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Lesebuch

AutorJosef Pieper
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl Seiten
ISBN9783641182489
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Rund 50 Aufsätze um Wahrheit, Freiheit und die richtige Lebensführung versammelt dieses Lesebuch, und in jedem einzelnen ist Josef Pieper als Denker wie als Mensch ganz gegenwärtig.

Josef Pieper, (1904-1997), einer der großen Autoren des Kösel-Verlags, war einer der bekanntesten christlichen Philosophen der Gegenwart. Am 4. Mai 2014 hätte er seinen 110. Geburtstag gefeiert. Piepers Schriften wurden in viele Sprachen übersetzt und erreichten eine Gesamtauflage von weit über einer Million Exemplare.

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Leseprobe

Die zwei Seiten der
Münze »Wahrheit«


                                                                                                      

31


                      

Wirklichkeit und erkennender Geist


»Realität« ist alles, was dem sinnlichen und geistigen Erkennen »vor-liegt«; alles, was unabhängig vom Denken ein Sein hat. »Wirklich« in diesem Sinn ist, was »entgegen-steht«. Hier enthüllt und bestätigt sich der ursprüngliche Wortsinn von Gegenstand und ob-iectum. Nicht-wirklich ist das bloß Gedachte [dessen Gedachtwerden wiederum etwas Wirkliches ist]; die Scholastik hat ihm den Namen ens rationis, »Gedankending«, gegeben. Die Wirklichkeit [im Sinn von realis] ist der Inbegriff des vom Denken unabhängigen Seins. Wenn Thomas diese »Wirklichkeit« – nicht ihre inhaltliche Fülle, sondern ihre allem Erkennen vorausliegende Gegenständlichkeit – bezeichnen will, dann sagt er: res [nach Theodor Haecker ein »Herzwort der lateinischen Sprache«, das »der Römer der ganzen Welt gegeben« hat].

Das Verhältnis des Geistes und der objektiven Wirklichkeit zueinander hat drei Namen: gesehen vom Geiste her heißt es »Erkennen«, gesehen vom Wirklichen her heißt es »Erkanntsein«, gesehen von beiden zugleich heißt es »Wahrheit«.

»Erkennende Wesen unterscheiden sich von nicht-erkennenden dadurch, dass die nicht-erkennenden nichts haben als ihre eigene Form; das erkennende Wesen aber ist fähig, auch die Form des anderen Wesens zu haben … Darum sagt der Philosoph, die Seele sei in bestimmter Weise alles«.

Eine Form haben heißt: etwas Bestimmtes sein. Jedes Ding ist, was es ist, durch die Form, die es hat.

Erkennen also heißt: die Formen anderer Dinge haben, das andere sein, mit dem anderen identisch sein: alles sein. »Darum sagt der Philosoph, die Seele sei alles.« Connaitre, c’est devenir un autre.

Man muss unterscheiden zwischen dem Erkennen als Werdensvorgang und dem Erkennen als vollendeter Seinstatsache.

Das Erkennen als Werden ist aktiv-passives Geschehen. Aktives Geschehen: Loslösung des stoffüberlegenen, intelligiblen Seinskerns der Dinge aus der sinnenhaften Hülle des Stofflichen; spontaner Durchbruch in den Bereich der unstofflichen Wesenheit, durch die der erkennende Geist erst eigentlich zur akthaften Verwirklichung seiner selbst kommt. Passives Geschehen: Aufnahme, Rezeption der Wesensform des Wirklichen.

Dies aktiv-passive Werdensgeschehen ist aber unwesentlich im Hinblick auf das Erkennen als vollendete Seinstatsache; oder vielmehr: jene Aktivität und Passivität ist zwar notwendig zum Zustandekommen des Erkennens, aber sie macht nicht das Wesen des eigentlichen Erkennens aus. Das Wesen des Erkennens ist das Haben der Formen der objektiven Wirklichkeit; Erkennen als vollendetes Sein ist nicht eine »Tätigkeit« des erkennenden Geistes, sondern dessen Verwirklichtheit. Es ist das In-Beziehung-Sein des Geistes mit der objektiven Seinswelt. Es ist die Identität zwischen der erkennenden Seele und der Wirklichkeit, gesehen von der erkennenden Seele her, die in dieser Identität ihr eigentliches Sein-Können verwirklicht.

Und ebendies In-Beziehung-Sein des erkennenden Geistes mit dem Wirklichen macht den begrifflichen Inhalt von »Wahrheit« aus. Wahrheit ist die conformitas, die Ein-Förmigkeit, und die adaequatio, die Angeglichenheit – beide Worte im strengen Sinn verstanden – von Wirklichkeit und Erkenntnis. Und diese Beziehung verwirklicht sich eben im Erkennen selbst: »Im Wirken des erkennenden Geistes vollendet sich das Verhältnis der Angeglichenheit, in welchem das Wesen der Wahrheit liegt«. Wahrheit ist nichts anderes als die im Erkennen gesetzte und erfüllte Identitäts-Beziehung zwischen dem Geiste und dem Wirklichen, in welcher das Wirkliche das Maß des erkennenden Geistes ist.

32


                      

Unbegreifliche Begreifbarkeit


Alles, was aus des Menschen gedanklichem Entwurf hervorgeht, besitzt ebendadurch die Qualität des prinzipiell Verstehbaren; das aufgrund menschlicher Erdenkung Zustandegekommene, wie sehr es sich auch (etwa als Maschine und Apparatur oder als anschaubares Bildwerk) »materialisiert« haben mag, hat notwendig selber den Charakter des Gedanklichen und also des durch einen Betrachter »Nachdenkbaren«. Der mathematisch ungebildete Laie wird zwar von Bau und Funktion, sagen wir, einer Computer-Anlage möglicherweise nichts begreifen; dennoch gibt es grundsätzlich auf jede seiner etwaigen Fragen eine Antwort, die, in sich selbst betrachtet, verständlich ist und damit die Verstehbarkeit auch ihres Gegenstandes erweist. – In genauer Analogie hierzu gründet auch die empirisch konstatierbare Erkennbarkeit der natürlichen, uns begegnenden Welt in eben ihrer Erdachtheit durch den Creator. So allein jedenfalls lässt sie sich für ein tiefer dringendes Fragen letztlich plausibel machen. Übrigens stellen wir, genaugenommen, diese Erkennbarkeit der Dinge wie auch des Menschen selbst nicht bloß als ein Faktum fest; wir bringen es überdies offenbar gar nicht zuwege, uns etwas Wirkliches auch nur vorzustellen, das real wäre und zugleich prinzipiell unerkennbar. Charles S. Peirce sagt sogar: »We cannot even talk about anything but a knowable object … The absolutely unknowable is a non-existent existence.« Ein Universitätskollege, von Fach Logistiker, hat mich einmal kritisch gefragt: Stürzt denn der Himmel ein, wenn zugestanden werden müsste, es gebe eine Realität, die sich jeder erkennenden Durchdringung schlechterdings versagt? Ist nicht tatsächlich die Physik, zum Beispiel in der Erforschung des Lichtes, auf genau solche unerkennbaren Sachverhalte bereits gestoßen? Darauf habe ich meinem Gesprächspartner die Gegenfrage gestellt, ob denn also die Physiker die Bemühung um eine Klärung endgültig aufgegeben hätten. Antwort: »Nein! Natürlich nicht!« Besagt das aber nicht, dass demnach jedermann »natürlich« voraussetzt, auch das bis auf Weiteres Unerkannte besitze prinzipiell die Qualität der Verstehbarkeit? Wer immer die Erforschung des noch Unerforschten für sinnvoll hält, behauptet eben damit die Erkennbarkeit der Welt. Diesen wahrhaftig erstaunlichen Tatbestand haben – in der Reflexion über die tieferen, »wissenschaftlich« nicht mehr fassbaren Voraussetzungen des eigenen Geschäfts – hervorragende Wissenschaftler immer wieder einmal, und anscheinend zu ihrer eigenen Überraschung, festgestellt und zur Sprache gebracht. Ich nenne nur zwei Zeugnisse. Von Albert Einstein stammt das Wort: »Das am meisten Unbegreifliche an der Natur ist ihre Begreifbarkeit.« Und es ist Louis de Broglie, der sagt: »Wir wundern uns nicht genug angesichts der Tatsache, dass wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt möglich ist.« Freilich ist auch die Hinzufügung Gilsons bedenkenswert: dass natürlich »die Frage nach der Möglichkeit von Wissenschaft nicht selbst eine wissenschaftliche Frage« sei.

Ich bin ziemlich sicher, dass weder Einstein noch de Broglie der Begriff »Wahrheit der Dinge« in den Sinn gekommen oder auch nur bekannt gewesen ist, obwohl sie von genau dem gleichen Sachverhalt reden, den dieser ehedem als fundamental geltende Begriff tatsächlich meint. Gemeint nämlich ist mit der »Wahrheit der Dinge«, eben jene von Albert Einstein und Louis de Broglie mit Erstaunen entdeckte und beim Namen genannte seinshafte Lichtheit der Natur und aller Wirklichkeit sonst, wodurch diese erst für unser Erkennen betretbar wird.

33


                      

»Wahrheit der Dinge«?


Wenn man irgendein philosophisches Buch dieser gegenwärtigen Epoche durcharbeitet, wird einem so gut wie sicher der Begriff oder gar der Ausdruck »Wahrheit der Dinge« nicht begegnen. Das ist nicht ein Zufall; es gibt im durchschnittlichen philosophischen Denken dieser unserer Zeit gar keinen Platz für diesen Begriff; er ist sozusagen »nicht vorgesehen«. Wahr zu sein: das kann ausgesagt werden von Gedanken, von Ideen, von Sätzen, von Ansichten – aber nicht von Dingen. Unsere Beurteilung der Wirklichkeit kann wahr sein (oder auch falsch); aber die Wirklichkeit selbst, die »Dinge« wahr zu nennen, das erscheint als geradezu sinnlos, als Unsinn; die Dinge sind wirklich, aber nicht »wahr«! – Wenn man dieses Faktum historisch betrachtet, dann zeigt sich, dass es viel mehr bedeutet als die bloße Nichtverwendung eines bestimmten Begriffs oder eines bestimmten Terminus; es handelt sich nicht bloß um die sozusagen »neutrale« Abwesenheit einer bestimmten Betrachtungsweise. Vielmehr ist diese Nichtverwendung und Abwesenheit des Begriffs »Wahrheit der Dinge« das Resultat eines langen Prozesses der...

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