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Lynchjustiz in den USA

AutorManfred Berg
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl275 Seiten
ISBN9783868546200
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Lynchjustiz - bis heute verbunden mit Rassismus, Terror und Gewalt, mit dem berüchtigten Ku-Klux-Klan und dem amerikanischen Süden - kostete im Lauf der amerikanischen Geschichte Zehntausende Menschen das Leben. Im Namen der 'Gerechtigkeit', der 'Selbstverteidigung des Volkes' und der 'Vorherrschaft der weißen Rasse' wurden Menschen geteert und gefedert, gefoltert, gehängt oder verbrannt. Mehr oder weniger organisierte Gruppen, die den Anspruch erhoben, im Namen lokaler Gemeinschaften und einer höheren Gerechtigkeit zu handeln, nahmen sich das Recht heraus, angebliche Verbrecher zu bestrafen. Manfred Berg erzählt die Geschichte der Lynchjustiz von ihren Anfängen in der Kolonialzeit und während der Revolution bis in die Gegenwart. Die rassistische Lynchjustiz gegen schwarze Amerikaner nimmt breiten Raum ein, aber der Historiker erinnert auch an andere, lange Zeit vergessene Opfergruppen wie Mexikaner und Chinesen. Er berichtet vom Widerstand gegen die Lynchjustiz und untersucht, warum sie um die Mitte des 20. Jahrhunderts aufhörte und welches Erbe sie in der amerikanischen Kultur hinterlassen hat. Wer verstehen will, warum das staatliche Gewaltmonopol in den USA eine vergleichsweise geringe Akzeptanz findet und die USA die drakonischste Strafjustiz der westlichen Welt praktizieren, aber auch welche Kontinuitäten zwischen dem Lynchen und der Praxis der Todesstrafe bestehen, findet in diesem Buch Antworten. Manfred Berg legt die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der Geschichte der Lynchjustiz in den USA vor, erweitert den Blick aber auch auf die aktuelle und weltweit geübte Praxis des Lynchens.

Manfred Berg, Curt-Engelhorn-Stiftungsprofessor für Amerikanische Geschichte am Historischen Seminar und am Heidelberg Center for American Studies der Universität Heidelberg. Als Wissenschaftler war er u. a. am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikanstudien der Feien Universität Berlin und am Deutschen Historischen Institut in Washington D.C., tätig. Von 2003 bis 2005 war Berg Direktor des Zentrums für USA-Studien an der Stiftung Leucorea der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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Leseprobe

Einleitung:
Amerikas »nationales Verbrechen«?


Im Jahr 1905 begann der amerikanische Soziologe James Cutler sein Buch »Lynch-Law: An Investigation into the History of Lynching in the United States« mit folgender Feststellung:

»Es wird gesagt, dass Lynchen das ›nationale Verbrechen‹ unseres Landes ist. Wir geben das nicht gerne zu, und es mag unpatriotisch erscheinen, dies zu tun, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass das Lynchen eine Form der Kriminalität ist, die eine Besonderheit der Vereinigten Staaten darstellt. Die Praxis, dass Mobs Personen ergreifen, die eines Verbrechens verdächtigt werden, […] und sie ohne Gerichtsverfahren exekutieren, ohne dafür Bestrafung fürchten zu müssen, findet sich in keinem anderen hoch zivilisierten Land. Krawalle und tödliche Mobgewalt gibt es auch in anderen Ländern, aber nirgendwo kommt das, was man Volksjustiz [popular justice] nennen könnte, so häufig vor wie in den Vereinigten Staaten.«1

Obwohl Cutlers Studie natürlich seit langem überholt ist, ist seine Charakterisierung des Lynchens als popular justice noch immer der beste Ausgangspunkt, um den Gegenstand dieses Buches zu definieren. Eine klare Definition muss auch deshalb am Anfang stehen, weil der Begriff »lynching« im heutigen amerikanischen Sprachgebrauch oft als polemische Kennzeichnung für besonders empörende rassistisch motivierte Verbrechen benutzt wird. Der Historiker Christopher Waldrep, der beste Kenner der Begriffsgeschichte der Lynchjustiz, hat daraus den Schluss gezogen, das Wort sei ein »rhetorischer Dolch« und lasse sich überhaupt nicht definieren.2 Jedoch tritt bei näherer Betrachtung der Geschichte des Lynchens und des Selbstverständnisses der Lyncher das entscheidende Merkmal der Lynchjustiz durchaus klar zutage. Beim Lynchen handelt es sich um die extralegale Bestrafung angeblicher Verbrecher durch mehr oder weniger organisierte Gruppen, die den Anspruch erheben, im Namen lokaler Gemeinschaften und einer höheren Gerechtigkeit bzw. Notwendigkeit zu handeln. Ihrem Anspruch nach ist die Lynchjustiz also keineswegs gesetzlose Mobgewalt, sondern im Gegenteil die gemeinschaftliche Verteidigung von Recht und Ordnung, wenn und solange die Staatsgewalt dazu nicht bereit oder in der Lage ist.

Die Lynchjustiz als ein Akt kollektiver Bestrafung muss im Kontext der amerikanischen Geschichte begrifflich unterschieden werden von sogenannten hate crimes einerseits und race riots andererseits. Für Gewalttaten, die von Individuen oder kleinen Gruppen aus Hass gegen rassische, ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten verübt werden, hat sich seit den 1980er Jahren in den USA der Begriff hate crimes eingebürgert. Die Täter behaupten in der Regel gar nicht, dass sie ihre oft willkürlich ausgewählten Opfer für irgendwelche konkreten Handlungen bestrafen wollten, und sie können längst nicht mehr mit öffentlicher Billigung rechnen. Der recht euphemistische Begriff race riots – meist als »Rassenunruhen« ins Deutsche übersetzt – bezeichnet pogromartige Attacken weißer Mobs auf schwarze Gemeinden, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in zahlreichen amerikanischen Städten stattfanden und oft Dutzende Todesopfer forderten. Auch für riots gilt, dass es den Randalierern nicht darum ging, eine bestimmte Person für ein bestimmtes Verbrechen zu bestrafen, sondern ihrem Hass auf die afroamerikanische Bevölkerung insgesamt freien Lauf zu lassen. In der historischen Wirklichkeit lassen sich hate crimes, race riots und Lynchings freilich nicht immer klar voneinander trennen. So bildeten Lynchmorde an Schwarzen nicht selten den Auftakt zu größeren rassistischen Ausschreitungen.3

Dafür, dass das Lynchen heutzutage im öffentlichen Diskurs der USA mit rassistischer Gewalt gleichgesetzt wird, gibt es gute Gründe. Zwischen 1882 und 1946, dem Zeitraum, für den halbwegs verlässliche Zählungen existieren, forderte die Lynchjustiz nach konservativen Schätzungen 4716 Todesopfer, davon 3425 Afroamerikaner. Mehr als 80 Prozent aller Lynchings geschahen im Süden der USA und mehr als 80 Prozent der dort zu verzeichnenden Opfer waren Schwarze.4 Der Begriff »lynching« entstand allerdings bereits im 18. Jahrhundert und war zunächst weder rassistisch kodiert noch implizierte er notwendigerweise tödliche Gewalt. Als Namenspatron gilt Colonel Charles Lynch aus Virginia, der während des Revolutionskrieges »Volksgerichte« gegen Anhänger der britischen Krone abgehalten hatte, die jedoch zumeist nur zu einer Prügelstrafe verurteilt worden waren. Im frühen 19. Jahrhundert bürgerte sich das Wort in den USA für die Bestrafung angeblicher Verbrecher durch Mobs und sogenannte Bürgerkomitees (vigilance committees) ein, die aber ihre Opfer in der Regel am Leben ließen. Gängige Formen der Bestrafung waren das Auspeitschen und das Teeren und Federn, das in Europa schon im Mittelalter praktiziert wurde.5 Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Lynchen zum Synonym für extralegale Exekutionen durch Bürgerwehren (vigilantes; posses) und Mobs. Begriff und Praxis des Lynchens waren um diese Zeit eng mit der Frontier, der westlichen Siedlungsgrenze, verbunden, wo, so die gängige Vorstellung, die Pioniere das Gesetz in die eigene Hand nehmen mussten, um sich gegen Gewalt und Verbrechen zu schützen. Die Selbstjustiz an der Frontier ist deshalb immer wieder als gesellschaftliche Selbstorganisation dargestellt worden, die erst die Grundlage für eine staatliche Ordnung geschaffen habe.6 In der antiautoritär-demokratischen politischen Kultur der USA verband sich dieser Gedanke der Notwendigkeit mit der Forderung nach einer direkten Mitwirkung des Volkes an der Strafjustiz, der popular justice. Wenn etwa Gerichte den Volkswillen ignorierten, sollte das Volk von seiner Souveränität unmittelbaren Gebrauch machen dürfen.

Als Akt kollektiver Bestrafung war dem Lynchen oft ein rituelles Element eigen. Das gemeinschaftlich und öffentlich vollzogene Strafritual befriedigte das Bedürfnis nach unmittelbarer Vergeltung und bekräftigte die sozialen Werte und den Zusammenhalt der community. Einige Autoren haben die amerikanischen »Lynchspektakel« um die Wende zum 20. Jahrhundert, bei denen bisweilen Tausende zuschauten, wie die Opfer qualvoll gefoltert und bei lebendigem Leibe verbrannt wurden, als pseudoreligiöse Menschenopfer gedeutet.7 Allerdings gab es auch zahlreiche Lynchmorde, die von relativ kleinen, manchmal nur aus einer Handvoll Personen bestehenden Mobs verübt wurden. Solche »privaten Mobs«, wie sie der Historiker W. Fitzhugh Brundage nennt, nahmen meist persönliche Rache für eine Tat, die in der lokalen Gemeinschaft keine besondere Empörung hervorgerufen hatte. Private Mobs zogen es daher vor, ihr Werk an abgelegenen Orten und im Schutz der Dunkelheit zu verrichten, weil sie nicht sicher sein konnten, ob ihre Mitbürger ihr Vorgehen billigten.8

James Cutlers Definition des Lynchens als popular justice wird zumindest implizit von den meisten Historikern akzeptiert. Doch wie steht es um seine Behauptung, das Lynchen sei eine amerikanische Besonderheit, gleichsam Amerikas »nationales Verbrechen«? Diese Vorstellung gehörte um die Wende zum 20. Jahrhundert zur Standardrhetorik aller Kritiker des Lynchens in den USA. »Keine andere zivilisierte Nation«, schrieb die afroamerikanische Journalistin Ida B. Wells im Jahr 1894, müsse sich vor der Welt wegen vergleichbarer »nationaler Verbrechen« verantworten.9 Diese Diskursstrategie, das Lynchen als »negativen Exzeptionalismus« der USA zu brandmarken, wirkt bis heute nach.10 Die Lynchjustiz, schrieb der Historiker Philip Dray, sei so amerikanisch wie Baseball gewesen.11

Der Umstand, dass zahlreiche andere Nationen den Begriff »lynchen« in ihre Sprachen inkorporierten, verstärkte den Eindruck, dass es sich um eine amerikanische Besonderheit handeln müsse. Seit den 1830er Jahren berichteten englische und französische Zeitungen über »Lynch’s law« und »la loi de Lynch« in Amerika.12 Im Deutschen ist er seit Mitte des 19. Jahrhunderts nachweisbar, und Anfang des 20. Jahrhunderts sprachen Berliner Zeitungen ganz selbstverständlich von »Lynchern«, »lynchen« und »Lynchgerichten«, wenn sie über spontane Mobgewalt gegen ertappte Diebe und Gewalttäter auf den Straßen der deutschen Hauptstadt berichteten. Im Unterschied zu den USA schritt jedoch regelmäßig die Polizei ein, und offenbar gab es keine Todesfälle.13 In Mexiko, China und Italien wurde der Ausdruck »lynch« vor allem deshalb gebräuchlich, weil Angehörige dieser Nationen in den USA der Lynchjustiz zum Opfer fielen. Lynchmorde an Mexikanern, Chinesen und Italienern führten immer wieder zu diplomatischen Verwicklungen und zu antiamerikanischen Ausschreitungen in diesen Ländern. Die US-Regierung zahlte verschiedentlich Entschädigungen, um die Wogen zu...

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