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E-Book

Liebe, Sex & Sozialismus

Vom intimen Leben in der DDR

AutorJosie McLellan
VerlagEdition Berolina
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl404 Seiten
ISBN9783958415607
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Liebe, Sex & Sozialismus ist eine faszinierende Auseinandersetzung mit der stillen sexuellen Revolution in der DDR und ihren Grenzen. Auf packende und unterhaltsame Weise zeigt Josie McLellan, dass im Sozialismus die Scheidungsraten Rekordwerte erzielten, Abtreibung eine Normalität wurde und die Rate der außerehelichen Geburten zu den höchsten in ganz Europa zählte. FKK entwickelte sich vom verbannten Außenseiterhobby zum staatlich geförderten Boom, und Erotika wurden zu einer beliebten Tauschware sowohl in der offiziellen Ökonomie als auch auf dem Schwarzmarkt. Die öffentliche Diskussion über Sexualität wurde dennoch strikt kontrolliert, und es gab nur eingeschränkte Möglichkeiten, Grenzen traditioneller Geschlechterrollen oder Sexualnormen zu überschreiten. Das vorliegende Buch über 'die schönste Nebensache der (DDR-)Welt' stellt eine herausragende Studie dar und leistet einen wegweisenden Beitrag zum Verständnis des emotionalen Alltagslebens in der DDR. Es hinterfragt liebgewordene Überzeugungen hinsichtlich der Beziehung zwischen Sexualität, Politik und Gesellschaft und veranschaulicht, dass die Einwohner der DDR trotz Repressionen über ein großes Maß an persönlicher Freiheit und Autonomie im sexuellen Bereich verfügten.

Josie McLellan, Jahrgang 1975, ist Senior Lecturer für Neuere Europäische Geschichte an der University of Bristol. Sie hat in Sussex und Oxford studiert. Zu ihren Veröffentlichungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der DDR gehören Antifascism and Memory in East Germany und Love in the Time of Communism: Intimacy and Sexuality in the GDR, das 2011 mit dem Fraenkel Dissertation Prize ausgezeichnet wurde. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Contemporary European History, die bei der Cambridge University Press erscheint.

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Leseprobe

2.»Ein bisschen Freiheit« –
Sex und Jugendliche

Für die meisten Ostdeutschen war die Jugend die Zeit, während der sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen machten und sexuell aktiv wurden. Es war zugleich häufig eine Zeit gesteigerter Freiheit, da die erste Arbeitsstelle, ein Ausbildungsplatz oder das Studium an der Universität sowohl finanzielle Unabhängigkeit als auch geographische Mobilität mit sich brachten. Für die ältere Generation war die Sexualität der jungen Leute häufig Anlass zur Sorge, rief Ängste wegen unbeabsichtigter Schwangerschaft, Reputationsverlust und unkontrollierten Ausschweifungen hervor. Tatsächlich legten die jüngeren Generationen in der DDR – wie wir noch sehen werden – Werte an den Tag, die von denen ihrer Eltern abwichen, hatten früher ihre ersten Sexualkontakte und wiesen der Ehe weniger Bedeutung zu. Junge Leute waren auch sehr aufgeschlossen gegenüber internationalen Trends der Populärkultur und folgten diesen Vorbildern in Sachen Musik und Mode von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs nur zu gern. Dieses Kapitel beginnt mit der Analyse der staatlichen Haltung diesen jungen Leuten gegenüber, speziell im Hinblick auf ihre Sexualität, insbesondere im Zusammenhang des aufgeschlosseneren Umgangs damit in der Honecker-Ära. Es soll auch die Frage gestellt werden, wie weit die Sexualität der Jugendlichen von staatlicherseits produziertem Material, wie Aufklärungsbüchern, geformt wurde. Schließlich soll auch in den Blick genommen werden, wie die ersten Erfahrungen der Jugendlichen mit Liebe und Sex aussahen, unter besonderer Berücksichtigung der Freiräume für Experimente und Entdeckungen, die sogar im Sozialismus vorhanden waren.

Ein Großteil der Forschung zur Jugend in der DDR konzentriert sich auf den jeweiligen Erfolgsgrad der politischen Indoktrination: einerseits auf die Erziehung und die politischen Jugendorganisationen, andererseits auf die nichtstaatlichen Jugendgruppen. Das ist verständlich, da der Versuch des Staates, eine neue Generation von Sozia­listen heranzuziehen, zu den zentralen Bereichen der DDR-Herrschaft gehörte. Erfolge und Misserfolge auf diesem Gebiet lassen weitreichende Rückschlüsse auf den Einfluss des sozialistischen Projekts auf die Menschen zu. Zu diesen Themengebieten existiert auch ein umfangreicher Bestand an Archivalien. Staatliche Organisationen wie die Freie Deutsche Jugend (FDJ) nahmen es mit der Dokumentation ihrer Aktivitäten sehr genau. Die staatlichen Behörden wiederum waren unermüdlich mit der Erfassung und Bekämpfung nonkonformistischer Jugendströmungen befasst. Infolgedessen wissen wir eine ganze Menge über die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Jugend, aber wenig darüber, wie Teenager und junge Erwachsene ihren Alltag verbrachten, speziell diejenigen, die sich nicht einer Subkultur anschlossen.

Die sexuelle Realität von Jugendlichen war unausweichlich mehr vom Zufall geprägt als ihre Vorbilder und Idealbilder in Büchern und Ratgeberkolumnen. Während die Experten Monogamie sowie Eheschließung und Familienplanung priesen, gehörten auch Saufereien und Promis­kuität zum Erfahrungsschatz Jugendlicher. Ist es jedoch möglich, jenseits der Interessen von Sexualgeschichtlern das alltägliche Sexualleben von Teenagern in der DDR zu rekonstruieren? Oral History kann uns hier bis zu einem gewissen Grad weiterhelfen. Die für das vorliegende Buch geführten Interviews gehören zu den Oral-History-Projekten der Zeit nach 1989. Des Weiteren gibt es eine Reihe relevanter und bisher zu wenig genutzter zeitgenössischer Quellen: Seit den frühen 1970er Jahren führten DDR-Forscher und -Forscherinnen regelmäßig Studien zu sexuellen Erfahrungen und Haltungen zur Sexualität von DDR-Jugendlichen durch. Diese Studien sind unausweichlich von den Ängsten und Vorurteilen derjenigen geprägt, die sie durchführten. Es ist zudem unabweisbar, dass Jugendliche sich genau darüber im Klaren waren, welche Äußerungen zur Sexualität man von ihnen erwartete. Dennoch enthalten diese Studien einiges an vielsagendem und erhellendem Material.

Ebenfalls in der DDR entstanden, aber total verschieden in Tonalität und Zielsetzung, ist eine Reihe von Interviewsammlungen, die in den 1970er und 1980er Jahren unter der Genrebezeichnung »Protokolle« veröffentlicht wurden.1 Der berühmteste und einflussreichste Titel aus dieser Reihe war Maxi Wanders Guten Morgen, du Schöne, publiziert 1977.2 Wander interviewte neunzehn Frauen und Mädchen und erlaubte ihnen, frei über ihr Leben und ihren Kampf mit der Arbeit, Beziehungen, Politik und ihre Familien zu sprechen. Das Buch kam beim DDR-Publikum sehr gut an, und andere wurden inspiriert, das »Protokolle«-Genre auf andere Fokusgruppen anzuwenden: Christine Müller und Christine Lambrecht veröffentlichten eine Reihe männlicher »Protokolle«3, Gabriele Eckart interviewte LPG-Arbeiter in der Havel-Region (nach einem Zusammenstoß mit den DDR-Kulturbehörden wurde ihr Buch in Westdeutschland publiziert)4, und Jürgen Lemkes Interviews mit schwulen Männern erschien 19895. Alle enthielten Interviews mit Teenagern, aber auch ältere Menschen blickten darin auf ihre Jugenderlebnisse zurück.

Keines dieser Interviews sollte als Reinschrift der individuellen Äußerungen angesehen werden. Die Autor*innen ließen ihre Fragen und Einwürfe weg und präsentierten die Aussagen der Interviewten als bearbeiteten Monolog. Im Vorwort zu Guten Morgen, du Schöne (dem literarischsten aller »Protokolle«) erläuterte Christa Wolf, dass diese Texte bearbeitet worden seien. Niemand solle denken, dass man hier eine mechanische Abschrift oder ein Rohmaterial vor sich habe. Maxie Wander habe ausgewählt, gekürzt, zusammengefasst, übertragen, ergänzt, eine bestimmte Tonart gesetzt, komponiert und organisiert – aber niemals gefälscht.6 Generell waren alle »Protokolle« nicht nur durch die Fragen und Einwürfe der Interviewer geprägt sowie die anschließenden herausgeberischen Eingriffe, sondern auch durch die Existenz der Zensur in der DDR.7 Sie sind also bearbeitet, und es ist nicht immer leicht erkennbar, wo die Bearbeitung anfängt und wo sie aufhört. Ob nun jedes Wort authentisch ist, bleibt zu Recht die Frage, dennoch vermitteln die »Protokolle« einen starken Eindruck von den Stimmen der Interviewten und bieten eine Perspektive des DDR-Alltagslebens, die sonst fast nirgendwo gefunden werden kann.

Sex und der Staat

»Wer die Jugend hat, dem gehört die Zukunft«8 – die Herangehensweise der SED im Hinblick auf Jugendliche ähnelte der jesuitischen Maxime: »Gib mir den siebenjährigen Knaben, und ich mache einen Mann aus ihm.« Falls Jugendliche schon früh von den Vorzügen des Sozialismus überzeugt werden könnten, so die Logik, würden sie loyale Bürger bleiben und bereit sein, hart zu arbeiten und sich der Zukunft des Kommunismus zu widmen. Den Jugendlichen die richtigen Dinge über Sex und Beziehungen beizubringen, würde beispielsweise zu dauerhaften Ehen und einem glücklichen Familienleben führen. Beides wäre notwendig, sollten Männer und Frauen zur Arbeitskraft beitragen und Kinder zu selbstbewussten »sozialistischen Persönlichkeiten« erzogen werden.9 Unklar war jedoch, auf welchem Wege Bewusstsein und Loyalität der Jugendlichen gewonnen werden könnten. In der Praxis sah dies so aus, dass die Herangehensweise der SED zwischen ­Zuckerbrot und Peitsche changierte, da die politischen Akteure unentschieden waren, ob Überzeugung oder Zwang die bessere Strategie sei. Diese Wendungen in der Jugendpolitik der DDR waren häufig mit generellen politischen Entwicklungen im Land verbunden. In den 1950er Jahren wurde versucht, sich das Interesse der Jugendlichen für Mode, Geselligkeit und Anbändelung mit dem anderen Geschlecht zunutze zu machen.10 Aber die Staatsbehörden wählten zeitweise auch einen eher strengen und moralistischen Ansatz in der Auseinandersetzung mit dem Interesse der Jugendlichen an amerikanischen Trends wie Jazz und Rock ’n’ Roll, bezeichneten die Fans dieser Musik als »Rowdys« und spielten mit verbreiteten Ängsten vor einer sexuellen und geschlechterspezifischen Entgrenzung.11 Die 1960er Jahre waren von einem ähnlich zwiegespal­tenen Bild geprägt: Auf der einen Seite wurde »Beatmusik« als imperialistische Propaganda geschmäht und ihre Anhänger als unkontrollierbare Staatsfeinde.12 Andererseits bemühten sich einige DDR-Politiker aber auch um einen versöhnenden Ansatz.13

Im Zuge der Errichtung der Berliner Mauer 1961 war das DDR-Regime unter Walter Ulbricht entschlossen, den Nachweis zu erbringen, dass die DDR mit dem Westen mithalten konnte, und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch im Hinblick auf die Lebensqualität und den Lebensstandard. Das Ziel eines modernen, vorwärtsgewandten Sozialismus gewann an Vordringlichkeit und wurde daher auch auf die Jugendpolitik angewendet. Der SED war bewusst, dass eine Generation im Begriff war, heranzuwachsen, die keinerlei Erfahrungen mit Kapitalismus oder Nazismus gemacht hatte und die, wenigstens theoretisch, zu loyalen Sozialisten erzogen werden sollte. Der Umstand, dass die meisten Jugendlichen mehr an westlichem Rock’n’Roll interessiert waren als an den Aktivitäten der sozialistischen Jugendorganisation FDJ legte es nahe, eine neue Herangehensweise zu versuchen.14 Die DDR wollte damit den Eindruck verhindern, dass sie gegen alle Aspekte der Jugendkultur...

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