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E-Book

Lieb und teuer

Was ich im Puff über das Leben gelernt habe

AutorIlan Stephani
VerlagecoWing
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl264 Seiten
ISBN9783711051936
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Zwei Jahre lang arbeitet Ilan Stephani in einem Berliner Bordell als Prostituierte. Sie erschafft sich ein Alter Ego, mit dem sie diesen tabuisierten Randbereich der Gesellschaft erforscht. Neugierig begegnet die junge Frau dieser für sie bis dahin völlig unbekannten Welt und macht erstaunliche Entdeckungen: Statt Huren und Freiern im Zwielicht erlebt sie den Puff als Spiegel der Gesellschaft. Die Menschen hier haben mit denselben Ängsten, Mechanismen und Zuschreibungen zu kämpfen wie überall sonst, nur, dass sie offener damit umgehen. Sehr ehrlich und nachdenklich beschreibt die Autorin einen Mikrokosmos, in dem sie viel über die menschlichen Besonderheiten lernen konnte. Solidarität und Offenheit sind Werte, die überall gelebt werden können - dann ginge es allen besser, nicht nur im Bett.

Ilan Stephani wurde 1986 in Berlin geboren und wuchs in Niedersachsen auf. Während ihrer Ausbildung entdeckte sie durch die Prostituiertenorganisation Hydra die Möglichkeit, Erfahrungen jenseits ihrer gutbürgerlichen Herkunft zu sammeln. Heute ist sie als Körpertherapeutin und Autorin tätig. Sie leitet Seminare für Frauen und bloggt über Sexualität und Freiheit. Theresa Bäuerlein, geboren 1980 in Bonn, lebt in Berlin und beschäftigt sich als Journalistin und Autorin mit Themen wie Konsum und Beziehungen. Sie begleitete »Lieb und Teuer«. Ihr Roman »Das war der gute Teil des Tages« wurde 2013 unter dem Titel »Hannas Reise« verfilmt. Zuletzt erschien von ihr (und Tom Eckert) »Besser als Sex ist besserer Sex: Ein Paar. Ein Jahr. Ein Experiment«.

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Leseprobe

3


DER ERSTE TAG


Ich radle durch den Sommer in einem Berliner Wohngebiet, den Zettel mit der Puffadresse fest in der Hand. Auf dem Klingelschild, so hatte mir eine freundliche Puffstimme am Telefon gesagt, stünde übrigens nicht »Bordell«, sondern »König«. Genau genommen könnte ich ja zu irgendeinem Herrn König unterwegs sein oder selbst so heißen, ich könnte sein wie die Menschen um mich herum, die gerade Sonnenbrillen kaufen, telefonieren und ins Büro fahren. Autofahrer hupen, und die Busse sind voll mit Schulkindern. Habe ich jetzt schon ein Doppelleben?

Während ich klingle, lege ich mir zurecht, was ich sage, falls ich doch nicht in einem Puff, sondern im Wohnzimmer von Familie König landen würde. Aber kaum, dass ich auf das Namensschild drücke, springt der Summer an, und wenige Treppenstufen später … lächelt mir eine Frau aus einem Türspalt entgegen. Oh, die Unterwelt erweist sich als umsichtig, verständnisvoll und diskret. Und schon verliebe ich mich in sie.

»Hallo, du bist Ilan, stimmts?«, sagt die Frau.

Ich lächle auch.

Vor mir steht eine Frau, die mich an meine Tante erinnert, um die fünfzig, in einem einfachen Kostüm, mit einer Brillenkette um den Hals und mit offenen, klaren Augen. Sie streckt mir die Hand entgegen. »Herein. Hier ist grad viel los, aber wir können kurz reden. Ich bin Elli. Wir haben telefoniert.«

Nur eine simple Türschwelle, und ich falle in dieselbe Welt, in die vor mir Tausende von Männern gefallen sind – eine warme Wohnung mit langen Gängen, weichen Farben, mit Musik im Hintergrund.

»Komm, wir suchen uns mal ein freies Zimmer, dann haben wir mehr Ruhe.«

Elli streckt den Kopf durch einen Vorhang, hinter dem ich Frauenstimmen höre, und ruft: »Übernehmt ihr das Telefon? Ich bin kurz im Gespräch.«

Sie setzt sich seelenruhig auf das Bett in einem freien Zimmer. Auf das erste Puffbett meines Lebens. Hier würde ich mal Sex haben? Ich nehme in einigem Abstand zu ihr auf einem kleinen, quietschenden Ledersessel Platz und sehe sie höflich an.

»So gucken die Männer hier wahrscheinlich auch«, denke ich kurz und schaue unbeirrt weiter.

»Also, ich hab das am Telefon nicht ganz verstanden – du willst das hier einfach mal ausprobieren?« In Ellis Stimme liegt kein Druck. Sie wartet ab.

»Ja, genau.« Ich nicke. »Ich weiß nicht, ob ich das hier mag und – äh – wirklich will. Die bei der Beratungsstelle haben mir eure Adresse gegeben, weil ihr hier …« Ich suche hilflos nach Worten. »… ganz gute Arbeit macht …«

Elli lacht. »Na ja, ich bin hier nur eine von den Hausdamen. Ich sag immer, Hausdamen sind der Puffbutler. Und natürlich hoffe ich, dass du meine Arbeit gut findest, aber das musst du selbst beurteilen. Jedenfalls – ich bin dein Mädchen für alles. Egal was ist, du kommst damit zu mir, okay?«

Ich nicke.

»Und noch was: Wie sollen wir dich hier nennen? Ilan ist ja dein richtiger Name, oder?«

Wir überlegen.

»Cara«, sage ich schließlich.

»Haben wir schon.«

»Und Nora?«

»Auch.«

»Paula?«

»Ja, Paula geht! Und Paula passt zu dir.«

Plötzlich bin ich aufgeregt. Paula also.

»Okay, Paula, wie verbleiben wir? Willst du dich einfach melden, wenn du weißt, ob du anfangen willst?«

Ich sehe mich um. Warum sollte ich jetzt auf mein Rad steigen und später wiederkommen?

»Ach, ich glaube, ich bleibe gleich hier«, sage ich. »Geht das?«

»Klar!« Elli hebt gelassen die Schultern. »Wenn du willst, natürlich.«

Sie führt mich in den Aufenthaltsraum, in ein Durcheinander aus Zeitschriften, Garderoben und Telefonen. Mehrere Frauen sitzen in Bademänteln auf dem Sofa, zwischen Bergen getrockneter Handtücher.

An einer Pinnwand hängen Flyer für Sushi und die Notrufnummern der Polizei. Der Trockner läuft, in der Küche duftet die erste Kanne Kaffee des Tages.

»Ladys, einen Moment herhören. Das hier ist Paula, sie würde gerne heute mal mitlaufen und reinschnuppern, könnt ihr das machen? Heute ist es so voll hier, ich bin nur auf Achse …«

Zwei Frauen blicken auf und lächeln mich an.

»Hi, Schatz«, sagt eine von ihnen. »Ich bin Cara.«

Ich muss lachen. »Ah, Cara. Ich wollte gerade deinen Namen haben …«

Ja, ich mag sie, augenblicklich. Zwei Jahre lang wird mich Cara nun »Schatz« nennen und in mir jedes Mal dasselbe wohlige Gefühl auslösen.

Cara steht auf und deutet auf eine Schalttafel mit verschiedenen farbigen Knöpfen. »Also, pass auf – hier klingeln die Männer, hier machen wir auf, hier sind die freien Zimmer, und wenn du fertig bist, drückst du hier, dann holt Elli den Mann ab und bringt ihn zur Tür. Oder eine von uns macht das, je nachdem. Verstanden?«

Nein. Nicht das Geringste.

Eine andere Frau, die sich als Lena vorstellt, nimmt mich zur Seite. »Hast du denn schon so was wie Gleitgel?«

Ich schüttle den Kopf. Ich habe nicht einmal Schuhe.

Während eine weitere Kollegin eifrig vorschlägt, das ohne Schuhe könne mein Markenzeichen sein, ist man einstimmig der Meinung, mich mit Gleitgel auszustatten.

»Hast du denn schon ein Kleid?« – »Du könntest das hier anprobieren.« – »Oder das.« Wäsche fliegt durch die Luft. »Hat jemand Make-up für Paula?« Plötzlich bricht Eifer aus, und wenige Augenblicke später schiebt mich Cara ins Bad und stopft ein Bündel an Dingen hinterher, die bis vor wenigen Minuten für mich zu einer anderen Welt gehört haben. Lidschatten, hohe Schuhe und ein paar Kleider, die skandalös kurz und durchsichtig sind – die aber hier im Puff ganz ungefährlich wirken. Ich starre mich im Spiegel an und verwandle mich vor meinen ungläubigen Augen in eine Prostituierte.

Kleider machen Leute? Oh nein. Blicke machen Leute. Hier stehe ich, in einem Kleidchen, das jemand vergaß oder wegwerfen wollte, und sehe irgendwie anders aus – unbezahlbar. Ich lächle mich an, und mein Spiegelbild flirtet frontal zurück. Ich bin hingerissen.

Ich ziehe die Schuhe an, die mir Lena in die Hand gedrückt hat, mein Herz pocht, ich öffne die Tür und – stehe in einer Wohnung in Berlin und habe mich verlaufen. Ich drehe mich in alle Richtungen.

»Hilfe, wo bin ich, Cara?«, rufe ich.

Cara lacht, unterbricht ihr Make-up in der Küche und kommt auf mich zu, ein Auge mit Wimperntusche, das andere ohne. Sie sieht lustig aus, wie ein Clown. Sie nimmt meine Hand.

»Hier ist die Tür – nach rechts zum Bad, nach links zu den Zimmern. Geradeaus zu uns und zur Küche. – Siehst gut aus. Das Kleid steht dir.« Sie mustert mich kurz von der Seite.

»Wo warst du vorher?«, fragt sie beiläufig.

»Wie, vorher?« – »Na ja, im Palast oder bei Veronique?«

»Äh – ich war noch nie irgendwo. Ich meine – ich hab noch nie …«

Cara sieht mich verblüfft an. »Dafür wirkst du ja ziemlich cool. Bist du nicht aufgeregt?«

Lena schaltet sich ein: »Gott, ja, am Anfang war ich auch mal aufgeregt!«, und sagt es mit dem vielsagenden Unterton, jetzt sei sie ganz gewiss nicht mehr nervös.

So sind die ersten Kolleginnen meines Lebens, und um ehrlich zu sein, es sind die rührendsten, die man haben kann.

Ungeachtet meiner Aufregung nimmt ein nüchterner Tag seinen Lauf. Ein eingespieltes Team, voller Routinen. Türen gehen auf und zu. Männer klingeln, weil sie in den Puff wollen oder wieder raus. Elli eilt die Gänge entlang, das Telefon schrillt, die Waschmaschinen fiepen, und ich schwimme wie ein kleines Körperchen in einem großen Schwarm, werde in die Zimmer gespült und wieder hinaus.

Ein Tag voller Premieren. Das erste Mal laufen auf High Heels, das erste Mal Lidschatten, das erste Mal echte Kolleginnen. Oh, ach ja – und das erste Mal Sex gegen Geld.

Tür aufmachen, lächeln, Hand drücken, Namen sagen – den falschen Namen, den neuen Namen –, wieder gehen. Männer entscheiden sich für Kolleginnen von mir oder gehen wieder, weil sie sich nicht entscheiden können.

Mir schwirrt der Kopf. Lena kommentiert: »Sag dem Nächsten doch einfach, dass das hier dein erster Tag ist. Dann nimmt er...

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