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Lernen geht anders

Bildung und Erziehung vom Kind her denken

AutorRemo H. Largo
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783492965507
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Remo H. Largo weiß, wie Kinder gerne lernen: wenn Eltern und Lehrer Beziehung und Individualität der Schüler in den Mittelpunkt rücken. Der international renommierte Kinderarzt und Bestsellerautor zeigt in fünf programmatischen Punkten, wie freies Lernen möglich wird - für Schüler jeder Altersgruppe. Denn Eltern sollten sich nicht beirren lassen, sondern vehement eine kindgerechte Schule fordern.

Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, gestorben 2020 in Uetliburg, war bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Kinderheilkunde. Fast drei Jahrzehnte lang leitete er die Abteilung für Wachstum und Entwicklung am Kinderspital in Zürich, wo er die bedeutendste Langzeitstudie über kindliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum durchführte. Er war Vater dreier Töchter und Großvater von neun Enkeln. Seine Bücher »Babyjahre«, »Kinderjahre«, »Schülerjahre« und »Jugendjahre« (mit Monika Czernin) sind Klassiker, ebenso wie »Glückliche Scheidungskinder«.

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Leseprobe

Bildung und Erziehung im Umbruch


Was erhoffen wir uns für unsere Kinder? Wir wünschen uns, dass sie in Geborgenheit und Sicherheit zu sozial kompetenten Menschen heranwachsen, dass sie sich neugierig und selbstständig ihre Welt erschließen dürfen und dass sie all ihre Fähigkeiten entwickeln können, die ihnen helfen werden, einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden. Es ist die Aufgabe von Bildung und Erziehung, das Kind in die Sitten und Wertvorstellungen seiner Lebensgemeinschaft einzuführen, es in seiner Entwicklung zu fördern und ihm eine Ausbildung zu ermöglichen, die ein existenzielles Auskommen gewährleistet. Ihr Ziel ist die soziale, kulturelle und berufliche Integration. Häufig wird die Erziehung ausschließlich der Familie zugeschrieben, während die Schule für die Bildung verantwortlich gemacht wird. Doch Bildung und Erziehung sind nicht voneinander zu trennen. Eltern erziehen ihre Kinder nicht nur, sie tragen auch zu ihrer Bildung bei. Und Schule bildet nicht nur, sie erzieht ihre Schüler auch. Seit einigen Jahren schon stehen Bildung und Erziehung gleichermaßen in Familie und Schule auf dem Prüfstand.

Die Verunsicherung ist groß: Eltern suchen Hilfe bei zahllosen Ratgebern und Kursangeboten. Wer keinen Elternkurs besuchen will, wird von manchen Eltern schief angesehen und muss sich gar rechtfertigen. Eltern der Mittel- und Oberschicht investieren in ihre Kinder wie nie zuvor. So steht die Frühförderung auf der elterlichen Agenda ganz oben: Sie nehmen mit ihrem Kind an Kursen für Baby-Signing teil und schicken es ins Frühenglisch.

Auch in der Schule ist die Besorgnis groß. Die Resultate der PISA-Studien haben bei Bildungspolitikern und Bildungswissenschaftlern wie auch in der Bevölkerung große Zweifel am bestehenden System geweckt. Die Studien zeigten unter anderem auf, wie sehr Kinder aus bildungsfernen Familien in unserem Bildungssystem benachteiligt werden. In der Öffentlichkeit und in der Politik wird kaum eine Debatte so heftig geführt wie die über die Vor- und Nachteile von Gesamtschule und gegliederter Schule. Die gesellschaftliche Verunsicherung erzwang hektische und überstürzte Bildungsreformen, die wiederum zu übertriebenen Leistungsanforderungen bei den Kindern sowie großem Druck bei Eltern und Lehrern geführt haben. So werden die Kinder schon mit dem Schulein- tritt auf ein erfolgreiches Überstehen der Selektion für das Turbogymnasium gedrillt. Deutschlands Eltern geben jährlich mehr als eine Milliarde Euro für privaten Nachhilfeunterricht aus (Dohmen 2008). Die vorzeitige schulische Auslese schafft nicht nur einen enormen Leistungsdruck, er benachteiligt auch viele Kinder. Die Lehrer leiden unter einem überladenen Lehrplan und kämpfen mehr und mehr mit erzieherischen Schwierigkeiten.

Die Auswirkungen des zunehmenden Drucks auf Kinder und Jugendliche sind unübersehbar: Psychosomatische Erkrankungen wie Schlafstörungen, Magersucht und Depressionen nehmen zu. Rund 400 000 deutsche Kinder mit der Diagnose ADHS werden mit Ritalin ruhiggestellt. Jugendliche begehen überdurchschnittlich häufig Suizid. Der Alkohol- und Drogenkonsum steigt beängstigend. Psychische und physische Gewalt gehört in vielen Schulen zum Alltag. Autorasen und Amoklaufen werden zu neuen Bedrohungen. Immer mehr Schüler fühlen sich in der Schule sozial ausgegrenzt, immer mehr verweigern die Schule. Zu viele Hauptschüler verlassen die Schule ohne Abschluss oder Lehrstelle.

Es gibt zahlreiche Gründe für die Zunahme der Belastungen, unter denen Kinder und Erwachsene gleichermaßen leiden. Einer der wichtigsten ist zweifelsohne, dass Bildung und Erziehung in einer engen Wechselbeziehung mit den sich verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen stehen. Bis in die 1970er Jahre hinein bestand hier über Generationen hinweg eine gewisse Kontinuität, welche die Stabilität in Familie und Schule gewährleistete. Eltern erzogen ihre Kinder so, wie sie selber und schon ihre Großeltern erzogen worden waren, und auch der Schulstoff ihrer Kinder war ihnen aus der eigenen Schulzeit weitestgehend vertraut. In der Gesellschaft bestand ein breiter Konsens über den Bildungskanon unserer Schulen, der im Wesentlichen vom Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts geprägt worden war und – darauf war man besonders stolz – bis zu den alten Griechen zurückreichte und große Anteile des europäischen Kulturgutes umfasste.

Seit 1970 haben Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft einen Wandel durchgemacht, den wir in seinem ganzen Ausmaßnoch nicht richtig begreifen, den wir jedoch spüren und der uns beunruhigt. Es ist keine Übertreibung, wenn dieser Wandel zumindest in einigen Aspekten als Zäsur in der Menschheitsgeschichte bezeichnet wird. Und es ist wenig erstaunlich, dass Familie und Schule, gewissermaßen die Vorzimmer der Gesellschaft, davon zutiefst betroffen sind.

Wie sich die Familie verändert


Familie vor 80 Jahren …[1]

 

… und heute[2]

 

Die Familie betrachten wir als die Kernzelle unserer Gesellschaft. Über Jahrtausende hinweg bildeten mehrere Erwachsene und viele Kinder eine Lebensgemeinschaft. Eine solche Großfamilie halten 80 Prozent der jungen Erwachsenen auch heutzutage noch für erstrebenswert (Shell Jugend-Studie 2006). Für die meisten wird sie jedoch eine Wunschvorstellung bleiben: Innerhalb von nur drei Generationen sind wir ein Volk von Kleinfamilien geworden. Durchschnittlich 1,4 Kinder zählt heute eine Familie in den deutschsprachigen Ländern. Ein schwaches Drittel der Eltern hat ein einziges Kind, ein gutes Drittel zwei Kinder, und ein letztes Drittel – überwiegend Migrationsfamilien – bekommt mehr als zwei Kinder. Die Kleinfamilie wird zusätzlich geschwächt durch eine Scheidungsrate von über 40 Prozent. Immer mehr Kinder werden von alleinerziehenden Eltern großgezogen. Mit der Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie und weiter zur Scheidungs- und Patchworkfamilie sind die Anforderungen an Betreuung und Erziehung der Kinder deutlich gestiegen.

In der bisherigen Menschheitsgeschichte bedeuteten Kinder Schicksal. Oftmals kamen zu viele auf die Welt, nicht selten stellten sie eine große Belastung für die Eltern dar. Dank der modernen Familienplanung sind heute bis zu 80 Prozent der Kinder Wunschkinder. Sich für ein Kind zu entscheiden bedeutet für die Eltern, zwischen Familie, beruflicher Karriere und materiellem Wohlstand abwägen zu müssen. Haben sie ein Kind, dann wollen sie auch alles richtig machen. Überspitzt gesagt: Das Kind soll ein Erfolg werden. Damit wird es namentlich in der Mittel- und Oberschicht oft zum Projekt; das erwünschte Resultat soll ein hochbegabtes Kind sein. Eine durchschnittliche Begabung, so scheint es, genügt manchen Eltern nicht mehr.

In den letzten 40 Jahren haben sich nicht nur die Familienstrukturen grundlegend verändert, sondern auch das Rollenverständnis von Frau und Mann und damit ebenso das von Mutter und Vater. Simone de Beauvoir (2000) sprach in den 50er Jahren von der Mutterschaft als Fessel der Frau, und es war die Einführung der Pille in den 1970er Jahren, die die Frau von dieser Fessel befreite. Bis in die 1970er Jahre waren die meisten Frauen weitgehend von ihrem Ehemann abhängig, spätestens wenn sie das zweite oder dritte Kind erwarteten, denn eine Scheidung hätte sie wirtschaftlich an den Rand des Ruins getrieben und sozial stigmatisiert. Heute können die Frauen selbst bestimmen, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Gleichzeitig haben sie ihren traditionellen Bildungsrückstand gegenüber den Männern wettgemacht und die Männer bereits teilweise überholt, was auch in einem verbesserten Selbstbewusstsein zum Ausdruck kommt. 70 Prozent der 16- bis 29-Jährigen schätzen Frauen als genauso selbstbewusst ein wie Männer, bei den über 60-Jährigen sind es lediglich 29 Prozent (Allensbach 2006). Die Emanzipation nicht nur einiger weniger Frauen, sondern des ganzen weiblichen Geschlechts ist ein weiteres, in der Menschheitsgeschichte wohl einmaliges Phänomen.

Der Mythos, dass nur die Mutter für die gesunde Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder sorgen könne, ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und wurde vor allem von Männern gefördert. In den Jahrhunderten zuvor ist die Mutter in der Kinderbetreuung immer unterstützt worden, sie hätte es unter den oft sehr schwierigen Lebensbedingungen gar nicht geschafft, mehrere Kinder allein großzuziehen. Sie musste zudem auf vielfältigste Weise zum Überleben der Familie beitragen. Das historische Modell ist die arbeitende Mutter, die historische Ausnahme die Reduktion auf die fürsorgliche Alleinbetreuerin. Der gesellschaftliche Anspruch, dass Eltern für die alleinige Betreuung ihrer Kinder zuständig sind, konnte in den letzten Jahren immer weniger eingelöst werden, weil sich immer mehr Mütter beruflich engagieren. Die emanzipierte und gut ausgebildete Frau steht heute vor Fragen, die sich nie zuvor für sie gestellt haben: Soll sie eine berufliche Karriere verfolgen? Will sie eine Familie gründen? Oder versucht sie beides miteinander zu vereinbaren? So oder so hat das Kind einen enormen Stellenwert. Bleibt die Mutter zu Hause, ist ihr Selbstwert an das Kind gebunden. Geht sie arbeiten, müht sie sich ab, Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen. Für geschiedene oder alleinerziehende Mütter, die aus finanziellen Gründen arbeiten müssen, wird die Kinderbetreuung erst recht zu einer großen Belastung. Außerdem geht längst nicht jede Frau so wunschlos glücklich in der ausschließlichen Mutterrolle auf, wie es der männliche Mythos so gerne verbreitet. Eine Züricher Studie hat gezeigt, dass manche Mütter unglücklich, ja depressiv werden, wenn sie mit ihrem Kleinkind allein zu Hause, sozial isoliert sind (Huwiler 2001). Das bedeutet wiederum freilich...

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