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Liebe, Leid und Tod

Daseinsdeutung in antiken Mythen

AutorEugen Drewermann
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl768 Seiten
ISBN9783843603485
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Man findet sie in jeder gut sortierten Bibliothek: die Sagen des klassischen Altertums. Sie gehören zur Mitte europäischen Kulturguts. Wem fallen nicht ein paar Brocken zur Schlacht um Troja, zu den Irrfahrten des Odysseus oder zum Liebesdrama von Orpheus und Eurydike ein? Aber worum geht es in den Sagen und Mythen eigentlich? Eugen Drewermann führt uns in diesem Buch mit tiefenpsychologisch geschärftem Blick sicher durch die Enge zwischen Skylla und Charybdis. Er erschließt, warum Liebe, Leid und Tod - drei Konstanten menschlichen Daseins - die beherrschenden Themen in vielen antiken Mythen sind und wie ein tieferes und richtiges Verständnis dieser alten Texte uns heute das Leben besser verstehen lässt.

Dr. Eugen Drewermann arbeitet seit dem Entzug seiner Lehrerlaubnis und Suspension vom Priesteramt als Therapeut und Schriftsteller. Er verfasste über 80 Bücher. Zu seinen Hauptwerken gehört das siebenteilige theologische Grundlagenwerk 'Glauben in Freiheit' sowie die Kommentierung aller vier Evangelien des neuen Testaments.

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Warum antike Mythen?

Tafel 1a: Apollontempel in Delphi

Weil sie, am Anfang abendländischer Kultur, all die Aspekte unseres Daseins abbilden, ausagieren und ausformulieren, die wesentlich dazu gehören, daß wir Menschen sind. Man hat sie einst erzählt, um Rituale zu begründen, um Herrscher einzusetzen oder um Helden zu verehren, auch um Gegebenheiten der Natur – bestimmte Bäume, Blumen, Flüsse, Felsen, Steine, Tiere – in ihrer Herkunft zu «erklären»; doch nur zwei Themen sind derart bedeutend, daß sie zu allen Zeiten Deutungen verlangen: die Liebe und der Tod – und was dazwischen liegt: das Glück und insbesondere das Leid. Deuten ist nicht erklären noch verklären, wohl aber aufzeigen, verdeutlichen, bewußtmachen, zur Stellungnahme nötigen. «Erkenne dich selbst» – es war Apoll, der Gott von Delphi1, der an dem Ort, da er die Riesenschlange Python tötete, diese Verpflichtung jedem auferlegte, der seinen Tempel zu betreten dachte; denn seine Pfeile wirkten beides: Licht, Helligkeit und Wärme, aber auch Krankheit, Schmerz und jähen Tod. Von den Extremen unseres Daseins her gilt es mithin, den Ort zu finden, da das Leben seine Mitte hat. Zeus selbst, so wird erzählt, sandte von den äußersten Rändern der Welt im Osten und Westen zwei Adler aus, und sie trafen sich eben dort, am «Nabel» der Erde. (Vgl. Tafel 1a.) Solch eine Pilgerreise des Geistes zum Zentrum, da die Gegensätze sich einen, sollte unser Leben sein. Was also ist es mit uns zwischen Liebe und Tod?

Gäbe es nur den Sonnenaufgang und den Sonnenuntergang des Phoibos Apollon, so fiele die Antwort noch relativ leicht; doch es gibt auch Oben und Unten, Himmel und Hades, Jubel und Jammer, Aufstieg und Abschied, Ekstase und Neubeginn, – es gibt auch Dionysos, den Gott der rauschhaften Beseligung und des tragischen Erwachens, auch er gehört zu Delphi, wo er während der Wintermonate regiert; und so gilt es, sie beide: Denken und Fühlen, Kultur und Natur, Sollen und Wollen im eigenen Leben zur Einheit zu führen. Es gilt, doch läßt sich befehlen, daß es gelingt?

Notwendig sind die antiken Mythen von Liebe und Tod schon deshalb, weil sie den Menschen weitaus hilfloser zeigen, als ihn Moral und Justiz gerne sähen. Was wird aus der sonnenhellen Klarheit sittlicher Selbstbestimmung, wenn selbst der Gott, der sie verkörpert, Apoll, getroffen von einem der Pfeile des Eros, der Flußnymphe Daphne in unglückseliger Sehnsucht nachstreben muß, ohne sie je zu erreichen? Die Halbgöttin wird, um dem Gott zu entgehen, ihren begehrenswerten Körper abstreifen und sich in einen Lorbeerbaum verwandeln, hat doch Aphrodites Sohn mit einem anderen Pfeil ihr Herz zu Flucht und zu Abwehr verwundet. Man sieht: nicht einmal die Götter und Menschen gehören sich selbst, wenn sie lieben; – Aphrodite nicht, wenn sie nach dem Willen der Unterweltgöttin Persephone in Verlangen erglüht nach Adonis, Eros nicht, wenn er Psyche begehrt (Apuleius – um 125–um 180 – hat daraus eine philosophische Allegorese geformt)2, Zeus nicht, wenn er in immer neuen Verstellungen mit Göttinnen, Nymphen und all den sterblichen Frauen und Männern sich paart. Wie könnten da Menschen in Freiheit verfügen, wohin Liebe sie drängt? Göttliche Kräfte, unendlich stärker als sie, ergreifen von ihnen Besitz. Und wer, wenn es so steht, wollte sie richten? Doch räumt man das ein, ändert sich das ganze Menschenbild. Es ist nicht wahr, daß Menschen «gut» sein könnten, einfach weil sie wollten. Wie aber hilft man ihnen, aus den Widersprüchen ihrer Psyche durch Selbsterkenntnis ihre Einheit zu gewinnen? Das ist die erste wesentliche Frage bei der Lektüre der antiken Mythen.

Ethisch betrachtet, gewiß, dürfte alles das gar nicht sich aufführen, – daß eine Tochter (Myrrha) ihren Vater (Kinyras) liebt, eine Schwester (Byblis) ihren Bruder (Kaunos), eine Ehefrau (wie Phädra) einen weit Jüngeren (Hippolytos) …, und doch, wer all diese Schicksale vor sich sieht, versteht: unwichtig sind vergleichsweise die einzelnen Namen der Göttinnen und der Götter, Nymphen, Heroinen und Heroen, wichtig sind die Gestaltungen und Gestalten der Seele selbst, die in ihnen vor Augen treten. Wohl, derlei sollte nicht sein, doch wenn es geschieht? Gegen den eigenen Willen, im Widerspruch zu sich selbst, in Überwältigung scheinbar unbeherrschbarer Leiden und Leidenschaften? Wenn’s als Ereignis erzählt wird, kann es sich wieder ereignen, und es hilft dagegen nicht der Appell von Verbot und Androhung von Strafe. Selbstverfügung und Autonomie – wie sollten sie möglich sein, solange die Seele des Menschen erscheint als die Szenerie eines göttlichen Bühnenspiels, in dem die Akteure nichts sind als die Schauspielermasken von Kräften, die sie, unbegreifbar den Tragöden selber, durchtönen wie das Evoë des bakchantischen Taumels in den Schluchten des Kithairon?

Auch das zählt zu den Grunderfahrungen der antiken Mythologie: es ist nicht nur unmöglich, es ist lebensgefährlich, die archaischen Antriebe der menschlichen Seele mit den Mitteln eines nur moralisch disziplinierten Willens niederzuhalten. Pentheus, der König von Theben, hat es versucht: er widersetzte sich den dionysischen Ausschweifungen in seiner Stadt, die ihm als weingeborener Wahnsinn, als schamloses Treiben sogar von altersergrauten Greisen und als maßloses Gieren unzüchtiger Jünglinge vorkam, als ein selbstgeschaffenes Delir aus Trance und Tanz und Taumel. Doch läßt der Zeus-Sohn Dionysos sich einkerkern und fesseln? In blinder Raserei zerriß die eigene Mutter (Agaue) den Gegner des Gottes, – sein Widerstand staute nur auf, was er aufhalten wollte, und dann durchbrach es die Dämme … Dionysos als Gott …!

Friedrich Nietzsche (1844–1900) hat dieses «Jenseits von Gut von Böse» beschworen3, dieses tragische Zurückfluten des Willens nach Lust und Lebenssteigerung und Leidenschaft im Übermaß in allem, was wirklich lebendig ist, und er hielt voller Zorn dem Kirchenchristentum entgegen, daß es zugunsten priesterlichen Machtstrebens das Leben selber in Sünde und Schuld verbogen und verlogen habe, – eine «Moral» der Unehrlichkeit und des Ressentiments, des Nicht-sehen-Wollens und Nicht-sehen-Dürfens von allem, was sichtbar wird, sobald man die unheimliche Wahrheit hinter den scheinbar so beruhigenden Formationen der Oberfläche des menschlichen Ich zu ergründen sucht. Indes, «Dionysos» ist gerade nicht schon die Mitte der Welt, er ist das konträre Extrem zu «Apoll»; das «Erkenne dich selbst» aber umfaßt notwendig beide in ihrer Wechselwirkung, in ihrer Bedingtheit und ihrer Ergänzbarkeit. Der arabische Myrrhenbaum – wenn eine Frau schließlich so aussieht, die als Mädchen verliebt war in ihren Vater; die Wasser, in welchen Byblis zu einem Strom aus Tränen zerfließt ob ihrer verbotenen Zuneigung zu ihrem Bruder; der verzweifelte Selbstmord, mit dem die unglückselige Phädra, wo nicht ihr Glück und ihr Leben, so wenigstens doch ihre Ehre zu wahren sucht – und verliert, indem sie fälschlich Hippolyt der Verführung beschuldigt –: verlangen nicht all diese dramatischen Darstellungen menschlichen Unheils in dem mächtigsten und anscheinend nur manchmal glückseligsten aller Gefühle: der Liebe, nach einem Verständnis, das nicht verwirft, und einem Verstehen, das nicht verurteilt? Flehentlich Rufende sind sie alle, diese ungehörigen, unerhört Liebenden; und wie zeitlos gewordene Schatten der Unterwelt warten sie sehnlichst darauf, sich in begreifbaren Worten mitteilen zu dürfen.

Die «Erkenntnis» des Menschlichen, auf die alles ankommt, kann deshalb nur erfolgen als eine Erlösung von den Widersprüchen der Daseinsmächte der Seele, die in der launischen Willkür der olympischen Götter mythisch sich ausspricht. Und das eigentlich ist die Aufgabe, vor welche die Mythen stellen: die Tragik des Lebens nicht länger zu leugnen, doch sie auch nicht in Nachfolge Nietzsches heroisch zu überhöhen ins Übermenschliche, ins Unmenschliche, vielmehr sie im Durcharbeiten ihrer Dynamik aus dem Zwang des Schicksalhaften herauszuführen, die «Person» hinter dem Spiel der Masken und Maskeraden in ihrer Eigenheit wahrzunehmen und ihr zu ihrer Wahrheit zu verhelfen4.

Die großen Gestalten verlorener und sich verlierender Liebe in den Mythen der Antike verlangen bereits durch das Unglück, das sie mit sich führen, nach einer Aufklärung ihres Zustandekommens, sonst bleiben sie – trotz der Erschütterung, die sie in jedem Fühlenden auslösen – im Untergrund der Psyche als Gefahr, als Antrieb, als Verhaltensmöglichkeit weiter präsent. Was da erzählt wird, kann zum Verhängnis eines jeden werden, der nicht zur rechten Zeit jener verdrängten, unheimlichen Seiten seiner Seele sich bewußt wird, die auch und gerade das selbst als ungeheuerlich Empfundene zu motivieren pflegen. Moralische Kontrolle langt nicht aus, und die Gigantenschlacht5 der Götter ist von vornherein verloren, wenn nicht die...

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