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Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners

Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten

AutorGideon Stiening
VerlagDe Gruyter Akademie Forschung
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl776 Seiten
ISBN9783110380248
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis159,95 EUR

Georg Büchner war nicht nur einer der bedeutendsten Literaten und radikalsten Revolutionäre seiner Zeit, er war auch ein vielseitiger Wissenschaftler: Nach einem Studium der Naturgeschichte war er Privatdozent der Philosophie mit Schwerpunkten in der vergleichenden Anatomie und der Philosophiegeschichte. Gideon Stiening unterzieht das umfangreiche Corpus von Büchners wissenschaftlichen Texten einer kontextualisierenden Analyse und setzt es ins Verhältnis zu den politischen Texten und der Dichtung. Die wissensgeschichtliche Perspektive der Studie ermöglicht neben einer grundlegend neuen Sicht auf Büchners politische Theorie im Hessischen Landboten auch innovative Perspektiven auf sein literarisches Werk. Die interdisziplinäre Ausrichtung der Studie erlaubt den Nachweis, dass die philosophischen und wissenschaftlichen Kompetenzen Büchners einen Einfluss auf seine Literatur hatten, der demjenigen seiner politischen Einsichten gleichwertig ist. Stiening gelingt jenseits der tradierten These, nach der die Einheit des Büchner'schen Oeuvres nur von seiner Politik her zu denken sei, eine grundlegende Re-Lektüre von Büchners Werk.



Gideon Stiening, Universität München.

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Leseprobe

1Einleitung: Wissen – Literatur – Gesellschaft


Historiographische Kategorienbildung am Beispiel der wissenschaftlichen, literarischen und politischen Schriften Georg Büchners

Omnis scientia est cognitio certa et evidens.

René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, II, 1.

1.1Naturgeschichte und Literatur: Melville – Balzac – Büchner


In Kapitel 55 des Moby Dick scheint die Geduld Ismaels, des Erzählers, mit den ›Erkenntnissen‹ der zeitgenössischen Naturgeschichte endgültig aufgebraucht. Vordergründig über The Monstrous Pictures of Whales klagend, verschiebt sich die Kritik an den bisherigen Versuchen einer Visualisierung der ebenso riesigen wie unheimlichen Tiere schnell auf »the most conscientious compilations of Natural History«.1 Ohne längere Umwege kommt Ismael auf das anvisierte Ziel seiner kritischen Auseinandersetzung zu sprechen: »the great Cuvier«,2 den bedeutendsten Naturforscher des Jahrhunderts. Gerade weil er diesen Titel keineswegs abstreitet, erreicht die Polemik des Erzählers den Gipfelpunkt der Brillanz und des Witzes:

But the placing of the cap-sheaf to all this blundering business was reserved for the scientific Frederick Cuvier, brother to the famous Baron. In 1836, he published a Natural History of Whales, in which he gives what he calls a picture of the Sperm Whale. Before showing that picture to any Nantucketer, you had best provide for your summary retreat from Nantucket. In a word, Frederick Cuvier’s Sperm Whale is not a Sperm Whale, but a squash. Of course, he never had the benefit of whaling voyage (such men seldom have), but whence he derived that picture, who can tell?3

Schon in Kapitel 32, das zu Recht die szientifische Überschrift Cetologie trägt, hatte der ehemalige Walfänger an der naturwissenschaftlichen Erforschung der Walgattung sowie der naturgeschichtlichen Ordnung ihrer Arten kein gutes Haar gelassen. Es fehle den wissenschaftlichen Versuchen an überzeugenden Kriterien, was ihn allerdings wenig verwundere, mangele es den Herren der Wissenschaft doch an ausreichender Erfahrung. Diese jeder Naturforschung unabdingbare epistemologische und methodische Voraussetzung erhielten sie allerdings nur auf jenen »whaling voyages«, die jedoch »such men seldom have«, wie es im aufgeführten Zitat hieß. Ismael lässt keinen Zweifel daran, dass nur der Praktiker in der Lage sei, für diesen Forschungsgegenstand, den die Wissenschaft als »a field strewn with thorns« charakterisiere,4 angemessene Kriterien zu entwickeln. Daher arbeitet er am Ende des Kapitels zur Cetologie auch einen eigenen Vorschlag aus, der es in der Tat mit den zeitgenössischen Ordnungsschemata aufnehmen konnte.5

Ismael überbietet mit seiner Polemik und der anschließenden Superioritätsgeste die seit Thales topische Häme des gesunden Menschenverstandes gegen die wissenschaftliche Theorie: Hatte Thales das Lachen seiner Magd über sich ergehen lassen müssen, weil er den Anforderungen des Alltags nicht gewachsen schien, so demonstriert der Walfänger Ismael, dass die Naturforschung – selbst die aktuellste und bedeutendste der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – sich aufgrund ihres Erfahrungs- und Praxismangels auf ihrem eigenen Gebiet der Lächerlichkeit preis gibt: ›a squash instead of a whale‹.6

Melvilles lustvolle Polemik gegen die Wissensansprüche der Naturforschung seiner Zeit konstituiert den ganzen Roman auf semantischer und systematischer Ebene. Dabei ist die Naturwissenschaft nur eine unter vielen Reflexionsformen über den Wal und seinen Fang, die der praxisbewehrte Erzähler einer kritischen Überprüfung unterzieht. Die Häme gegen die Naturforschung und ihre Repräsentationsfigur, den ›Baron Cuvier‹, bildet jedoch den Höhepunkt der kritischen Abwehr aller Formen landbewohnender Ahnungslosigkeit. Melville zieht aus dieser Problemlage allerdings nicht den Schluß, dass es die subjektive Unzulänglichkeit der Autoren sei, die einer angemessenen naturwissenschaftlichen, naturrechtlichen, künstlerischen, ingenieurstechnischen, schiffsbaulichen, kulturgeschichtlichen, ethischen oder religionshistorischen Reflexion auf den Wal im Wege stünde. Er betont vielmehr die grundsätzliche Irrationalität dieser Anliegen. Eine exemplarische Funktion für diese Conclusio nehmen die Versuche der bildenden Kunst ein:

For all these reasons, then, any way you may look at it, you must needs conclude that the great Leviathan is that one creature in the world which must remain unpainted to the last. True, one portrait may hit the mark much nearer than another, but none can hit it with any very considerable degree of exactness. So there is no earthly way of finding out precisely what the whale really looks like. And the only mode in which you can derive even a tolerable idea of his living contour, is by going a whaling yourself.7

Auch Melville lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass die Welt des Walfanges einen eigenständigen Mikrokosmos ausbildet, der nicht durch die genannten Reflexionsformen, schon gar nicht durch die Wissenschaft, sondern einzig durch die Literatur in seiner enzyklopädischen Vollständigkeit erfasst werden könne. Nur in diesem Medium sind naturgeschichtliche Ordnungsformen mit Reflexionen auf die religiöse Semantik der weißen Farbe auf dem Buckel des Wales zu verknüpfen; nur in der Reflexionsform des Romans können die Unzulänglichkeiten der Philosophie und der Einzelwissenschaften ebenso wie die der einzelnen Künste und Handwerke überwunden werden, und zwar im Hinblick auf den Nachweis einer geschöpflichen Weltordnung, deren Gründe und Zwecke – und zu letzteren wird der große Leviathan erhoben – unermesslich bleiben.

Melvilles ›romantisches‹ Romankompendium von 1851 ist als einer der letzten ernstzunehmenden Versuche der Weltliteratur zu werten, die sich der im 19. Jahrhundert durchsetzenden wissenschaftlichen Neuordnung der modernen Welt entgegenstemmten. Nicht nur die missglückte zeitgenössische Rezeption,8 sondern auch die konzeptionellen Unzulänglichkeiten9 und kontextuellen Rahmenbedingungen der Publikationszeit des Romans weisen auf den schon brüchigen Status des Versuches hin: Denn seit den 1840er Jahren arbeiteten in Berlin um den Physiologen Johannes Müller mehrere Arbeitsgruppen jüngerer Naturforscher, die in wissenschaftstheoretischer, methodischer und technischer Hinsicht eine Naturwissenschaft entwarfen, die sich von Cuviers Theorie und Praxis der Naturforschung substanziell unterschied und damit das von Melville gezeichnete Bild der Wissenschaften längst hinter sich gelassen hatte.10 Emil Du Bois-Reymond, Jacob Matthias Schleiden sowie Hermann von Helmholtz und Rudolf Virchow in Berlin oder Justus von Liebig in München verhalfen dem experimentell-empirischen, mathematisch-physikalischen Paradigma in Naturwissenschaft und Medizin zu seinem endgültigen Durchbruch.11 Anders als Melville noch 1851 spottete, erwiesen sich diese Forschungen nicht nur als wissenschaftlich innovativ und gegenstandsadäquat selbst auf mikrologischer Ebene,12 sondern zudem als praktisch außerordentlich virulent. Sie unterstützten in unterschiedlicher Weise die Industrialisierung der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft und erwiesen sich – zumindest auch – als jene ›Retter der Menschheit‹, die Liebig und Du Bois-Reymond in ihnen sahen.13 Melvilles Wissen über die Naturwissenschaften ist mithin veraltet. Dieses Urteil der Antiquiertheit des szientifischen Wissensbestandes im Roman gilt im übrigen nicht allein für die Naturwissenschaften, sondern auch für die normativen Geistes- und Sozialwissenschaften.14 Melville bekam allerdings jenen Wandel, der sich in den Wissenschaften ebenso wie in den soziopolitischen und -kulturellen Lebenssphären ereignete und der in Moby Dick nur in Teilbereichen reflektiert wurde, aufs Deutlichste zu spüren. Alle Versuche aber, nach ihm noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Medium der Literatur dem wissenschaftlichen Wissen seine apriorischen Grenzen aufzuzeigen, mündeten in Weltanschauungsliteratur.15 Doch auch szientifische Unternehmungen wie u. a. Haeckels wissenschaftlicher Universalismus, der den Phänomenalismus der empiristischen Naturwissenschaften zu überwinden hoffte, schlugen fehl.16 Wissenschaft und Literatur zogen ihre engen und streng bewachten Grenzen in Geltungsfragen.

Noch 20 Jahre vor der Publikation des Moby Dick sah die Problemlage im Verhältnis zwischen der Literatur und den eine kulturelle Leitfunktion beanspruchenden Natur- und Sozialwissenschaften vollkommen anders aus. Nach dem in der europäischen Kultur beklagten oder gefeierten »Ende der Kunstperiode«, das sich ab 1830 durchsetzte,17 musste die Philosophie ihre paradigmatische Stellung, die sie seit den 1750er Jahren europaweit eingenommen hatte, an die Einzelwissenschaften abtreten und dabei insbesondere an die im weitesten...

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