2.3. Ganzheitliche Bildung und der erweiterte Bildungsbegriff
Ganzheitliche Bildung beinhaltet, den gesamten Menschen zu bilden, also kognitives und lebenspraktisches Wissen zu vermitteln. Schulbildung kann die Lebensbildung nicht ersetzen (vgl. von Hentig 1999:47). Der These folgend, dass Bildung sich an allen Orten und durch vielfältige Erfahrungen ereignet, insbesondere durch Begegnung mit Menschen und in Gruppen, hat auch die Kinder- und Jugendhilfe die Aufgabe, ihre Angebote, Einrichtungen und Aktivitäten als Bildungspotentiale zu reflektieren und (weiter zu)entwickeln.
In einer sich schnell wandelnden Welt und Gesellschaft mit vielfältigen Herausforderungen und wenig Sicherheiten wird die alltägliche Lebensbewältigung zu einer immens bedeutenden Ressource. Sozialer und ökonomischer Wandel erfordern komplexe Kompetenzen für das individuelle Leben und das Leben in der Gemeinschaft.
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Formale Bildungsabschlüsse sind zwar unverändert bedeutend, garantieren aber allein keine private und beruflich erfolgreiche Zukunft. Für eine „gelingende“ Biographie sind zunehmend personale Kompetenzen von Bedeutung (vgl. Bundesjugendkuratorium 2001:3f). Es ist heute nicht mehr ausreichend, mit ausschließlichem Fachwissen einen Arbeitsplatz zu erhalten und einen Beruf auszuführen. Multiple Erwartungen an (zukünftige) ArbeitnehmerInnen bedürfen einer komplexen, häufig auch kontinuierlich erweiterten Bildung nicht nur mit Fachwissen, sondern persönlichen Kompetenzen.
Arbeitnehmer sollen nicht „standardisiert“, sondern engagiert, aufgeschlossen, kreativ, repräsentativ, selbstbewusst, mit Gemeinschaftssinn und einer positiven Lebensauffassung ausgestattete sowie innovative Fach- und sogar auch Führungskräfte sein. Mit diesen multiplen Kompetenzen sollen sie in der Lage sein, neue und innovative Produkte zu entwickeln und zu vermarkten. „Bildung soll auf weltweite Horizonte hin orientiert sein und dynamisch, wandlungsfähig und offen sein, der Mensch muss befähigt werden, sich in einer offenen, pluralen, ungewissen und globalisierten Weltgesellschaft kompetent zu bewegen“ (Rauschenbach 2009:23). Hier verbirgt sich jedoch das Risiko, dass Bildung einzig auf Wettbewerbsfähigkeit hin konzipiert wird und der Menschen nicht als ganzheitliche Person, sondern als „Mittel zum Zweck“ bewertet wird. „Individuum“ könnte hier als Gegenbegriff zu „Gesellschaft“ verstanden werden. Ausgehend von der unter 2.1. benannten Subjektorientierung widerspricht es, Menschen so zu „formen“, wie die Gesellschaft sie gerne hätte (vgl. Spatschek 2013:10). Scherr (1997:46) formuliert es so: “ Die Individuen sollen nicht nur politischer Herrschaft unterworfene, Rädchen im Getriebe von Arbeit und Konsum, Objekte erzieherischer Einflussnahme sein, sondern selbstbestimmungsfähige Einzelne“. Die Idee/ Figur des „unternehmerischen Selbst“ wird zu einem neuen gesellschaftlichen Leitbild, da Individuen sich durch den Rückzug des Sozialstaates und dem Brüchigwerden von Systemen sozialer Sicherung in einer zunehmenden Pflicht der Eigenfürsorge und Eigenverantwortung konfrontiert sehen; parallel wächst damit die Notwendigkeit der kontinuierlichen Reflexion und der Entwicklung der eigenen („vermarktbaren“) Fähigkeiten. Diese Form der Selbstsorge in Form der Auseinandersetzung mit sich und seinen Lebenswelten wird zu einer neuen existenziellen Pflichtaufgabe des Menschen (vgl. Spatschek 2013:11). Ein ambivalenter Auftrag der Schule in Form eines herausfordernden Spagats besteht somit darin, einerseits SchülerInnen individuell wahrzunehmen und zu fördern, andererseits sie aber auch „gesellschaftskonform“, „arbeitsmarktkompatibel“ und „arbeitsmarktattraktiv“ zu machen. Schule ist jedoch eher auf Homogenität und „Gesellschaftskonformität“ ausgerichtet, und weniger auf (Aus)Bildung individueller und authentischer Persönlichkeiten.
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Bei der Anforderung nach kontinuierlicher persönlicher Reflexion und der Entwicklung der eigenen (vermarktbaren) Fähigkeiten kann die Kinder- und Jugendhilfe dabei behilflich sein, einen Ausgleich in Form von Angeboten im Bereich der Selbsterprobung und Selbstfindung , zur Verfügung zu stellen. Geeignete Angebote sind hier z. B. Projekte im freizeit- und erlebnispädagogischen Bereich, anhand welcher Kinder und Jugendliche sowohl ihre Fähigkeiten als auch Grenzen kennenlernen können. Sozialpädagogische Beratung hingegen ist laut Duttweiler (vgl. 2004:27) ein ambivalentes Angebot, da sie Selbstbestimmung zugleich ermöglichen und negieren kann.
Die vorherigen Erläuterungen ergeben, dass soziale Kompetenzen und eine umfassende Persönlichkeitsbildung an immenser Bedeutung gewinnen. Es ergibt sich die Notwendigkeit, schon frühzeitig andere als schulische Bildungsorte und andere Modalitäten als Wege der Kompetenzaneignung zu identifizieren, da Schule allein diese hohen Anforderungen nicht erfüllen kann (vgl. Rauschenbach 2009:84,85). Die überdurchschnittliche Fixierung auf Schule als Bildungserbringer wird somit (entlastend) durch Bildungsleistungen in der Umwelt relativiert, auch wenn Schule die Bildungsinstitution bleiben wird (vgl. ebd.:79).
Die verkannte Bedeutung der Alltagsbildung führt zu der Erkenntnis, dass auch informelle, also ungeplante und nicht speziell inszenierte Bildungsprozesse, bedeutender als bisher angenommen sind. Sie ergeben sich in der Regel im Alltag mit Familie, Freunden, auf der Arbeitsstelle, in sozialen Netzwerken und in der Freizeit, können aber auch fehlen. Sie stellen eine bedeutende Basis für den Aufbau formeller und nicht- formeller Bildungsprozesse dar. Würde man nur lernen, wenn man dogmatisch belehrt wird, würde das bedeuten, das Lernen mit der Schule aufhört. Dem widersprechen das Lebenslange Lernen (Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans doch noch!) und die Theorie des subjektivgeleiteten Lerninteresses nach Holzkamp (siehe 2.1.). Fehlen informelle Bildungsprozesse, z. B. wenn Kinder in anregungsarmen Familien aufwachsen, fehlen damit auch bedeutende Grundvoraussetzungen für die formale Bildung. Das sind dann häufig diejenigen SchülerInnen, welche von SonderpädagogInnen in der Schule oder von externen Experten als „lernbehindert“ diagnostiziert werden (siehe auch 4.3.).
Neben dem klassischen Bildungssystem mit Schul-, Ausbildungs- und Hochschulsystem, welches einen verpflichtenden Charakter hat und mit Leistungszertifikaten einhergeht und als formelle Bildung bezeichnet wird, werden noch die informelle und die non- formelle Bildung unterschieden.
Bei der non-formellen Bildung (auch nicht- formelle Bildung genannt) handelt es sich auch um spezifische, organisierte und systematische Bildungsangebote, welche jedoch, im Gegensatz zur Schulpflicht, auf freiwilliger Basis beruhen und einen Angebotscharakter
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haben. Träger/ Anbieter der non-formalen Grundbildung in Form allgemeiner, beruflicher, kultureller und politischer Bildungsangebote sind in der Regel private, nicht-staatliche, zivilgesellschaftliche oder kirchliche Organisationen wie z. B. Freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe und Vereine. Sie werden außerhalb des formalen Schulwesens angeboten (vgl. Bundesjugendkuratorium 2001:5). Non- formelle Bildung hat eine ergänzende Funktion und kann ein formales Bildungssystem nicht ersetzen. Sie hat eine besonders wichtige Brückenfunktion bei der Vorbereitung auf den (Wieder)Einstieg, in Fällen bei welchen Kinder und Jugendliche den Schulbesuch unterbrochen oder die Schule vorzeitig abgebrochen haben. So können Menschen, welche z. B. nicht alltagspraktisch angemessen richtig lesen und schreiben können, durch non-formelle Alphabetisierungsprogramme geschult werden 5 . Lesen und schreiben zu können sind elementare Grundkenntnisse und bedeutende Grundvoraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben (vgl. BR 2013). Dieses Beispiel verdeutlicht, welche immens hohe Bedeutung non- formale Angebote für die Bildungs- und Lebensbiographie von Menschen haben können.
Informelles Lernen bezeichnet erfahrungsbasierte und lebensbildende Lernprozesse außerhalb von Bildungseinrichtungen, also auch an so genannten „bildungsfernen“ Orten. Diese Lernform ist somit von formellen Vorgaben unabhängig und wird vom individuellen Interesse gesteuert, es kann als „freiwilliges Lernen im Alltag“, in lebensweltlichen Zusammenhängen und in der sozialen Welt eines Menschen, bezeichnet werden. Lebenswelt ist der Ort, an dem der Mensch sich selbst fördert, deshalb müssen die alltäglichen und die organisierten Lebenswelten verbunden werden (vgl. Thiersch 2013: Telefoninterview). Oevermann (vgl. 2001: 14,17) bestätigt die dargestellte hohe Bedeutung des informellen Lernens und sagt sogar, dass das Alltagswissen dem wissenschaftlichen Wissen an Erfahrungsreichtum weit überlegen sei und neue Erfahrungen nur in der Alltagspraxis gemacht werden können.
Die Bedeutung der non- formalen („Erfahrungslernen“) und formellen Bildung und ihre Konsequenzen für individuelle Bildungslebensläufe haben angesichts der vorangegangenen geschilderten sozialen Ungleichheiten für die Jugendhilfe/ Soziale Arbeit eine große Bedeutung (vgl. Mack 2013:3). Alle fakultativen Angebote mit ihren...