Du bist Liebe
“Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.” (1. Joh. 4:16)2
Wir könnten Gott auch Tao, Brahman, das Absolute, die Quelle oder Alles-was-Ist nennen. Denn gemeint ist der zeitlose Ursprung und die Essenz allen Seins.
Wenn der Ursprung und die Essenz allen Seins Liebe ist, dann kann auf diesem Globus nichts anderes als Liebe existieren. Wenn Gott der Ursprung und die Essenz allen Seins ist, dann muss alles Sein Liebe sein.
Wenn dem aber so ist, warum sehen wir dann nicht nur Liebe um uns herum? Warum herrscht in der Natur vielmehr das Gesetz von Fressen und Gefressenwerden? Warum hassen, bekriegen, quälen, töten Menschen einander? Weshalb zieht mancher Zeitgenosse selbst wegen eines “zu laut” quakenden Froschs im benachbarten Biotop vor Gericht? Warum kannst auch du nicht zu jedem Zeitpunkt Liebe empfinden? Warum erscheint dir die Liebe manchmal ferner als das nächste Sonnensystem? In dieser Frage liegt bereits die Antwort: Alles, was sich als Nicht-Liebe manifestiert, ist “Liebe auf Distanz zu sich selbst”. Es ist immer noch Liebe, verstehst du? Nur eben nicht Liebe, die bei sich selbst ist!
Wieso kann es in einem Universum der Liebe überhaupt so etwas wie “Liebe auf Distanz” geben? Ist diese Formulierung nicht nur ein philosophisch verpackter Trick, um das Leid auf der Welt zu erklären? Wie ist es möglich, dass wir uns als Wesen der Liebe von der Liebe abwenden und als ihr Gegenteil erscheinen können?
Nachdem ich mich über dreißig Jahre mit den Sinnfragen und den möglichen Antworten beschäftigt habe, halte ich Buddhas Antwort für die bestmögliche. Wann immer man ihm eine Sinnfrage stellte, hüllte er sich in Schweigen.
Je länger du darüber nachdenkst, aus welchem Grund sich Liebe in ihr Gegenteil verkehren kann, desto verwirrter wirst du. Es gibt x Theorien und Philosophien darüber, aber keine von ihnen wird dir am Ende wirklich logisch erscheinen. Weder die Bibel noch die Baghavadgita, weder Jesus noch Laotse, weder Heraklit, Plotin, Schelling, Kant oder Hegel noch irgendein anderer Philosoph oder Mystiker konnte Licht in diese Frage bringen. Buddha war offenbar der einzige Erleuchtete, der dies erkannte und sich deshalb überhaupt nicht auf die Beantwortung der Sinnfrage einließ. Denn alle Theorien führen sich am Ende selbst ad absurdum oder bleiben zumindest widersprüchlich.
Ob du die Willensfreiheit jedes Geschöpfes oder göttliche Vorherbestimmung, ob du die Souveränität Gottes oder die Bosheit des Teufels zur Ursache machst, ob du vermutest, dass Leid für die Entwicklung der menschlichen Seele notwendig ist, oder ob du die Welt das Spiel Gottes nennst: Letztlich bleibt unverständlich, warum Liebe (oder Gott) uns die widersinnig erscheinende Möglichkeit gab, uns von unserem ureigensten Wesen abzuwenden. Natürlich kann man sagen: Ohne Gegensätze wäre das Leben, wie wir es kennen, undenkbar.
Dennoch bleibt die Frage offen: WARUM muss es denn diese Form des Lebens überhaupt geben? Hätte sich der Schöpfer nichts Besseres einfallen lassen können? Hätte er in seiner Allmacht nicht zumindest für “Schadensbegrenzung” sorgen können? Daher mein Tipp: Befasse dich nicht mehr mit der Frage, WARUM es so ist, wie es ist, sondern mit der viel wichtigeren Frage: WIE gehe ich damit um, dass es so ist, wie es ist?
Fest steht: Wenn Gott Liebe ist und daher auch wir Liebe sind, können wir selbst dann, wenn wir in unserer subjektiven Liebeswahrnehmung blockiert sind, niemals etwas anderes als Liebe sein. Es ist damit wie mit der Elektrizität, deren Einsatz unser Leben normalerweise enorm erleichtert. Bei unsachgemäßer Handhabung jedoch versetzt sie dir einen gehörigen Schlag. Im blockierten Zustand erscheinen wir uns zwar als neidisch, eifersüchtig, missmutig, wütend, deprimiert oder hasserfüllt, doch das ändert nichts an unserer Essenz. Wir sind also niemals in irgendeinem dieser Zustände von unserem wahren Wesen abgeschnitten oder getrennt.
Daher ist der eigentliche Grund für allen Hass, allen Neid, alle Gewalt in der Welt Liebe, die nicht so ausgelebt werden kann, dass sie als Liebe erscheint. Und diese Behauptung lässt sich auch verifizieren.
Israelis und Palästinenser bekämpfen sich seit der Staatsgründung Israels. Trotz aller Friedensbemühungen wird in den Medien nahezu täglich von scheußlichsten Terror- und Racheakten berichtet. Versöhnung zwischen den beiden Völkern scheint unmöglich zu sein. Was ist der eigentliche, tiefere Grund für diese Tragödie? Die Palästinenser lieben ihre Heimaterde und fühlen sich durch die Israelis ihres Landes beraubt. Die Israelis lieben das Land, das ihnen einstmals gehörte, und verteidigen es daher seit der Staatsgründung im Jahr 1948. Hinzu kommt: Die Palästinenser lieben einen Gott, den sie Allah nennen, und einen Mann namens Mohammed als seinen Propheten. Die Juden lieben einen Gott, den sie Jahwe nennen, und einen Mann namens Moses als seinen Propheten. Der Gott der Mohammedaner gebietet seinen Anhängern, die Anhänger anderer Religionen zu vernichten und den Gottesstaat zu errichten. Der Gott der Juden gebietet seinen Anhängern, Nationen, die ihnen ihren Lebensraum, das “verheißene Land”, verwehren, zu vernichten. Weil beide Völker ihren Gott verehren und lieben, tun sie natürlich, was er ihnen jeweils gebietet. Es ist also in Wahrheit Liebe (zu ihrem Land, ihrer Nation, ihrem Gott), die sie beide hasserfüllt sein und sich gegenseitig abschlachten lässt.
Dasselbe Prinzip gilt für Hitler und seine aberwitzige Idee einer reinen arischen Rasse, die ihn dazu verführte, Millionen von Juden und andere “Untermenschen” in Konzentrationslagern vergasen zu lassen. Hitler tat dies, so pervertiert dies auch war, aus dem Motiv leidenschaftlicher Liebe für seine absurde Ideologie.
Es ist immer, immer Liebe, die uns motiviert. Was auch immer ein Mensch an Bösem denkt und tut – sein Motiv ist Liebe, obwohl sie sich manchmal auf eine Art äußert, die ihm selbst und anderen Lebewesen Schaden zufügt.
Was nützt es uns, das zu wissen? Ändert das irgendetwas? Aber sicher. Würden wir uns dessen bewusst, dass wir in allem, was wir tun oder nicht tun, Liebe sind, wäre dies der Anfang eines Erkenntnisprozesses, der uns von allen Irrwegen zur ursprünglichen Liebe, der Liebe ohne Objekt, zurückbringen kann.
Denn was verwandelt Liebe in Hass und Grausamkeit? Immer nur ein bestimmtes Objekt unserer Liebe, von dem wir meinen, wir müssten es unbedingt besitzen, um glücklich sein zu können! Wäre unsere Liebe objektfrei, könnte sie sich unmöglich in Hass und Bosheit verwandeln.
Ich liebe meine Heimat! Ich liebe meine Nation! Ich liebe meinen Gott! Ich liebe meine Idee! Ich liebe Geld! Ich liebe Macht! Ich liebe diese Person! Ich liebe die Art, wie ich lebe, wie ich empfinde! Und wenn ich nicht bekomme, was ich liebe, oder wenn das, was ich liebe, von anderen verunglimpft, eingeschränkt, beschädigt oder vereinnahmt wird, dann kämpfe ich, bis ich es (wieder) habe! Selbst wenn ich dabei anderen Menschen Schaden zufügen (oder den Schädel einschlagen) muss!
Liebe ist also, so unglaublich das klingt, der eigentliche Grund für Hass, Eifersucht, Neid, Missgunst und alle Verbrechen auf diesem Globus. Wenn wir nun erkennen könnten, dass es nur die Abhängigkeit von den Objekten unserer Liebe ist, die unsere Liebe pervertiert, verdreht, auf den Kopf stellt, so könnten wir beginnen, den Weg zu beschreiten, der uns nach und nach von der Objektabhängigkeit unserer Liebe befreit.
Nur die Liebe ohne Objekt ist unabhängige Liebe. Die Liebe, die du im Inneren empfindest, wenn du ganz entspannt in dir ruhst. Ehe wir nicht diesen Zustand anstreben, kann es keinen Frieden auf dieser Welt geben. Noch nicht einmal in deiner Partnerschaft, ja noch nicht einmal in dir selbst.
Wenn du sein willst, was du in Wahrheit bist – einfach nur Liebe –, darfst du von keinem Objekt deiner Liebe abhängig sein. Das bedeutet nicht, dass du für kein Objekt (keinen Menschen, kein Tier, kein Ding) mehr Liebe empfindest. Das ist nicht nur unmöglich, sondern wäre auch wenig nützlich und darüber hinaus auch recht fad. Die Abhängigkeit ist das Problem. Um unabhängig zu werden, musst du lernen, die Liebe zu lieben. Die Liebe ohne Objekt. Die Liebe in dir, die du fühlst, wenn du einfach ganz bei dir selbst bist.
Das gelingt, wenn du JETZT, in diesem Moment, einfach – nein, nicht loslässt von allen Objekten. Es ist ein Trugschluss zu glauben, man könnte die Objekte seiner Liebe loslassen. Spüre vielmehr der Liebe in dir selbst nach. Verliebe dich in die Liebe! Sie ist immer da,...
