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E-Book

Ludwig Thoma

Ein erdichtetes Leben

AutorMartin A. Klaus
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783423430753
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ludwig Thoma in neuem Licht >Der Münchner im Himmel<, die >Lausbubengeschichten<, >Die Heilige Nacht<: Lange Zeit war Ludwig Thoma einer der beliebtesten bayerischen Schriftsteller. Erst Ende der 1980er Jahre, als bekannt wurde, dass der linksliberale Satiriker in seinen letzten Lebensjahren zum rechtsradikalen Polemiker geworden war, hat seine Popularität nachgelassen. Kurz nach seinem 50. Geburtstag 1917 begann Thoma seine Erinnerungen aufzuschreiben. Sein Leben lag in Scherben, beruflich und privat. Er flüchtete in eine geschönte Vergangenheit, erschrieb sich eine Herkunft aus geordneten Verhältnissen, die in einem augenfälligen Kontrast zur Realität steht. Martin A. Klaus, der sich seit vielen Jahren mit Leben und Werk Thomas beschäftigt, legt diese Diskrepanz offen und schafft ein geradezu psychoanalytisch gefärbtes Bild des Schriftstellers, das es in der Form noch nicht gegeben hat.

Martin A. Klaus, geboren 1938 in Bernau am Chiemsee, studierte in München Kommunikationswissenschaften und war rund vierzig Jahre lang als Redakteur und danach als Autor für die >Süddeutsche Zeitung tätig. Dort baute er die Lokalredaktion Dachau auf und leitete diese achtzehn Jahre lang, ehe er in die Hauptredaktion zurückkehrte. Daneben verfasste Martin A. Klaus eine Biographie des im Raum Dachau beheimateten Räubers Mathias Kneissl. Außerdem erschienen von ihm in der >Süddeutschen Zeitung Edition< die Wanderbücher >Jennerwein und der schöne Toni< und >Unterwegs im Bayerischen Wald<. Klaus verfasste zwei Theaterstücke in bayerischer Mundart.

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Leseprobe

Erinnerungen


Kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag griff Ludwig Thoma Anfang 1917 zum Papier und verbreitete seine Lebenslüge. Der Zeitpunkt für seine ›Erinnerungen‹ war nicht zufällig gewählt. Sein Leben lag in Scherben. Nun wollte er den Ludwig Thoma wiederbeleben, der über viele Jahre so populär gewesen war. Dass er dafür literarische Mittel wählte, war naheliegend. Denn schon dieser »alte Ludwig«, den er den Lesern und der Welt so lange präsentiert hatte, war eine Kunstfigur, die mit der Realität wenig zu tun hatte.

Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Darstellung seiner Herkunftsfamilie. Thoma erdichtete ein Leben, das in einem augenfälligen Kontrast stand zur eigentlichen Familiensituation und vor allem auch zu seiner Rolle innerhalb dieser Familie. Hier wollte er ansetzen, um mit Beschönigungen und dreisten Lügen die Grundlage zu schaffen für einen Neubeginn auf beruflicher wie privater Ebene. Die ›Erinnerungen‹ gerieten auf diese Weise zu einem besonders phantasievollen Werk, das über sein wahres Leben, vom zeitlichen Gerüst abgesehen, wenig Zutreffendes berichtet. Wer dem wirklichen Ludwig Thoma näherkommen will, entdeckt jedoch erstaunliche Wahrheiten in seinen Romanen, Theaterstücken und Erzählungen, sobald er bei der Lektüre Thomas konkrete Lebenssituation zur Zeit der jeweiligen Niederschrift mitliest.

 

1917 gab es einen einschneidenden Bruch in seinem Leben. Die zwei Jahrzehnte währende enge Bindung an den ›Simplicissimus‹ mündete in heftige Differenzen, die ihn nur noch näher an Alfred von Tirpitz’ stramm rechte Deutsche Vaterlandspartei banden. Schon 1914 hatte er eine Krise in der ›Simplicissimus‹-Redaktion ausgelöst, als er einige der Kollegen mit seiner geradezu hysterischen Kriegsbegeisterung und danach mit seiner Meldung zum Militär heftig vor den Kopf stieß. Als er im Spätherbst 1915 gesundheitlich schwer angeschlagen von der Ostfront heimkehrte, wurde er in der Redaktion mit Ablehnung und Spott empfangen. Viele Kollegen hielten den Krieg für einen fatalen Fehler, Thoma hingegen war siegesgewiss bis zum bitteren Ende.

Zur selben Zeit wie mit den ›Erinnerungen‹ beginnt Thoma mit seiner Sommergeschichte ›Altaich‹. ›Altaich‹ sollte die Leser für ein paar Stunden aus der immer kritischeren Kriegslage entführen und die zunehmend schwierigere Versorgungssituation der deutschen Bevölkerung vergessen lassen (im Zweiten Weltkrieg wurde derlei Unterhaltung von Goebbels als »moralische Aufrüstung« gefordert und gefördert). Thoma setzte damit seine Realitätsflucht in eine Idylle fort, die genau ein Jahr zuvor mit der ›Heiligen Nacht‹ begonnen hatte und mit dem biedermeierlich-biederen ›Alten Feinschmecker‹ fortgeführt wurde. Gleichzeitig gab der Autor, wie er dies zeitlebens so gerne tat, ein paar unliebsame Zeitgenossen mit deftigen Seitenhieben der Lächerlichkeit preis.

Die ›Erinnerungen‹ setzen unvermittelt ein wie ein Lebenslauf, der zuerst einmal die Herkunft klärt, wobei schon am Anfang Thomas Unsicherheit darüber, was eigentlich entstehen soll, spürbar ist. Und ebenso häufig wie die Intention, die dahinterstand, wechselt auch der Ton.

Auf den ersten Seiten prägt ein idyllischer Ton seine frühen Erinnerungen an die Vorderriß. Aus Richtung Tirol erstreckte sich ein von den nördlichen Karwendelgipfeln gesäumtes Tal den Rißbach entlang. Tief unter dem Forsthaus, das heute noch an derselben Stelle steht, exakt am Schnittpunkt dreier Täler, hatte er ein breites Bett gegraben, das er zur Zeit der Schneeschmelze im Frühjahr füllte. Viel Wasser drängte da zur Isar, die aus dem westlichen Karwendel einen ansehnlichen Strom heranführte. Die ungemein beeindruckenden Flusslandschaften zeugen von der einstigen Gewalt der beiden Gewässer. Heute sind sie gebändigt und speisen auf einem von Menschenhand geschaffenen Umweg über den Walchensee ein Kraftwerk.

Die zu Thomas Kinderzeit noch ausgesprochen urtümliche Landschaft lieferte der Phantasie eines intelligenten, lebhaften, überdies erstaunlich genau beobachtenden Buben eine Fülle von Anregungen. Sie finden später immer von neuem ihren Niederschlag in Romanen, Erzählungen und vor allem auch in seinem so ungemein umfänglichen und weit gestreuten Briefverkehr. Auffallend häufig spricht aus diesen Zeilen der Schmerz eines Mannes, der nach dem frühen Wegzug aus der Vorderriß nie mehr eine Heimat und vor allem nie wieder eine dauerhaft wärmende Einbettung in einen Familienverbund fand.

Dabei war die einzige wirkliche Bindung, die Ludwig bis in die Mannesjahre zuverlässigen Rückhalt gewährte, jene zu seinem einstigen Kindermädchen Viktoria Pröbstl, von den Kindern »alte Viktor« genannt. Sie war Trost, Schutz und Vertraute. Als sie ihm durch den Tod genommen wurde, unternahm er, der Frauen bis dahin nur als sexuellen Zeitvertreib gesehen hatte, mehrere Anläufe, in einer Ehefrau Ersatz für sie zu finden. Dass er damit scheiterte, lag an dem falschen Bild, das er den Frauen von sich präsentierte und das nicht mit der Realität in Einklang zu bringen war. Enttäuschungen waren die unvermeidliche Folge.

Bei Viktor war das anders gewesen. Sie wusste um all die fatalen Wahrheiten, aus denen sich Ludwig Thoma regelmäßig herauslog, und um die damit verbundenen schmerzhaften Schwachpunkte ihres Schützlings und schwieg getreulich, wenn er wieder ungeniert drauflosschwadronierte und Lügen auftischte. Nur ein einziges Mal protestierte sie. Da bezog sich ihre Kritik auf die wohl ohnedies nur leicht übertriebene positive Darstellung der Figur der Gertraud in den ›Witwen‹, die ihr nachgezeichnet war.

Berichtete er von sich, erdichtete Thoma ein Leben, das dem Leser bestimmte Bilder vorgaukeln und Mitgefühl wecken sollte: Er sollte glauben, Thoma entstamme einer ordentlichen Familie mit liebevollen Eltern, mit denen es das Schicksal nicht gut gemeint hatte.

In Wahrheit war in Thomas Familie und Leben kaum etwas in Ordnung. Der Druck, dem er schon in seiner frühen Kindheit ausgesetzt war und der ihn nie wirklich Kind sein ließ, wird in seinen Werken spürbar. Nach seinem Tod entdeckte man Knallerbsen und andere Feuerwerkskörper in seinen Schreibtischschubladen – Hinweis auf eine lebenslange Freude an kindlichen Späßen, für die der allzu ausgeprägte mütterliche Ehrgeiz kein Verständnis hatte.

Das beharrliche Streben der Katharina Thoma, den Lebensweg ihres Kindes Ludwig zu bestimmen, begann bereits vor dessen Geburt. Vier Kinder der Familie wurden während der siebzehn Vorderrisser Dienstjahre, in denen der Vater Max Thoma als königlicher Oberförster tätig war, geboren. Drei kamen im nahegelegenen Lenggries zur Welt. Die einzige Ausnahme von dieser »Regel« bildete Ludwig. Obwohl er sich ausgerechnet für den Januar ankündigte, nahm Katharina Thoma, hochschwanger, den gerade im Winter höchst beschwerlichen, zudem auch noch lawinengefährdeten Weg ins heimatliche Oberammergau in Kauf – zu jener Zeit eine halbe Weltreise. Häufig genug schnitten die Schneemassen das Forsthaus so sehr von der Außenwelt ab, dass es nur noch auf Schneeschuhen erreichbar war. Das hielt Katharina Thoma nicht von ihrem Vorhaben ab. Ihr am 21. Januar 1867 geborener Sohn sollte unbedingt gleich nach der Geburt von ihrem verehrten Religionslehrer, dem Geistlichen Rat Joseph Aloys Daisenberger, das Sakrament der Taufe empfangen. Davon erhoffte sie sich eine entscheidende Weichenstellung für das Leben des Neugeborenen.

Dieser Wunsch entsprang einem schmerzhaften Erleben. Ein gutes Jahr vorher, am 5. Dezember 1865, war sie von ihrem dritten Sohn Franz entbunden worden. Er wurde nur drei Wochen alt. Kein Wunder also, dass die tiefgläubige Mutter ihr nächstes Kind dem lieben Gott besonders ans Herz legen wollte. Der Segen des Geistlichen Rats sollte ihm den richtigen Weg weisen. Was notwendig würde, um ihn aufs Gymnasium und schließlich zu den geistlichen Weihen zu bringen – eine Vorstellung, die Ludwig Thoma von Anfang an zutiefst widerstrebte –, das wollte die Mutter selbst besorgen. Die sonst so sparsame Frau scheute in dieser Hinsicht keine Kosten: Eine Hauslehrerin wurde angestellt, der kleine Ludwig musste schon vor der Einschulung Lesen und Schreiben erlernen und wurde vorzeitig in der lateinischen Sprache gedrillt, so dass er die erste Lateinklasse überspringen durfte.

Mit solchen Aktivitäten wurde gleichzeitig die Grundlage für die spätere Auseinandersetzung um Ludwigs Schulleistungen geschaffen, hatte die Mutter »doch alles getan«, um dem Kind den Weg zum Abitur zu ebnen. Allerdings hatte sie für Ludwig lediglich in puncto Ausbildung »alles getan«. Emotional blieb er vernachlässigt. Am Ende war die Beziehung zwischen den beiden tief zerrüttet, der Sohn wurde für alle Misshelligkeiten der Familie verantwortlich gemacht. Briefstellen verweisen auf solche Vorhaltungen. Sogar in den so heiter angelegten ›Lausbubengeschichten‹ bleibt dieses Thema nicht ausgespart.

Die einzige Motivation zu lernen bildete für Ludwig die Bewunderung, die ihm die Jäger wegen seiner Fertigkeit im Lesen und Schreiben entgegenbrachten, ihn gar für ein Genie hielten. Nicht auszuschließen, dass dies zu seinen späteren Phasen der Selbstüberschätzung beitrug.

 

Der kleine Ludwig schloss sich früh dem Vater an, der von den Absichten seiner Frau nie sonderlich begeistert war, und blieb eifrig bestrebt, sich nach dem Bild zu entwickeln, das dieser von einem »richtigen Buben« hatte. Max Thoma war nach den damaligen Wertmaßstäben selbst »ein...

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