jetzt rote Lampions an. Die Junikäfer schwärmten noch immer, es waren Tausende. In der Mitte des Lagers brannte ein riesiges Feuer, die Kinder hatten sich im Schneidersitz darum versammelt, um zu singen. Christiane und Fredrik spielten wieder auf der Gitarre und mit ihnen die Gruppenleiter und einige der Jugendlichen: Spanien-Lieder, die »Moorsoldaten« und »Die Internationale«.

Der Wind wehte die kleinen Rauchwölkchen auseinander. Glühende Pünktchen. Die Kinder sangen jetzt »Bella Ciao« und das todtraurige Lied vom »Kleinen Trompeter«. Mehrere Scheite im Feuer zersprangen, und Funken sprühten in die kälter werdende Luft.

»Was ist los?«, wollte Hanna wissen. »Du weinst ja.«

»Es ist nur der Rauch«, murmelte ich und blickte zur Seite, obwohl das Feuer fast rauchlos brannte.

*

»Erinnerst du dich an das Pfingstlager in Lüdenscheid 1974?«

Wir sitzen in der weiten Essecke, meine Mutter auf dem Stuhl, ich auf der langen Bank. Schon zum ­Frühstück vor Stunden bin ich hier reingerutscht, wie ein Kind, das man ja immer bleibt. Nur dass man das Kindsein hier merkt; wenn man bei seinen Eltern ist, denkt man unausgesetzt daran, es zu vergessen.

Draußen liegt Schnee. Ein Schweizer Architektenteam hat dieses Haus aus Würfeln und Quadern vor dreißig Jahren erschaffen, ein kubistischer Traum im Geiste von Le Cor­busier, Beton im Wald. Hinter den Hügeln liegt Bern. Manchmal kommen architektur­interessierte Touristen und schauen.

Wir trinken Kaffee aus bunten Tassen. Meine Mutter raucht, rauchen darf sie noch, Wein trinken nicht mehr, wegen der Gichtanfälle. Die Wintersonne im Gesicht, die teilnahmslose Zigarette in der ruhigen Hand. Wir schweigen, um uns zu erinnern.

Ihrer wahren Natur nach sind Utopien Amphibien. Der kurzen Zeit ihres feuchtfröhlichen Laichvergnügens folgt eine lange Zeit der Ruhe. Träume und Hoffnungen überwintern in den Falten der Mundwinkel, den schmalen Kerben der Lachfalten. Augenringe und Krähenfüße sind ihre Lebensräume in der Trockenzeit; Signaturen eines versteckten Daseins. Meine Mutter stellt keine Fragen. Warum ich dies wissen will und jenes, und wofür das Ganze. Sie fragt selten. Sie wartet ab, lauert auf das, was kommt. Lauert leise. Da ist nichts Gesetztes, nichts Bequemes, nichts, das die Routinen des Lebens immer wieder in die gleichen Bahnen gelenkt hätten, sodass es bedächtig, geruhsam, stumpf und weise, mit anderen Worten: alt geworden wäre. Nicht Schönheit, nichts Damenhaftes, keine Attitüde des Geschlechts hat meine Mutter, inzwischen fünffache Großmutter, vom Altwerden abgehalten. Sie war eine schöne Frau mit schlankem Hals und einem großen Mund, dünn und kapriziös, aber schon mit Mitte dreißig hatte es ihr wohl nichts mehr bedeutet. Vielleicht fand sie sich selbst nie schön und ihren Hals stets zu lang; sie trug das Haar kurz, schminkte sich nicht und kleidete sich weit über das linke Soll hinaus unvorteilhaft. Nein, nichts Äußerliches hat meine Mutter jung bleiben lassen. Kein Ziel hat ihr den Weg ins Alter gewiesen, keine Ruhe, kaum innerer Frieden. Wahrscheinlich ist es erstrebenswert, Ruhe zu finden. Es bereitet auf den Tod vor und macht Menschen angenehm, gelassen, freundlich, einfältig und etwas langweilig. Ruhe ist die tägliche Nahrung des Alterns. Meine Mutter ist nicht gelassen, sie zeigt, was sie zeigen will.

Was bleibt, ist ein dritter, ein letzter Lebensabschnitt, in einer Wohnung in Bern zu ebener Erde. Oder woanders? Sie hat nie richtig Fuß gefasst in der Schweiz, in ihrem zweiten Leben. Vielleicht nur in ihrem Sommerhaus in Dänemark; Meerwind, Kirschbäume, spatzenhaftes Kindergezwitscher, die Enkel im Garten, wenn nur diese leeren feuchten Winter nicht wären, ohne Farben, ohne Menschen, ohne Schnee. Und eine Sprache, die sie sich selbst nach dreißig Jahren kaum traut, zu sprechen.

Im Regal stehen Bücher über Wüsten. Sie ist mit John in die Sahara gefahren, wieder und wieder in den letzten Jahren. Sie liebt die Wüste; Wind und Sterne und Unendlichkeit. Die Zeit ist der Sand, der sich bewegt. Nomadenglück. Nomadisch leben wollte sie schon immer, in Zelten statt in Häusern, ohne etwas zurückzulassen, woran das Herz hängt. Man macht sich nicht abhängig von toten Gegenständen. Das hat sie oft gesagt; sie lebt so.

Heute Nachmittag kommt der Makler, der das Haus verkaufen soll.

»Ich denke eigentlich nicht gern an die Vergangenheit«, sagt sie jetzt, das sei die Beschäftigung von alten Leuten. »Ich denke lieber an das bisschen Zukunft, das mir noch bleibt.«

Auch für mich geht etwas zu Ende mit diesem Abschnitt. Die Achtziger, die Neunziger, das Würfelhaus im Wald. Wenn ich die Augen schließe, ist es gestern, dass ich das erste Mal hier war und so beeindruckt davon, wie meine Mutter jetzt lebt.

Auf dem Weg gestern von Innsbruck durch das Inntal nach Bern war alles eingeschneit. Winter in den Alpen. Der Zug fuhr langsam auf schmaler Schneise durch die Landschaft. Das zerfledderte Manuskript in dem alten Schnellhefter. Der war mit jedem neuen Buch unterwegs, in Dänemark, in Berlin und jetzt hier im Februargrau.

Es war einer jener stillen zugefrorenen Wintertage. Trübgraue Scheibe. Es gibt nichts, das den Blick festhält, meine Gedanken sind mit sich selbst allein. Die letzten Tage kommen wieder, der Ski-Urlaub in Alpbach in Österreich, Freundin, Schwiegereltern, mein kleiner Sohn, der das erste Mal Schnee sieht, richtigen Schnee. Eiszapfen anfassen und abknicken, das winzige Schneeflöckchen von der weichen Wange fingern und aufessen, jedermanns Kindheit.

Einer jener Tage ohne Licht und Nuancen, wenn alles, was man sieht, immer schon da war. Die Tannen voll geschneit, ausgeschnitten aus alten Weihnachtspostkarten, die braunen Hütten, eine wie die andere, sorgsam an den Schienen verteilt, die nebelnassen Wände der viel zu nahen Berge, die gleichförmige scheppernde Ruhe des Zuges, das angetrocknete Schmelzwasser auf dem Boden des Abteils.

Ein neuer Aufbruch...

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