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Letzte Begegnungen unter dem Galgen

Ein amerikanischer Militärseelsorger erlebt die Nürnberger Prozesse

AutorTim Townsend
VerlagSCM Hänssler im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783775173438
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
'Vergebt denen, die euch Böses tun.' Aber was ist, wenn das Böse millionenfacher Mord ist? Nürnberg 1946. Die Hauptkriegsverbrecher werden angeklagt und erwarten ihren Tod. Der Militärseelsorger Henry Gerecke führt mit vielen von ihnen Gespräche, darunter Hermann Göring, Albert Speer, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und Rudolf Hess. Manche der Angeklagten reagieren mit Ablehnung auf die christliche Botschaft, andere gleichgültig, doch manche scheinen echte Reue zu zeigen. Das bringt Gerecke in ein Dilemma: Gilt Gottes Gnade auch den Menschen, die sich schwerster Verbrechen schuldig gemacht haben? Oder verharmlost Vergebung ihre Sünden? Keine leichte Bettlektüre, aber sehr bewegend und hoch spannend.

Tim Townsend hat an der Columbia Universität und an der Yale Divinity School Journalismus studiert, für das Wall Street Journal, die New York Times, den Rolling Stone und andere Publikationen geschrieben und wurde mehrfach als 'Religion Reporter of the Year' ausgezeichnet. Er ist Autor und Herausgeber beim Pew Research Center, einem Meinungsforschungsinstitut in Washington, D.C.

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Leseprobe

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1. Tod durch den Strang


Es gab Männer, die hatten gedacht, sie könnten die Grausamkeit zu ihrem Schoßhündchen machen, bis das Hündchen groß wurde und sie zerriss.
Rebecca West1

Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel war der Zweite nach Hitler in der militärischen Hierarchie des Dritten Reiches. Jetzt, in einer nasskalten Oktobernacht des Jahres 1946, morgens um 1:00 Uhr, stand er an einen Wärter gekettet vor der Zelle 8 des Nürnberger Justizpalastes. In einer halben Stunde würde er am Galgen hängen, die Hände mit einem ledernen Schnürsenkel hinter seinem Rücken zusammengebunden, über seinem Kopf eine schwarze Kapuze. Draußen vor dem Gefängnis war der Nachthimmel über dem zerstörten Nürnberg dunkel und mondlos.

Der Kommandant des Gefängnisses, der amerikanische Oberst Burton Andrus, sprach laut, wie es sich für eine Hinrichtung – und dann solch eine historische – gehörte. Seine schrill-gebieterische Stimme wurde von den Wänden des Gefängnisses zurückgeworfen und wanderte die eisernen Wendeltreppen hoch, vorbei an dem Maschendraht zwischen den Laufstegen der oberen Zellen, der Selbstmorde verhindern sollte, vorbei auch an der kleinen Kapelle, die man durch Entfernen der Trennwand zwischen zwei Zellen geschaffen hatte.2

Andrus spürte die Schwere des Augenblicks, aber er genoss sie nicht.3 Er ging den Zellenblock im Erdgeschoss entlang, blieb vor jeder der Zellen stehen und wiederholte seinen Satz. Die Insassen hatten die gleichen Worte schon zwei Wochen zuvor gehört, als die Richter des Internationalen Militärtribunals ihre Urteile im Gerichtssaal verlesen hatten. Der Oberst spulte eine reine Formalität ab, um den Vorschriften der Armee und der Genfer Konvention Genüge zu tun. Die Männer in diesen Zellen hatten zur Elite des Dritten Reiches gehört, aber hatten ihren militärischen Dienstgrad und jegliche Privilegien längst verloren. Im Gefängnis in Nürnberg wurden sie von den meisten mit Missachtung und Gleichgültigkeit behandelt.4

Die übrigen Hauptkriegsverbrecher – die, die der Höchststrafe entgangen und in den ersten Stock verlegt worden waren – bekamen jedes von Andrus' Worten mit. Ebenso die im dritten Stock. Das waren die »kleineren« Nazi-Verbrecher, deren Aussagen die Anklagevertreter als Beweise gegen die Männer ganz unten benutzt hatten.

Andrus' striktes Vorgehen nach Armeevorschriften ließ die Anwälte im Gerichtssaal manchmal schmunzeln und die 21 Nazis, die er während des ein Jahr dauernden Verfahrens unter sich hatte, verzweifeln. Vor seiner Abordnung nach Nürnberg hatte Andrus unter General George Patton gedient, seinem Idol, dem er nachzueifern versuchte. So schrieb er einmal einem Freund: »Mit Georgie geh' ich bis ans Ende der Welt, egal, für was.«5

An diesem Morgen trug Andrus, wie immer, seine grüne Uniformjacke, deren Messingknöpfe das Wappen der USA zeigten: ein Seeadler, der in der einen Klaue 13 Pfeile und in der anderen einen Olivenzweig hält. Auf dem Kopf hatte Andrus einen blank polierten olivgrünen Helm, unter dem einen Arm steckte eine Reitpeitsche.

Andrus' Blick war nervös-ärgerlich, als er vor Keitel stand. Dies war das Datum, das das Gericht für die Hinrichtungen angesetzt hatte; die Gefangenen wussten das noch nicht offiziell, aber die meisten hatten begriffen, dass dies hier ihre letzten Stunden waren. Zu Beginn der gleichen Nacht hatte Hermann Göring, ehemaliger Reichsmarschall und Chef der deutschen Luftwaffe und designierter Nachfolger Hitlers, mit einer Ampulle Zyankali Selbstmord begangen – zum großen Verdruss von Andrus. Dieser hatte sich geschworen, dass es in »seinem« Gefängnis keine Selbstmorde geben würde. Der Lärm auf den Gängen, der der Entdeckung des Selbstmordes folgte, weckte die übrigen Gefangenen. Um 0:45 Uhr befahl man ihnen, sich anzuziehen, und sie bekamen ihre Henkersmahlzeit: Kartoffelsalat mit Wurst, Aufschnitt, Schwarzbrot und Tee.6 Die meisten rührten ihr Essen nicht an. Keitel hatte sein Bett gemacht und bat um Besen und Staubtuch, um seine Zelle ein letztes Mal zu reinigen.7

Keitels Leben war, wie das von Andrus, von Dienstvorschriften beherrscht gewesen. Seit seiner Gefangennahme durch die Alliierten vor 18 Monaten war er ganz der disziplinierte Soldat gewesen. Sein Gang war hoch aufgerichtet, sein silbergraues Haar und der Schnurrbart stets perfekt geschnitten. Ein Jahr zuvor, als Keitel in dem Gefängnis eintraf, hatte Angus ihm persönlich die Schulterstücke von der Uniform gerissen und ihm gesagt, dass er kein Soldat mehr sei, sondern ein Kriegsverbrecher.8 Keitel, unbeirrt, hatte zu jedem Prozesstag Uniformjacke, Hose und die schwarzen Stiefel eines Offiziers der Wehrmacht getragen. Keitels Verteidiger hatte versucht, die Vorschriftskarte zu spielen: Keitel habe halt seinen Job gemacht. Die Befehle seines obersten Vorgesetzten, des Führers, seien Gesetz gewesen.

Das Gericht hatte das anders gesehen. »Befehle durch Vorgesetzte, selbst gegenüber einem Soldaten, können nicht als mildernde Umstände herangezogen werden, wenn es um solch schwere und schockierende Verbrechen geht«,9 hatten die Richter gesagt und Keitel in allen vier Anklagepunkten für schuldig befunden. Nach der Verkündigung des Todesurteils hatte der General kurz genickt und den Gerichtssaal verlassen.

Jetzt hörte Keitel sein Urteil zum zweiten und letzten Mal. »Angeklagter Wilhelm Keitel!«, bellte Andrus. »Gemäß den Punkten der Anklageschrift, unter welchen Sie schuldig befunden wurden, verurteilt Sie der Internationale Militärgerichtshof zum Tode durch den Strang.«10 Andrus ging zur nächsten Zelle. Als Keitel in die seine zurückgekehrt war, folgte ihm ein untersetzter Mann mittleren Alters mit Brille, sich lichtendem grauen Haar und wächsernem Gesicht zu seiner Pritsche. Henry Gerecke, Pastor und Captain in der US Army, hatte eine Bibel dabei. Er fragte Keitel, ob dieser zu beten wünsche.

Auch Gerecke hatte Görings Selbstmord schockiert. Auf der anderen Seite des Atlantiks war gerade das Endspiel der Baseballmeisterschaft der USA gelaufen, zwischen den Boston Red Sox und den St. Louis Cardinals. Gerecke war ein Cardinals-Fan. Sein katholischer Kollege im Gefängnis, Pater Sixtus O'Connor, der aus dem ländlichen Teil New Yorks stammte und eigentlich ein Dodgers-Fan war, hatte in einer Wette mit Gerecke die Sox gewählt.11 Die beiden hatten in der Wärterstube im Erdgeschoss des Gebäudes auf einen Anruf gewartet, als Göring seine Ampulle zerbiss. Da der Justizpalast wegen der Hinrichtungen geschlossen war, konnten die beiden sich nur dadurch über den Fortgang des Baseball-Finales unterrichten, dass sie regelmäßig einen Anruf von einem amerikanischen Offizier entgegennahmen, der nicht in dem Gebäude war. Sie hatten gerade gehört, dass Boston mit St. Louis gleichgezogen hatte, als Görings Wärter zu schreien begann, dass mit Göring etwas nicht stimme. Gerecke war als Erster bei dem sterbenden Reichsmarschall gewesen.12

Jetzt, zwei Stunden später, war Gerecke also bei Keitel. Die beiden knieten sich auf den Boden, und Gerecke begann, auf Deutsch zu beten. Andrus' Worte müssen Keitel wohl abrupt zu Bewusstsein gebracht haben, dass sein Leben tatsächlich vorbei war, denn seine soldatische Haltung zerbrach mit einem Mal. Seine Stimme versagte und er begann zu weinen. Er schluchzte, zitterte am ganzen Körper und rang nach Luft.13 Gerecke hob seine Hand über Keitels Kopf und sprach ihm einen letzten Segen14 zu, wahrscheinlich den Lieblingssegen Martin Luthers: »Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden« (4. Mose 6,24-26).15 Dann wurde der Pastor in die nächste Zelle gerufen und er stand auf.

Gute drei Jahre zuvor, am 3. Juni 1943, kam Henry Gerecke zu spät zum Abendessen.16 Er riss die Haustür auf und rannte, zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, die breite Holztreppe zu der Vierzimmerwohnung in der Halliday Avenue 3204 im Süden von St. Louis hoch, wo er mit seiner Frau, seinen drei Söhnen und seiner Schwägerin wohnte. Seine Frau Alma war allein in der Wohnung. Ihre jüngere Schwester Ginny war ausgegangen, der jüngste Sohn, der 15-jährige Roy, war gerade in einer Jugendveranstaltung in der Kirche. Die beiden Älteren dienten bereits in der US-Armee. Der Älteste, der 22 Jahre alte Hank, war auf den Aleuten stationiert17, zur Verteidigung des nordamerikanischen Festlands gegen eine mögliche japanische Invasion. Der 21-jährige Carlton – den alle Corky nannten – war gerade in Fort Bliss (Texas) in der Ausbildung, zur Vorbereitung auf die Invasion der Alliierten in der Normandie, die ein Jahr später beginnen würde.

Endlich war er oben, schwer atmend. Jetzt würde er also einer Frau, die bereits zwei Söhne in den Krieg verabschiedet hatte, eröffnen, dass ihr Mann auch in den Krieg ziehen würde. Und zu spät zum Abendessen gekommen war er auch. Er ging den langen Korridor mit dem...

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