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E-Book

Loslassen - Wie ich die Welt entdeckte und verzichten lernte

AutorKatharina Finke
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492975889
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Als Katharina Finke nach der Trennung von ihrem langjährigen Freund ihren Mietvertrag kündigt, entschließt sie sich, alles loszulassen, was sie bindet. Sie verschenkt und verkauft beinahe ihren ganzen Besitz und macht das Reisen zu ihrem Alltag. Als moderne Nomadin arbeitet sie rund um den Globus, lebt aus dem Koffer und wohnt auf Ausklappsesseln und in Luxusappartements. Sie lernt, ihren Impulsen zu trauen und ihre Ängste zu erforschen; schätzt die Erfahrungen, die sie unterwegs sammelt, und das intensivere Lebensgefühl, das sie durch die Befreiung von materiellen Dingen verspürt. Sie erlebt, wie radikale Freiheit überglücklich und zutiefst einsam macht. Dies ist ein Buch darüber, was es heißt loszulassen. Und woran es sich lohnt festzuhalten.

Katharina Finke ist Autorin und freie Journalistin. Sie arbeitet für verschiedene Medien und berichtet vor allem über Nachhaltigkeits- und Menschenrechtsthemen von zahlreichen Orten auf der Welt. 2015 erschien ihr erstes Buch »Mit dem Herzen einer Tigerin«, in dem sie sich mit Gewalt gegen Frauen in Indien auseinandersetzt. 2017 folgte bei Malik »Loslassen - Wie ich die Welt entdeckte und verzichten lernte«, darin erzählt sie von ihrem minimalistischen Lebensstil und ihren Reisen rund um den Globus. Katharina Finke lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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Leseprobe

Auf sich allein gestellt


Als ich aus dem Flieger über die Wolken schaute, erinnerte ich mich, wie ich das allererste Mal losgelassen hatte: vor etwa acht Jahren. Damals war ich am Tag nach dem Abiturball zu Hause ausgezogen und hatte meinen Geburtsort Frankfurt am Main verlassen, um in England zu leben. Meine Eltern brachten mich gemeinsam zum Flughafen. Beide hatten Tränen in den Augen. Es fiel ihnen schwer, mich gehen zu lassen.

»Bei uns hast du immer einen Anker, auch wenn du den Betonklotz jetzt mitnimmst«, sagte mein Vater, der ein Fan von Metaphern und Wortwitzen ist und bei diesem Satz auf meinen riesigen Koffer schaute. Meine Mutter runzelte die Stirn und sagte: »Jetzt mal Spaß beiseite, bei uns hast du wirklich immer Halt.«

Als Teenager war ich eine regelrechte Shoppingqueen gewesen. Weil ich auf einen Großteil meiner Lieblingsklamotten nicht verzichten konnte, hatte ich meinen Koffer möglichst vollgestopft. Er ließ sich nur noch schließen, indem ich mich daraufsetzte, das Material gewaltsam zusammendrückte und langsam den Reißverschluss Zentimeter für Zentimeter bewegte. Das war für meine Eltern schwer mit anzusehen gewesen. Nicht weil ich den Koffer so strapazierte, sondern weil sie wussten, dass der Moment, in welchem sie mich zum Flughafen bringen und loslassen mussten, immer näher rückte. Ihnen war das damals viel bewusster als mir. Ich machte mir bloß Sorgen, ob ich für Übergepäck bezahlen musste oder nicht.

»Mit den Behörden in England können wir dir leider nicht helfen«, sagte mein Vater, der sich als Beamter in Deutschland gut mit derartigen Dingen auskannte.

»Tut uns wirklich leid«, fügte meine Mutter hinzu.

Doch das brauchte es nicht. Es war schließlich meine Entscheidung gewesen, nach Bristol zu ziehen und in einer Einrichtung für geistig und körperlich behinderte Kinder zu arbeiten.

Darauf gestoßen war ich durch Arjun, der seit knapp einem Jahr dort war und seinen Zivildienst absolvierte. Nachdem ich ihn öfter in der Küstenstadt an der Grenze zu Wales besucht hatte und mich nicht entscheiden konnte, was ich studieren sollte, folgte ich ihm nun nach Bristol. Auch um meine Englischkenntnisse zu verbessern, die nach meinem Abitur immer noch miserabel waren.

In Frankfurt war ich auf ein altsprachliches Gymnasium gegangen, wo in der fünften Klasse Latein die erste Fremdsprache gewesen war. Englisch kam im Anschluss. Leider wurden meine Lehrerinnen regelmäßig krank, sodass ich Englisch nur rudimentär lernte.

Um das zu ändern, machte ich während meiner Schulzeit zweimal eine dreiwöchige Sprachreise nach Eastbourne. Trotz Extraunterricht verbesserten sich meine Englischkenntnisse nur unwesentlich. Dafür sammelte ich andere Erfahrungen: ohne meine Eltern zu reisen, bei einer fremden Familie zu wohnen, eine andere Kultur kennenzulernen. Es trug sehr zu meiner Eigenständigkeit bei, und ich hatte eine großartige Zeit.

Nun zog es mich wieder auf die andere Seite des Ärmelkanals, allerdings war ich dieses Mal vollkommen auf mich allein gestellt. Ich musste mich selbst um meinen Haushalt und Unterhalt kümmern. Dafür hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Festanstellung angenommen.

Arjun hatte mir ein bisschen von der anthroposophischen Einrichtung erzählt, um mich auf die Arbeit vorzubereiten. Ich wusste, dass in dem Haus, in dem ich arbeiten würde, acht Kinder wohnten und es das neueste von den insgesamt sieben Gebäuden war. Trotzdem war ich gespannt, was mich erwarten würde.

»Herzlich willkommen – wie schön, dass du hier bist!«, begrüßte mich meine Chefin Miss Rose, wobei sie natürlich Englisch sprach. Sie war eine kleine Frau mit kurzen braunen Haaren.

Ich lächelte und begrüßte sie ebenfalls. Dann erklärte sie mir, dass es pro Kind zwei Careworker gebe, die sich mit der Betreuung abwechselten. Ich war für Lara zuständig und übernahm die sogenannte B-Schicht. Das hieß, dass ich Sonntag und Montag frei hatte, Freitag und Samstag den ganzen Tag und ansonsten halbtags arbeiten musste.

»Ziemlich fest eingebunden«, dachte ich.

»Aber keine Sorge, zunächst wirst du deine Vorgängerin begleiten«, beruhigte mich Miss Rose. Nur eins würde ich bei der Arbeit mit Lara sehr benötigen: Geduld.

»Das kann ja was werden!«, dachte ich. Geduld gehörte nämlich noch nie zu meinen Stärken.

Meine Chefin führte mich ins Wohnzimmer. Dort standen zwei Rollstühle. In dem einen saß ein kleines blondes Mädchen, das eine Brille trug und ganz in Pink gekleidet war. In dem anderen saß ein braunhaariger Junge, ebenfalls mit Brille. Ein weiteres Kind wippte auf dem Sofa auf und ab. Daneben saß noch ein Mädchen im Schneidersitz. Es trug eine dunkelblaue Jeans und ein violettes T-Shirt.

»Das ist Lara!«, sagte Miss Rose und führte mich zu ihr. Um sie würde ich mich nun ein Jahr kümmern. Wie stark mich das prägen sollte, war mir damals noch nicht bewusst. Lara würde mich zum ersten Mal dazu bringen, von meinen Gewohnheiten abzurücken.

»Hi Lara!«, sagte ich.

»Sie spricht nicht«, antwortete Abbey, die bislang in der B-Schicht mit Lara gearbeitet hatte. Ich überlegte, ob Lara nicht reden konnte oder nicht reden wollte, traute mich aber nicht nachzufragen. Unterdessen erklärte mir Abbey, dass Lara Epileptikerin war. Wie ich damit umgehen sollte, wusste ich nicht.

Wieder versuchte Miss Rose, mir meine Unsicherheit zu nehmen, und sagte, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte, weil sie mir alles erklären werde. »No worries«, beruhigte sie mich.

Ich setzte mich neben Lara auf einen Sessel. Ihre dunkelblonden mittellangen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Nur der Pony fiel ihr locker ins Gesicht.

Immer wieder nahm sie mit ihren langen, dünnen Fingern akribisch einen Fussel hoch und legte ihn vor sich auf die andere Seite. Mal von rechts nach links, mal von links nach rechts. Ihr Mund war leicht geöffnet, und heraus kam ununterbrochen ein eintöniges Geräusch, das wie ein lang gezogenes Ä klang.

»Hast du noch Fragen?«, wollte Abbey wissen. Und noch bevor ich antworten konnte, gab sie mir Laras Akte und sagte: »Da steht alles drin.«

Irritiert von ihrer Schroffheit brachte ich nur ein »Okay, danke« hervor.

Ich begann zu lesen: Infolge einer Impfung im Alter von sechs Jahren war das Gehirn von Lara stark beschädigt worden. Seitdem hatte sie immer wieder epileptische Anfälle gehabt und galt als Autistin. Sie war siebzehn, nur zwei Jahre jünger als ich, wirkte durch ihren mageren Körper aber deutlich jünger.

»Essen?!«, sagte Abbey auf einmal zu Lara, die nicht von ihrer Beschäftigung aufschaute. Abbey wandte sich an mich: »Möchtest du es mal probieren?«

Ich versuchte mein Glück. »Möchtest du etwas essen?«, fragte ich Lara sehr langsam, wobei ich jedes Wort einzeln betonte. Etwa in demselben zeitlupenartigen Tempo, in dem Lara den Fussel bewegte. Auf einmal schaute sie mich mit ihren braunen Augen an. Das überraschte meine Vorgängerin Abbey. Sie erklärte mir, dass Lara das bei Fremden sonst nicht tat.

»Sie scheint dich zu mögen!«, sagte sie, und ich freute mich darüber und lächelte.

Motiviert, aber nach wie vor etwas verunsichert, folgte ich Abbeys Anweisungen und nahm Laras Hand. Sie stampfte mit den Füßen so fest auf den Holzfußboden, dass es laut knallte. Das war ihr Ausdruck der Freude, erklärte mir Abbey. Währenddessen hielt ich immer noch ihre Hand. Abbey hatte mir erklärt, dass Lara unsicher sei und etwas Unterstützung brauche. »Genau wie ich«, dachte ich, »nur auf eine andere Art und Weise.«

Vielleicht vollführte sie deshalb auch alle Bewegungen in Zeitlupe: Fusselaufheben, Laufen mit gebeugten Knien, am Tisch Platznehmen, zu dem wir inzwischen geschritten waren. Und auch das Essen selbst. Abbey hatte ihr einen Löffel in die Hand gedrückt, den sie im Schneckentempo zum Teller und anschließend zu ihrem Mund führte. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen – ganz im Gegensatz zu mir. Ich wurde nervös und hektisch, weil ich mich nicht nur unsicher, sondern auch unwohl fühlte.

Ich saß neben Lara und konnte nicht essen. Zu viele ungewohnte Eindrücke. Ein kleiner Junge flippte permanent an einem grünen Plastikstrohhalm herum, ein anderer klopfte pausenlos mit seinem Löffel auf den Holztisch, und ein Mädchen sagte beharrlich »Hallo« zu mir.

Innerlich zerrissen mich die vielen Geräusche. Ich begann daran zu zweifeln, ob es eine gute Idee gewesen war, mich in ein so ungewohntes Umfeld zu begeben. Ein Gedanke bei der Entscheidung, mit Kindern zu arbeiten, war gewesen, dass ich einmal selbst Kinder haben und mich testen wollte, ob ich auch mit Extremsituationen umgehen könnte. In diesem Augenblick war meine Antwort: »Auf keinen Fall.«

Als mich Arjun nach Feierabend in meinem Zimmer besuchte und ich ihm von meinem Tag erzählte, versuchte er, mich zu beruhigen: »So geht es doch anfangs allen hier.«

Das ungewohnte Gefühl blieb erst einmal. Nicht nur bei der Arbeit, sondern auch in meinem neuen Zuhause, das nur fünf Gehminuten entfernt und auf dem Gelände der Einrichtung lag. Dort wohnten außer mir noch fünfzehn andere Betreuer und Betreuerinnen. Sie waren entweder festangestellt oder absolvierten ihren Zivildienst wie Arjun, der in einem anderen Betreuerhaus wohnte, oder sie machten ein freiwilliges soziales Jahr. Das hatte ich für mich auch überlegt, es wäre finanziell aber noch schwieriger geworden. Denn ich musste selbst für mich sorgen. Meine Eltern hatten mir lediglich zweihundert britische Pfund für...

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