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E-Book

Lust und Freiheit

Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution

AutorFaramerz Dabhoiwala
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl512 Seiten
ISBN9783608106756
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Wir leben in einer Zeit der sexuellen Freiheit und Selbstbestimmung. Unsere modernen Vorstellungen von Sexualität sind das Ergebnis eines tiefgreifenden historischen Wandels. In seinem glänzend geschriebenen und weltweit vielbeachteten Buch erzählt und deutet Faramerz Dabhoiwala die Geschichte der Sexualität neu. Quellenstark und unterhaltsam beschreibt der Autor, wie sich der Umgang mit dem eigenen Körper, mit Lust und Leidenschaft aufgrund neuer revolutionärer Ideen bereits im Jahrhundert der Aufklärung radikal wandelte. Es ist die Geschichte von zahllosen bisher von der Geschichtsschreibung unbeachteten Männern und Frauen, von Werken der Kunst, Literatur und der Philosophie und ihrem prägenden Einfluss auf die moderne Welt.

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Leseprobe

Prolog
DIE KULTUR DER DISZIPLIN


Wir könnten an einem beliebigen Ort auf den britischen Inseln beginnen, zu einem beliebigen Zeitpunkt von den Anfängen der Geschichtsschreibung bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Doch wir wollen uns für Westminster am Ufer der Themse entscheiden. Wir schreiben Dienstag, den 10. März 1612. Wenn wir uns beeilen, können wir im Gerichtsgebäude der Ortschaft noch die Richter bei der Verhandlung einer gewöhnlichen Strafsache antreffen. Ein Mann und eine Frau, nicht miteinander verheiratet, wurden verhaftet und vorgeführt. Sie werden angeklagt, miteinander Sexualverkehr gehabt zu haben. Die Frau gesteht. Der Mann leugnet. Das Gericht braucht nicht lange, um über ihr Schicksal zu entscheiden. Sie werden vor einer Jury aus männlichen Geschworenen angeklagt, befragt und schuldig befunden. In der Strafe kommt die »Abscheulichkeit« ihres Verbrechens zum Ausdruck: Sie hatten nicht nur Geschlechtsverkehr miteinander gehabt, sondern auch ein uneheliches Kind gezeugt. Dafür nimmt man Susan Perry und Robert Watson ihr Zuhause, ihre Freunde, ihre Familien, ihren Lebensunterhalt – und stößt sie auf immer aus der Gemeinschaft aus, in der sie lebten. Die Richter ordneten an,

sie direkt ins Gatehouse-Gefängnis zu schaffen, beide von den Hüften aufwärts zu entkleiden und sie, dergestalt hinter den Karren gebunden, vom Gatehouse in Westminster bis Temple Bar auszupeitschen. Dort seien sie dann augenblicklich aus der Stadt zu verbannen.

Was mit ihrem Kind geschah, ist nicht überliefert.1 Sexualverkehr ist eine universelle menschliche Praxis. Trotzdem hat die Sexualität auch eine Geschichte. Wie wir über sie denken, welche Bedeutungen wir ihr zuschreiben, wie wir als Gesellschaft mit ihr umgehen – alle diese Dinge unterscheiden sich erheblich je nach Zeit und Ort. Über weite Strecken der abendländischen Geschichte war die öffentliche Bestrafung von Männern und Frauen wie Robert Watson und Susan Perry der Normalfall. Manchmal wurden sie strenger behandelt, manchmal milder, aber jede sexuelle Betätigung außerhalb der Ehe war streng verboten, weshalb Kirche, Staat und Allgemeinheit große Anstrengungen unternahmen, sie zu unterdrücken und zu bestrafen. Es galt als selbstverständlich, dass verbotene Beziehungen Gott erzürnten, für das Seelenheil verderblich waren, persönlichen Beziehungen schadeten und die Gesellschaftsordnung untergruben. Ernsthaft bestritt das niemand, obwohl Männer und Frauen regelmäßig der Versuchung erlagen, woraufhin sie ausgepeitscht, in den Kerker geworfen, mit Geldstrafen belegt oder der öffentlichen Schande preisgegeben wurden, um sie zur Ordnung zu rufen. Im Einzelnen unterschieden sich die Maßnahmen zwar von Ort zu Ort, doch alle europäischen Gesellschaften vertraten das Ideal sexueller Disziplin und bestraften ihre Mitglieder für einvernehmlichen außerehelichen Geschlechtsverkehr. Nicht anders verhielt es sich in ihren kolonialen Ablegern, in Nordamerika und anderswo. Das war ein zentrales Merkmal der christlichen Kultur, das seit dem frühen Mittelalter ständig an Bedeutung gewonnen hatte. Allein in Großbritannien – aber nicht nur dort – mussten Anfang des 17. Jahrhunderts jedes Jahr Tausende von Männern und Frauen die Folgen ertragen. Wie wir sehen werden, hat man sie manchmal sogar hingerichtet.

Heute betrachten wir solche Praktiken mit Widerwillen. Wir fühlen uns an die Taliban erinnert, die Scharia, an Menschen, die fern von uns leben und befremdliche Weltanschauungen vertreten. Doch bis zur Aufklärung verfuhr man in unserer Kultur nicht anders. Das ist einer der Hauptunterschiede zwischen der vormodernen und modernen Welt. Daher war die Entstehung moderner Einstellungen zur Sexualität Ende des 17. und im 18. Jahrhundert eine tiefgreifende Umwälzung. In diesem Buch soll erklärt werden, wie sie zustande kam.

Das Thema ist von immenser Bedeutung, wurde aber noch nie untersucht – ja, seine Existenz wird kaum zur Kenntnis genommen. Vor mehr als dreißig Jahren erkannten Sir Keith Thomas und der verstorbene Lawrence Stone, die ersten bedeutenden britischen Historiker auf diesem Gebiet, dass die Periode zwischen 1660 und 1800 eine wichtige Zeitenwende darstellte, »einen weitreichenden säkularen Wandel der sexuellen Einstellungen und Verhaltensweisen«, die Geburt des modernen Bewusstseins. Doch ihre Ursprünge werden nicht erklärt. Seither hat die Geschichte der Sexualität, obwohl sie sich immer größerer Beliebtheit erfreut, eine zunehmende Spezialisierung erfahren. Akademische Historiker besitzen heute beeindruckende Kenntnisse über frühere Ideale der Femininität und Maskulinität, über Einstellungen zum Körper und andere sehr spezielle Themen. Einige Autoren sind von der eingehenden Erforschung einzelner Texte und Ideen fasziniert. Andere beschränken sich auf ein oder zwei Individuen und deren sexuelle Erfahrungen. Dieser weitgehenden Konzentration auf die »Bäume«, statt auf den »Wald« verdanken wir eine Fülle von brillanten Tiefenstudien und theoretischen Einsichten. Ich habe in hohem Maß von diesen Arbeiten profitiert und sie dankbar zu Rate gezogen. Doch mir scheint auch, dass sie den grundlegenden kulturellen Wandel übersehen, der für frühere, kühnere Forscher so offensichtlich war.2

Ich möchte im vorliegenden Buch diesen zentralen Umbruch beschreiben und ihn mit den großen politischen, geistigen und sozialen Tendenzen der Zeit verknüpfen. Gewöhnlich wird die Geschichte der Sexualität als Teil der Geschichte des Privatlebens oder der Körpererfahrung behandelt. Doch die sind ihrerseits eine Folge jener Aufklärung, die Sexualität als eine weitgehend persönliche Angelegenheit begreift. Mir dagegen geht es nicht in erster Linie darum, in die Schlafzimmer und unter die Betttücher der Vergangenheit zu blicken. Ich möchte zeigen, dass die Sexualität früher ein zentrales Anliegen der Öffentlichkeit war, und nachweisen, dass die Art und Weise, wie die Menschen über sie dachten und mit ihr umgingen, von den maßgeblichen geistigen und gesellschaftlichen Strömungen ihrer Zeit geprägt waren. Der Bürgerkrieg und die Hinrichtung Karls I. im Jahr 1649, die Revolution von 1688, die sich vertiefende religiöse Spaltung, das Wachstum der städtischen Gesellschaft und der Aufstieg des Romans – all diese und viele weitere Entwicklungen waren verflochten mit tiefgreifenden Veränderungen der sexuellen Kultur, die sich im Lauf des 17. und 18. Jahrhunderts vollzogen. Tatsächlich möchte ich vor allem zeigen, dass die sexuelle Revolution ein entscheidender Aspekt der europäischen und amerikanischen Aufklärung war: Dank ihrer konnte ein vollkommen neues Modell der westlichen Zivilisation geschaffen werden, dessen Grundsätze der individuellen Privatheit, Gleichheit und Freiheit bis auf den heutigen Tag gültig sind.

Im Vergleich zur Aufklärung in Frankreich, Deutschland oder Italien machte diejenige in der englischsprachigen Welt so wenig Aufhebens von sich, dass Historiker erstaunlicherweise noch immer darüber streiten, ob sie überhaupt stattgefunden hat. Dieses Buch geht von einem umfassenderen Aufklärungsbegriff aus – nicht von einigen um sich selbst kreisenden philosophischen Debatten unter Intellektuellen, sondern von einer Reihe gesamtgesellschaftlicher sozialer und geistiger Veränderungen, die die Vorstellungen fast aller Menschen über Religion, Wahrheit, Natur und Moral veränderten. Die sexuelle Revolution beweist, wie weitreichend und wie rasch sich aufgeklärte Denkweisen ausbreiteten und wie nachhaltig sie sich auf öffentliche Einstellungen und Verhaltensweisen auswirkten.

Was nicht heißen soll, dass sie alle Menschen gleichermaßen oder positiv beeinflusst hätten. Obwohl das Ideal einvernehmlicher sexueller Freiheit auf lange Sicht mehrheitlich akzeptiert wurde, profitierte davon kurzfristig – wie von anderen ähnlichen Freiheiten – vor allem eine Minderheit weißer, heterosexueller, wohlhabender Männer. Ich habe versucht, auf einige besonders offensichtliche Widersprüche und Ungleichheiten hinzuweisen, die sich besonders für Frauen ergaben. Meine Analyse wird hoffentlich andere Forscher anregen, ihren vielfältigen Konsequenzen nachzugehen: für Frauen und Männer, für gleichgeschlechtliche Beziehungen und für verschiedene soziale Schichten und Gruppen, sowie in anderen westlichen Gesellschaften.

In diesem Buch geht es nicht nur um neue Denkweisen, sondern auch um veränderte Lebensweisen. Ich versuche zu zeigen, wie die Überzeugungen der Menschen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflusst wurden und wie neue Formen des Handels, der Kommunikation und der sozialen Organisation die Wahrnehmung – und Erfahrung – der Sexualität verwandelten. Traditionell lebte der größte Teil der Bevölkerung in kleinen, beschaulichen Landgemeinden, in denen sich gesellschaftliche und moralische Konformität leicht durchsetzen ließ. Anders war das Leben in den Großstädten mit ihrer Fülle und Anonymität, der immer rascheren Zirkulation von Nachrichten und Ideen und der leichten Verfügbarkeit sexueller Abenteuer. Hier bereitete die Durchsetzung sexueller Disziplin wachsende Probleme. Zuerst und vor allem wurden diese Veränderungen in London spürbar, weshalb wir dieser Stadt besondere Aufmerksamkeit schenken wollen.

In dem betrachteten Zeitraum entwickelte sich London zur größten Metropole der Welt. Für die englischsprachige Bevölkerung auf der ganzen Erde war es das Epizentrum der politischen Macht, der Literatur und Kultur und neuer Ideen. Moderne urbane Lebensstile und Einstellungen, neue soziale, geistige und sexuelle Tendenzen – alles wurde zuerst dort entwickelt, machte seinen Einfluss aber überall geltend. Was in London geschah, hatte...

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