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Literaturverfilmung und die Grammatik der Transformation

Dargestellt am Beispiel von Franz Kafkas Roman 'Der Proceß' und der filmischen Verarbeitung von Orson Welles 'The Trial'

AutorJasmin Hermann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2004
Seitenanzahl148 Seiten
ISBN9783638271028
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2001 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,0, Freie Universität Berlin (Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften), Sprache: Deutsch, Abstract: Lange Zeit fungierte die Original- oder Werktreue als populär deutsches Ausschließlichkeitskriterium innerhalb eines mit moralisierender Hochkultur-Stimmung aufgeladenen akademischen Diskurses über die Qualität von Literaturverfilmungen. Das Licht des 18. Jahrhunderts hatte seine Schatten weit geworfen. Die Literaturwissenschaft pflegte im Namen ihres Heroen Goethe die Tradition der Hierarchisierung von innerer und äußerer Wahrnehmung und konnotierte das filmische Medium (auch) aufgrund dessen Anschein der Naturnachahmung tendenziell negativ: 'Das Auge mag wohl der klarste Sinn genannt werden, durch den die leichte Überlieferung möglich ist. Aber der innere Sinn ist noch klarer, und zu ihm gelangt die höchste und schnellste Überlieferung durchs Wort; denn dieses ist eigentlich fruchtbringend, wenn das, was wir durchs Auge auffassen, an und für sich fremd und keineswegs so tiefwirkend vor uns steht.' Im Erkennen der künstlerisch-gestalterischen Fähigkeiten des Films in Absetzung zu seinem scheinbar reproduzierenden Wesen blieb der innere Sinn jedoch getrübt: Der Oberflächencharakter des Bildes unterlag der Tiefenwirkung des Wortes. 1912/1913 bedurfte der Film des nobilitierenden Wortes in Gestalt literarischer Vorlagen, um sich endlich als gesellschaftsfähiger Autorenfilm - aller jahrmärktlichen Zuckerwatten- und Bratwurstgerüche entledigt - einzureihen in das Pantheon der Künste (wenn auch nur als 'Siebente Kunst') - die Einschätzung visueller Unzulänglichkeit setzte sich bis in die Mitte der 80er Jahre besonders in der Debatte um das Phänomen von Literaturverfilmungen fort: Der Film sei dem Original treu, weil sich dessen Kunst- und Autonomiestatus noch nicht hinlänglich erwiesen habe. Was jedoch, wenn das literarische Original sich selbst gegenüber nicht treu zu sein vermag? Die öffentliche Meinung hält bis heute unbeirrt an der Borniertheit eines Urteils fest, das das sogenannte 'Gerechtwerden' eines Mediums mit einem anderen in den Mittelpunkt seiner Unmöglichkeit stellt. Die Respektabilität des Konzeptes der 'Original- oder Werktreue' verstellt den Blick auf die Frage: Wem oder was gegenüber kann und soll der Film im Bewußtsein medialer Differenzen treu sein?

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Leseprobe

I. Methodentheorie: Die Grammatik der Transformation


 

1. Zur Analyse von Erzählstrukturen: „Die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit“[56]


 

„Die Unterschiede der Künste bestehen nur hinsichtlich ihrer Mittel, mit denen sie Nachahmungen bewirken. Wie manche mit Farben und Gestalten vielerlei abbildend nachahmen, andere wieder mit Hilfe der Stimme... Immer meinen sie Charaktere, Affekte, Handlungen.“ Peter Rabenalt[57]

 

Die Erzählung erscheint in Universalität. Man findet sie zu allen Zeiten, an allen Orten, in allen Gesellschaften: Sie ist international, transhistorisch, transkulturell. Ihre Formen sind nahezu unendlich, sie manifestieren sich „im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild, der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch.“[58] Es bedarf eines Modelles, das es vermag, Erzählstrukturen unabhängig von ihrem jeweiligen Zeichensystem beschreib- und kategorisierbar zu machen, mittels dessen sie sich „in der gegliederten mündlichen oder geschriebenen Sprache, im stehenden oder bewegten Bild, in der Geste oder im geordneten Zusammenspiel all dieser Substanzen“ realisieren.[59] Die Vielfältigkeit der erzählerischen Form zwingt den Methodiker zu einer deduktiven Vorgehensweise.

 

Für Roland Barthes verkörpert die strukturale Erzählanalyse der Linguistik dieses Modell, wie er in einem 1966 publizierten Aufsatz Einführung in die strukturale Erzählanalyse ausführlich expliziert. Barthes bestimmt als provisorische Skizze im erzählerischen Werk drei Beschreibungsebenen, die durch einen „progressiven Integrationsmodus“[60] verknüpft sind, ihren Sinn nur im Bezug auf die jeweils nächste Ebene erhalten: die Ebene der Funktionen (im Sinne Propps),[61] die Ebene der Handlungen (im Sin-

 

ne Greimas)[62] und die Ebene der Narration (im Sinne Todorovs).[63]

 

Claudia Gladziejewski modifiziert 1998 den Ansatz Barthes‘ in ihrer um ‚mediale Wertfreiheit‘ bemühten Dissertation Dramaturgie der Romanverfilmung, indem sie das Ordnungsgefüge der schon aufgeführten Beschreibungsebenen übernimmt, inhaltlich transformiert und insgesamt zwei Achsen der analytischen Betrachtung unterscheidet. Als horizontale Achse fungieren drei Ebenen. Die Erzählsituation, die bei Barthes noch als Narration weitgefaßt war, beschränkt Gladziejewski auf die Erzählperspektive einer Erzählung, führt in Anlehnung an Franz Stanzel die Grundformen auktoriale, personale und Ich–Erzählsituation an.[64]

 

Die Personen, bei Barthes als Handlungen, nicht, wie Gladziejewski fälschlicherweise angibt, als Funktionen verstanden,[65] bezeichnen die Handlungsträger, Figuren, Charaktere und lassen sich grob in Haupt- und Nebenfiguren einteilen, deren wesentliches Unterscheidungsmerkmal ihre Entwicklungsfähigkeit ist.[66] Gerade im Hinblick auf den filmischen Text jedoch ist es notwendig, die Personen nicht als einen zu analysierenden Nebenaspekt zu begreifen und diese ihren Handlungen unterzuordnen, wie in der klassischen Romananalyse oftmals geschehen, sondern auf die Wichtigkeit der Figur im Film hinzuweisen, indem die Kategorie der Personen eine eigenständige Beschreibungsebene bildet: Figuren sind Inhaltsträger eines Filmes, verkörpern dessen Erzählmodus; das Verhältnis einer Figur zum filmischen Kontext verdeutlicht die Referentialität eines Filmes und seine Adressierung, die Figur wird zum markierenden Element von Fiktion und Nicht-Fiktion; die formale Gestaltung eines Films ist der Präsentation seiner Figuren eingeschrieben; Figuren vermitteln am unmittelbarsten den Schein des Lebens. Die Hauptfigur ist zentral: Sie schafft die Einheit, die die anderen Figuren und ihre Geschichten erst zusammenhält, fädelt sich rot durch den Film, „organisiert das filmische Universum nach logisch–kausalen Prinzipien“[67] und macht so den filmischen Text lesbar. Sowohl auf einer intellektuellen Ebene des Verständnisses, als auch auf einer emotional–physischen Ebene, die der Identifikation oder Implikation dient, beansprucht sie besondere Wichtigkeit.[68]

 

Eine letzte Beschreibungsebene schließlich stellen für Gladziejewski die Handlungen dar. Sind sie bei Barthes als (distributionelle) Funktion beschrieben, differenziert sie noch einmal zwischen Inhalt (was wird erzählt) und Aufbau (die Anordnung dessen, was erzählt wird). Sie verwendet Inhalt und Aufbau synonym für populäre Termini wie Stoff und plot, story und discourse (angelsächsische Literatur), histoire und récit (französischer Strukturalismus).[69] Funktionen der Handlungen, die sich über ihre Aufgabe und ihren Stellenwert innerhalb des Textes definieren, präsentiert Gladziejewski als Subkategorie.

 

Welche Beschreibungsebenen sollen nun in den hier vorliegenden methodischen Versuch zur exemplarischen Analyse einer Literaturverfilmung eingehen? Während die beiden Ebenen Handlungen (Inhalt, Aufbau, Funktionen der Handlungen) und Personen an dieser Stelle überzeugen, offenbart sich die Ebene Erzählsituation als deplaziert, weil sie der Nichttransferierbarkeit und der Medienabhängigkeit unterliegt und in Opposition zum Barthes‘chen Unternehmen der Erfassung von zeichensystemunabhängigen Erzählstrukturen steht. Immer wieder sind zu Unrecht filmische Kamerahandlung und literarische Erzählperspektive gleichgesetzt worden. Zwar ist diese für die Perspektivierung des filmischen Erzählens von Bedeutung, wenn sie auch nicht als das einzige filmische Mittel zur Perspektivierung fungiert, ein direkter Vergleich jedoch entbehrt einer Grundlage. Die Erzählsituation gehört zur zweiten Stufe der Methode, die die Möglichkeiten kinematographischer Adaption und potentieller Äquivalenz analysiert und alle jene herausragenden Elemente der Form beachtet, die der Fokus der angeführten Beschreibungsebenen nicht sichtbar zu machen weiß. Es ist dies eine implizite Kritik an der Ausschließlichkeit der von Gladziejewski aufgerufenen Komponenten: Ihre Methode vernachlässigt in besonderem Maße Fragen der Form, sie ist nicht darauf ausgerichtet, die Besonderheiten einer literarischen Sprache oder Filmsprache, potentielle formale Analogien, adäquat zu erfassen. Doch verfügt eine Literaturverfilmung nicht über größere Potentiale als die der Übernahme oder Transformation von literarischer Hauptperson und Kapitelreihenfolge? Gerade im Vergleich der Wirkungen zweier unterschiedlicher Medien in Form und Sprache liegt die Schwierigkeit der Analyse einer Literaturverfilmung. Gerade im Vergleich der Wirkungen zweier Medien in Form und Sprache liegt ihre Herausforderung.

 

Die von Gladziejewski in Anlehnung an Barthes angeführte zweite vertikale Achse des Analysemodells, das sich wiederum auf drei Ebenen möglicher Bedeutungs- und Rezeptionsebenen (informative, symbolische und emotionale Ebene oder auch Ebene der Denotation, Konnotation und Assoziation) bezieht, findet im weiteren keine Verwendung. Auch das Modell einer Bild-Ton–Koordination, das das Zusammenspiel von Bild und Ton im Film veranschaulichen soll und den Bedeutungsebenen zugeordnet ist,[70] erhält keinen Eingang in die hier darzulegende Methodenannäherung: Nicht nur, daß die Grenzziehungen zwischen den einzelnen Bedeutungsebenen von unklarer Zeichnung sind, wie zum Beipiel ist die Ebene der Assoziation wissenschaftlich zu erfassen, wie trennt sich Symbolisches von Emotionalem, die vertikale Achse ermöglicht keine tiefergehende formale Analyse. Auch Gladziejewski weist ihr einen marginalen Status zu.

 

Der eigentliche Verdienst ihrer Arbeit findet auf der horizontalen Achse statt, auf der sie anhand von vier untersuchten Romanverfilmungen übereinstimmende Strategien bei der Umsetzung von Handlungen, Personen und Erzähltechnik festmacht: Selektion, Auswahl des Ursprungsmaterials, Konzentration, Strukturierung des ausgewählten Materials nach den Gegebenheiten des Mediums Film, Integration, Einarbeitung von außertextuellem Material bzw. von Material, das sich nicht für die direkte Umsetzung eignet, für die Handlung aber als notwendig oder reizvoll erscheint. Ihre Methode ist ein erster, vielleicht zu vorsichtiger Schritt, der in der hier vorliegenden Arbeit seine Spuren in Form der Übernahme analytischer Einheiten wie Handlungen (Inhalt, Aufbau und Funktion der Handlung) und Personen hinterläßt, die sich zu einer eigenständigen Methodenstufe zusammenfassen lassen. Beide Analysekategorien sollen im folgenden näher bestimmt werden.

 

Während diese Analysestufe noch den gedanklichen Angeboten Gladziejewskis (und Barthes‘) folgt, gelten besonders für die zweite und...

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