2. Das Liebeskonzept Duras
«Ce mot [amour] occupe une place prépondérante chez M.D., mais ses livres ne sont, au sens strict, ni des romans, ni des histoires d'amour, plutôt des signes divers d'une perpétuelle présence de l'amour vécu, inventé, parlé ou tu.»[7]
Um das Liebeskonzept von Marguerite Duras verstehen zu können, muss zuerst ihr Geschlechterverständnis eruiert werden. Die Autorin vertritt die Ansicht, dass die Frau eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielt. Sie hat die Fähigkeiten und Charakteristika von Frauen und Männern klar unterschieden:
„Because it is the women who talk, the women who decide. I mean, what appears in my films is the language of women, the action of woman. The men are forced to follow. They do it the best they can, but they lag behind. It's already the beginning of an inverted world.[8]“
Das Zitat zeigt zwei wesentliche Eigenschaften des Duras'schen Liebeskonzeptes. Zum einen finden meist Frauen die Hauptfiguren in Duras' Filmen oder Büchern, zum anderen gibt es, gerade in Duras' Liebeskonzept, viele Oppositionen und Umkehrungen, die sich auch sehr gut an Moderato Cantabile zeigen lassen. Duras' Protagonisten sind fast alle weiblich, Typ „femme enfant“ (L'Amant), „femme fatale“ (Hiroshima mon amour) oder Mutter (Moderato Cantabile). Mit ihnen will die Schriftstellerin die herkömmliche geschlechtsspezifische Denkordnung zerstören. Deswegen führt sie in ihren Werken eine Umkehr der Rollen herbei: Die männliche Ethik soll durch Literatur zerstört werden[9]. Nach Duras haben Frauen eine natürliche, unfreiwillige und unkontrollierbare Stärke, die ihnen allen gemeinsam ist, und die sich von der der Männer unterscheidet. Deren Stärke ist durch Logik und Rationalität geprägt und existiert nicht von Natur aus. Die Kraft der Hauptdarstellerin in L'Amant zeigt sich zum Beispiel in der Kraft ihres Körpers und in ihrem sexuellen Begehren, das sie klar zum Ausdruck bringt.[10] Sie ist eine Frau, die weiß, was sie will, weil dies, nach Duras, intuitiv in Frauen verankert ist. Frauen seien in Kontakt mit sich selbst, aber sie hätten sich ihrer Intelligenz oder Ruhe noch nicht vollends bedient.[11] Sie nennt diese Eigenschaft organische Intelligenz[12], hält sie für angeboren, für natürlich und für ein Zeichen des Einklangs der Frau mit sich und ihrem Körper.
Marguerite Duras sieht in Frauen den Ausgangspunkt jeglicher Beurteilung, Entscheidungsfindung. Sie teilt ihnen die Eigenschaften Kraft, Macht und Mut zu, den Männern hingegen die Autorität, aber auch Feigheit. „Perhaps, before everything else, before being Duras, I am simply - a woman.“[13] Eine Frau, die genauso wie ihre Charaktere gerade ausgeht, ohne vorher darüber nachzudenken, aber auch eine Frau, die sich „natürlich“ benimmt. Unter „natürlichem“ Benehmen versteht die Autorin, anderen gegenüber offen zu sein und die eigenen Gedanken frei auszudrücken zu können. Sie will nicht, dass der Mann als Herr, bzw. Herrscher gesehen wird. Es darf keine Angst vor ihm oder seiner Beurteilung bestehen, sonst kommt die Frau nicht voran. Dieses Geschlechterverständnis illustriert Duras anschaulich in ihren Romanen. Die Protagonistinnen sind in der Lage, ihre Wünsche frei zu äußern und sie bestimmen das Verhalten der Männer. Ihre Protagonistinnen befehlen den Männern, was sie tun sollen. «Déforme-moi en ton image. Déforme-moi jusqu'à la laideur», sagt die Protagonistin in Hiroshima mon amour[14]. Und in L'Amant sagt die fünfzehnjährige Hauptfigur:« Je lui dis de venir, qu'il doit recommencer à me prendre.»[15]. Die Frauen üben eine Macht über die Männer aus, die vor allem durch sexuelle Anziehung zu Stande kommt, wie die beiden Beispiele gezeigt haben.
Mit dieser Lebenseinstellung verbunden und zentral für Duras' Texte und Filme ist ebenfalls, dass ihre Hauptdarstellerinnen gegen eine Gesellschaft, in der ihre Begehren unvereinbar mit der Realität sind, rebellieren.[16] Die Leben von Duras Charakteren haben gemeinsam, dass sie vor der Revolte einem Routinejob gleichen, einer durchschnittlichen Ehe. Sie befinden sich in einem state of attente[17], in dem sie Langeweile verspüren, was schließlich zur Rebellion führt. So rebelliert Anne Desbaresdes in Moderato Cantabile gegen die sozialen Normen, die es ihr verbieten, in das Hafencafé zu gehen – die Protagonistin geht trotzdem hin. Diese Revolte kann auf verschiedene Weisen realisiert werden. Entweder situiert Duras ihre Charaktere vor einer unbekannten, neutralen Kulisse. Dort ist die tägliche Routine schwach, die Protagonisten haben dort keine Wurzeln und sehen die Welt mit anderen Augen, wodurch ein Änderungsprozess leichter hervorgerufen werden kann. Ein weiteres Mittel für die Revolte stellt die Liebe zu einem Kind dar. Die Kinder in Duras' Werken stehen für Unschuld. Sie sollen dem Leser zeigen, dass die Fähigkeit erhalten werden muss, die Welt mit Kinderaugen zu sehen. Kinder lassen sich nicht so schnell unterdrücken und haben ihren eigenen Willen[18]. Die Kinder dienen ihren Müttern in Duras' Werken als Vorbild der Revolte.
Duras zeigt mit ihren Figuren und deren Leben den Zustand einer ennui auf, aus der sie sich befreien wollen. Liebe wird dabei als Rechtfertigung weiblichen Daseins auf Erden gesehen, die Frauen vergehen vor Langeweile und warten, bis sie ein anderer Mann aus ihrem Alltag befreit.[19] Die Hauptdarstellerinnen sind von dem Fremden angezogen, sind fasziniert von dem Abenteuer, von der Enthüllung und erwägen sogar den Ausweg des Todes.[20] Diese Frauen haben etwas gemeinsam: einen Körper, der von einem anderen Hunger geplagt wird, was sich durch ihren „hungrigen Blick“ bemerkbar macht und ihr Begehren offenlegt. «Ce regard immense, famélique, ou d'affamée, de concentrationnaire que rend captif le désir»[21]. Duras' Charaktere erreichen irgendwann einen Punkt, sei es durch Alkohol, durch Musik, Hitze, an dem sie eine unbedachte Handlung begehen, die dazu führt, dass sie ihr bisheriges, unterdrücktes Leben verlassen. Eine solche Aktion kann durch einen Betrug oder durch ein Verbrechen ausgelöst werden[22].
Wichtig für das Verständnis von Duras' Liebeskonzept ist außerdem, dass Liebe in ihren Werken immer etwas mit Widersprüchen zu tun hat. Ein solcher Widerspruch kann in der Opposition von Liebe und Tod bestehen, aber auch in der Raumdarstellung oder in dem Verhalten der Figuren. In Duras' Werk führt das Aufeinandertreffen von Liebe und Tod zu einem unmöglichen Begehren. In Hiroshima mon amour ist der Tod ein Leiden, Absurdität und Grauen. Außerdem handelt es sich bei diesem Werk um die Ablehnung und Dekonstruktion des Liebe-Tod-Mythos[23], da die Hauptdarstellerin den Tod des deutschen Soldaten rückgängig machen würde, wenn sie es könnte, und in diesem Tod nicht die Perfektion ihrer Liebe sieht. Als ihr Geliebter stirbt, ist sie bei ihm, liegt bei ihm, und sogar auf ihm. Dieses Bild taucht oft in Romanen und Filmen von Duras auf.[24] Es ist der Ausdruck einer Liebe, die nach dem Absoluten strebt, die einen Zerstörungswillen besitzt und von einem Wahn (folie) getrieben wird[25]. Zerstörungswille bedeutet, dass die Figuren bereit sind sich selbst zu zerstören, um ihre Liebe oder Leidenschaft im Tod zu vollenden. Leidenschaft konstituiert ein zentrales Motiv, wenn es um Liebe in Duras' Werk geht. «L'amour, c'est la passion ou ce n'est rien.», sagt Duras[26]. Im biblischen Kontext ist die Passion die Qual, die Jesus als Erlöser der Menschheit erleiden musste. Diese Feststellung zeigt einen wichtigen Gesichtspunkt, nämlich, dass Leidenschaft auch immer mit Leiden verbunden ist. Bei Marguerite Duras ist es oft eine passion dévoratrice, eine den anderen verschlingende Leidenschaft[27]. Letztgenannte befindet sich im Mittelpunkt des Duras'schen Liebeskonzepts und die Autorin betont, dass die Leidenschaft zentral im Leben sei: „Si l'on n'est pas passé par l'obligation absolue d'obéir au désir du corps, c'est-à-dire si l'on n'est pas passé par la passion, on ne peut rien faire dans la vie.“[28]
Duras begründet mit ihrem Gesamtwerk eine Mythologie der Leidenschaft[29]. Dabei handelt sich oft um eine unendliche, unsterbliche und absolute Liebe, die sich über Hindernisse hinwegsetzt, wie zum Beispiel eine Trennung oder Distanz.[30] Die Autorin prägt dabei einen weiten Liebesbegriff, der sich nicht nur auf die Beziehung zwischen Mann und Frau beschränkt. Liebe wird in verschiedenen Beziehungen thematisiert. Aurélia Steiner beschreibt eine, allerdings einseitige, Vater-Tochter-Beziehung, während Hiroshima mon amour eine...