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E-Book

Leseverständnis und Lesekompetenz

Grundlagen - Diagnostik - Förderung

AutorWolfgang Lenhard
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl172 Seiten
ISBN9783170350212
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Die Schriftsprache ist eine der faszinierendsten Errungenschaften der Menschheit. Der Prozess des Verstehens beim Lesen ist sehr komplex und wird von vielen Einflussfaktoren bestimmt. Im Buch werden diese Faktoren, ihre Entwicklung und ihr Zusammenspiel systematisch erarbeitet. Hierdurch eröffnet sich eine Perspektive auf die Frage, an welchen Punkten Diagnostik und Förderung ansetzen können. Dieses Buch bietet dem Leser einen Einblick in Theorien und Modelle und zeigt aktuelle Forschungsergebnisse und die Entwicklung im deutschsprachigen Raum seit der ersten PISA-Untersuchung auf. Darüber hinaus beleuchtet es die Frage, wo die besonderen Bedürfnisse schwacher Leser liegen, schildert Diagnosemöglichkeiten und geht auf systematische und evidenzbasierte Fördermöglichkeiten ein.

Prof. Dr. Wolfgang Lenhard ist im Bereich der Pädagogischen Psychologie der Universität Würzburg im Rahmen von Diagnostik und Förderung schulischer Leistungen tätig.

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Leseprobe

 

3          Diagnostik


 

 

 

Um Lehr-Lern-Prozesse aktiv gestalten zu können, benötigen Lehrkräfte zum einen Informationen über den Stand der Schülerinnen und Schüler, um abgestimmte Angebote machen zu können. Zum anderen müssen sie wissen, ob ihre Bemühungen den gewünschten Erfolg haben. Es gibt eine Vielzahl von Informationsquellen, die hierfür genutzt werden können. Dieses Kapitel soll das notwendige Wissen vermitteln, um relevante von unwichtigen Informationen trennen zu können. Außerdem stellt das Kapitel die wichtigsten standardisierten Verfahren sowie informelle Instrumente vor. In einem Exkurs wird die Anwendung diagnostischer Verfahren erläutert und schließlich darauf eingegangen, wie diagnostische Informationen in konkrete Förderung umgesetzt werden können.

Trägt man im schulischen Bereich über das Thema standardisierte, pädagogisch-psychologische Verfahren vor, so ist gelegentlich auf Seiten der Lehrkräfte, Erzieher und Erzieherinnen ein Gefühl des Unbehagens oder auch der offenen Ablehnung zu bemerken. Bisweilen wird auch die Frage gestellt, ob es überhaupt ethisch vertretbar sei, Menschen mit Zahlen zu belegen. Dabei sind sich die Fragesteller meist nicht bewusst darüber, dass auch die Rohpunktzahl oder Note in einer Schulaufgabe nichts anderes als ein Leistungsmaß darstellt – allerdings in der Regel ein ungenaues, das sich zudem auf eine wesentlich kleinere Bezugsgruppe, nämlich die eigene Klasse, bezieht. Diese Angst vor dem Themengebiet Diagnostik speist sich meiner Vermutung nach zum einen aus einer Fehleinschätzung standardisierter diagnostischer Verfahren. Letztlich stellen diese nichts anderes als den Versuch dar, Leistungserhebungen, wie sie jeden Tag in der Schule erfolgen, objektiv und zuverlässig zu gestalten. Ihre Anwendung und Interpretation setzt freilich diverse spezialisierte Kenntnisse voraus. Weil Lehrkräfte nicht immer über diese Kenntnisse verfügen, werden die Erkenntnisse, die aus standardisierten Verfahren gezogen werden können, in der Regel stark überschätzt. Der Vorwurf, die Ergebnisse psychometrischer Verfahren würden Kinder in eine Schublade stecken, resultiert also vor allem aus einer Überinterpretation der Ergebnisse aufgrund mangelnden Wissens über die Grenzen der Verfahren. Der große Vorteil der Verfahren, nämlich die Möglichkeit, Aussagen über die Güte der Leistungserhebung zu treffen, wird dabei leider häufig übersehen.

Standardisierte Verfahren stellen zudem nur einen sehr kleinen Teil der Diagnostik dar, die täglich – und ohne große Bedenken – in konkreten schulischen Situationen durchgeführt wird. Dabei ist das Wissen, das über den Leistungsstand eines Schülers eingeholt wird – sei es formell durch Diagnoseverfahren oder informell im Unterricht – notwendig, um beispielsweise Lernprozesse besser planbar zu machen oder um den Erfolg vorangegangener pädagogischer Bemühungen zu überprüfen. Diese unmittelbar plausible Annahme lässt sich empirisch belegen. Fragt man danach, durch welche Determinanten schulische Leistungen beeinflusst werden, dann ergibt sich basierend auf den Ergebnissen der Unterrichtsforschung ein sehr vielschichtiges Bild (vgl. Helmke & Weinert, 1997): Soziokultureller und familiärer Hintergrund, individuelle Eigenschaften der Kinder oder Jugendlichen, die Schulorganisation und Klassenzusammensetzung sowie die Lehrerexpertise wirken auf komplexe Weise zusammen und bedingen den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler. Die Lehrerexpertise wiederum beinhaltet vier zentrale Dimensionen: (1) das Sachwissen, (2) die methodische Kompetenz, (3) die Klassenführung und (4) die diagnostische Kompetenz. Diagnostik ist also – unabhängig von der konkreten Form – ein unverzichtbarer Bestandteil pädagogischer Arbeit.

Da diagnostische Fähigkeiten eine wichtige Voraussetzung für schulisches Arbeiten darstellen, drängt sich die Frage auf, wie sicher Lehrkräfte die Fähigkeiten ihrer Schüler einschätzen können. Im Rahmen der nationalen Zusatzuntersuchung von PISA 2000 wurden deshalb Lehrkräfte der Hauptschule darum gebeten einzuschätzen, welche ihrer Schüler ein Leseverständnis aufweisen, das »so gering ausgeprägt ist, dass sich dies als ernsthaftes Problem beim Übergang ins Berufsleben erweisen wird« (Artelt, Stanat, Schneider & Schiefele, 2001, S. 119; Operationalisierung: Leistung unterhalb von Kompetenzstufe 1 im PISA-Test; ca. 10 % der untersuchten Stichprobe). Es gelang den Lehrkräften lediglich, 11,4 % der betreffenden Schülerinnen und Schüler mit extrem schwachen Leistungen korrekt zu identifizieren. Bei fast 90 % der extrem schwachen Leserinnen und Leser in der Schülerschaft wurde das Versagensrisiko nicht erkannt10 und folglich wurden diese auch nicht gefördert. Ein vergleichbares Ergebnis gibt es bei IGLU 2006: Über ein Drittel der Schüler und Schülerinnen, die zu den 10 Prozent der schwächsten Leser gehörten, erhielten von den Lehrkräften die Noten »befriedigend« und besser (Valtin, Hornberg et al., 2010).

3.1       Zentrale Aspekte bei der Anwendung testdiagnostischer Verfahren


3.1.1     Anwendungsszenarien


Diagnostik dient der Vorhersage zukünftiger Leistungen: Ist eine Person in der Lage, die zukünftig auftauchenden Anforderungen erfolgreich zu meistern? Welche Probleme könnten sich dabei ergeben? Welche besonderen Potenziale liegen vor? Wie könnte gefördert werden, um die zukünftige Leistung zu ermöglichen?

Es gibt viele Situationen, in denen das Lese- oder Sprachverständnis überprüft wird, ohne dass dies jeweils immer deutlich gemacht wird. Hierzu gehören nicht allein der Unterricht, sondern auch außerschulische Begebenheiten. Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Teilkapitel möchte ich zunächst fünf prototypische Diagnostikszenarien skizzieren, die im Laufe der Beschulung oder Ausbildung auftreten können (Beispiel 3.1 – 3.5).

Beispiel 3.1: Vorschulische Erziehung und Einschulungsuntersuchung


Eine Erzieherin macht mit den zwölf Vorschulkindern ihrer Gruppe in der Kindertagesstätte im letzten Kindergartenjahr täglich Sprachübungen. Sie knüpft daran die Hoffnung, dass die Kinder auf diese Weise besser auf die Schule vorbereitet werden. Zu den Übungen gehören beispielsweise Finger- und Klatschspiele, Reime finden, Geschichten nach- oder weitererzählen. Gleichzeitig beobachtet sie unsystematisch, welche Kinder Probleme im sprachlichen Ausdruck oder im Sprachverständnis haben. Auf einem Protokollbogen hält sie ihre Beobachtungen fest. Der Protokollbogen enthält 15 Aussagen wie z. B. »Kann eine kurze Geschichte in eigenen Worten wiedergeben«, die mit den Bewertungen »sicher«, »meist sicher«, »unsicher« oder »gar nicht« bewertet werden. Bei Maike, Leon und Tom bemerkt sie Schwierigkeiten und sie teilt ihre Beobachtungen den Eltern mit. Ein Jahr später erfährt sie in einem informellen Gespräch mit der Lehrkraft der 1. Klasse der aufnehmenden Grundschule, dass Maike und Tom sich beim Schriftspracherwerb schwertun, Leon sich dagegen erfreulich entwickelt. Zwei andere Kinder, Mia und Ben, die der Erzieherin dagegen nicht aufgefallen waren, haben ebenfalls Probleme beim Erlernen der Schrift. Die anderen Kinder weisen einen normalen Schriftspracherwerb auf.

Beispiel 3.2: Diagnostische Begleitung des Leseerwerbs durch kontinuierliche Erfassung des Lernzuwachses in der 1. Klasse


Eine Lehrkraft der 1. Grundschulklasse fängt vier Monate nach Beginn des Schulbesuchs damit an, im Abstand von jeweils zwei Wochen die Lesegeschwindigkeit und das Leseverständnis ihrer Schulklasse zu protokollieren. Hierfür greift sie auf Aufgabenmaterial der Zeitschrift Flohkiste zurück. Zur Erhebung der Lesegeschwindigkeit müssen die Kinder möglichst viele Aufgaben lösen, die jeweils aus einem Bild und drei Wörtern bestehen. Die Kinder müssen das Wort markieren, das zum Bild passt. Der Leseverständnistest enthält als Aufgabenstellung kurze Texte mit einer Frage oder bildliche Darstellungen. Die Kinder müssen aus einer Liste mit jeweils drei Alternativen diejenige markieren, die die Frage korrekt beantwortet, oder die zum Bild passt. Die Ergebnisse jedes Kindes werden in einem Diagramm eingetragen um darzustellen, wie sich die Leistung des Kindes im Laufe des Schuljahres verändert. In Gesprächen mit den Eltern derjenigen Kinder, die bei der Lesegeschwindigkeit vergleichsweise schwach abschneiden, bittet sie darum, täglich zehn Minuten gemeinsam zu lesen. Sie sucht für die Eltern aus der Klassenbibliothek...

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