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Von Magedeburg bis Königsberg

Vollständige Ausgabe

AutorKarl Rosenkranz
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl522 Seiten
ISBN9783849634254
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Die Autobiografie des deutschen Philosophen und Schülers von Georg Wilhelm Friedrich Hegel.

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Leseprobe

 


 

Die Schule des Kantors der wallonischen Gemeinde, die ich schon früher im Allgemeinen schilderte, versank immer mehr. Die Zahl der Schüler und Schülerinnen verminderte sich bis zu einem kleinen Rest, der nur noch von der Familie des Kantors bearbeitet wurde und zu welchem unglücklicherweise auch ich gehörte. Alle Disciplin hörte vollends auf, als der Kantor von einem Augenleiden heimgesucht ward, die Frau nun, zwischen Schulzimmer und Küche getheilt, die Leitung des Ganzen übernahm und ein Sohn, der zugleich das Klemptnerhandwerk betrieb, für den Vater vicarirte. Das Lateinische wurde nur nebenher für solche Schüler, die es wünschten und die auch besonders dafür bezahlten, von einem Candidaten Namens Schwenzler höchst nachlässig gelehrt. Andere, Seele und Leib verderbende Stunden, als ich in dieser Unterrichtszeit in einem oft sehr frostigen Lokal verbracht habe, sind mir kaum erinnerlich.

 

Mein Vater überwand endlich den Respect, den meine Mutter vor dem Kantor aus kirchlicher Angewohnheit hatte, nahm mich aus der Schule heraus und brachte mich Ostern 1816 auf die Schule der Altstadt Magdeburg, welche damals unter dem Rector Neide und dem Prorector Werkner stand. Diese Schule würden wir heutzutage eine höhere Bürgerschule nennen. Sie bereitete vorzüglich für das praktische Leben vor, dem meine Eltern mich widmen wollten. Auf dieser Anstalt machte ich nun in der Geographie und Geschichte, im Deutschen, in der Mathematik und Physik große Fortschritte. Von den letzteren Wissenschaften hatte ich noch so gut als gar keine Vorstellung gehabt, und ich mußte darin ganz von vorn anfangen. In der zweiten Klasse, die mit der ersten combinirt war, wurde den ganzen Donnerstag Nachmittag hindurch sogenannte praktische Stunde in einer sehr eigenthümlichen Weise abgehalten, die mich lebhaft interessirte und der ich für mein ganzes Leben Vieles schuldig geworden bin. Es wurde nämlich die Fiction zu Grunde gelegt, daß die ganze Klasse eine Gesellschaft bilde, die in mannichfachem praktischem Verkehr stände. Diese Gesellschaft wählte jeden Monat unter dem Protectorat des Lehrers, des zuvor schon genannten Prorectors Werkner, einen Vorstand, bestehend aus einem Ordner, der alle Papiere und Schreibmaterialien der Gesellschaft zu verwalten und ein Journal über alle Arbeiten zu führen hatte, aus einem Secretair, der ihm und dem Protector untergeben war, aus einem Cassirer und einem Rechnungsrevisor. Den übrigen Mitgiedern wurde eine imaginäre Verwaltung zugetheilt. So habe ich z.B. ein Haus in der grünen Armstraße in der Art administrirt, daß ich dasselbe vermiethete. Nun mußte ich die Vertäge entwerfen, mußte Reparaturen beantragen, die Abgaben entrichten und was sonst bei Leitung eines Hauswesens vorkommt in bestimmter Frist fungiren; bei einer Reparatur größerer Art, z.B. Anbau eines Holzgelasses, mußte ich die Zeichnung beifügen. Als ich dies gelernt hatte, wurde mir das fictive Landgut Wederingen zur Verwaltung übergeben, bei welchem ich eine Scheune bauen und einen Graben durch den von verschiedenen Holzarten bewachsenen Wald ziehen lassen mußte, von welcher Unternehmung ebenfalls die Pläne einzureichen waren. – Den Unterricht ertheilte der Prorector in der Art, daß er zu Anfang jeden Halbjahres in der Kunst unterwies, Briefcouverts zu schneiden, Briefe zu siegeln, Adressen zu schreiben, Rechnungen zu liniiren und auszufüllen, zu quittiren, zu dechargiren, Acten zu heften und zu signiren und an eine obere Behörde, die er repräsentierte, eine Vorstellung im üblichen Kanzleistyl einzureichen. Das Material: Papier, Zwirn, Sigellack, Heftnadeln, Wachs wurden aus einer gemeinschaftlichen Kasse bestritten, die wir durch monatliche Beiträge erhielten. Die Acten der Gesellschaft wurden vom Ordner förmlich registrirt. Wenn ein Schüler abging und dadurch die Administration eines der fictiven Besitzthümer der Societät vacant wurde, so trat durch Bestimmung des Prorectors oder durch Wahl ein Anderer an seine Stelle, der die Acten durchzusehen und zunächst Bericht über den vorgefundenen Zustand zu erstatten hatte.

 

Der Gedanke zu einer solchen Uebung mochte noch aus der Aufklärungsperiode des vorigen Jahrhunderts stammen. In der Ausführung war manches Spielende, manches Pedantische. Allein das Nützliche war nicht zu leugnen. Wie wichtig ist nicht dem Kleinbürger, dem Handwerker, dem Kaufmann, dem Gutsbesitzer die Fertigkeit in jenen formellen Thätigkeiten. Wie wichtig ist sie heutzutage nicht für jeden Andern? Ich darf versichern, daß wir Alle, mit einigen unverbesserlichen Ausnahmen, diese »praktischen Stunden« sehr gern hatten, daß ein munterer Geist in der Klasse herrschte, daß die Wichtigthuerei mit unsern Häusern und Capitalien ein komisch-dramatisches Leben hervorbrachte und daß wir uns besonders gespannt fühlten, wenn wir nach Ablauf von vier Wochen durch Stimmzettel unsern Vorstand wieder zu erwählen hatten. Der Realismus des Weltlaufs wurde von uns hier im Kleinen vorgebildet, und ich bin überzeugt, daß Viele, gleich mir, im späteren Leben dankbar auf jene Stunden zurückgeblickt haben.

 

Als ein Resultat dieser Uebungen kann man auch ansehen, daß ein Theil von uns eine Zeit lang im Sommer 1817 bei einem Feldmesser Namens Villaume Unterricht empfing. Es war ein freundlicher alter Mann mit seinem Sohne, die sich bei dem Prorector gemeldet hatten und ein billiges Honorar forderten. Uns Knaben war das Herumstreichen mit den Fähnchen, mit der Meßkette und Boussole schon recht. Der Alte hatte einen glücklichen Humor. Gelernt haben wir nicht viel; ich wenigstens nicht.

 

Alls wir die geometrischen Vorbegriffe überliefert erhalten hatten und mit den Handgriffen bekannt geworden waren, bestand unsere Hauptleistung darin, daß wir die Werderinsel aufnahmen, wo wir uns dann, wenn wir im Gedränge der Spaziergänger das Alignement vornahmen und die Meßkette weiterschleppten, recht bedeutend vorkamen. Eine sauber ausgeführte Zeichnung vom Werder – das letzte Resultat dieser Bemühung – habe ich noch lange unter meinen Papieren bewahrt gehabt, denn die Seite der Anschauung lag mir wohl nahe, aber das Rechnen gelang mir nicht; im Rechnen bin ich immer zurückgeblieben. Ein Theil der Schuld fällt meinem Unfleiß, ein Mangel an Interesse für solche Art der Verstandsthätigkeit zu. Allein ein Theil der Schuld gehört auch wohl der schlechten Methode an, welche die einfachste Operation durch nebensächlichen Ausputz unzugänglich und verworren machte. Mein Vater war einer der vorzüglichsten Rechner; es wurmte ihn, daß ich so schwach darin blieb. Er wollte mich aufmuntern und schenkte mir daher ein schönes Rechenbuch in Quart, in welches er selbst ein köstliches Titelblatt mit den künstlichsten Schriftarten gemacht hatte. Auf dunklem Grunde hatte er seine Lieblingssprüche eingeschrieben: »Fürchte Gott, thue Recht, scheue Niemand, ehre den König!« Tief haben sich mir diese Worte eingeprägt, mit Ehrfurcht betrachtete ich das dicke Buch; die erste Seite brachte leidliche Rechnungen, weil sie leicht waren, aber bald erscholl über mich die alte Klage. In der ersten Klasse der Altstadt betrog ich gewöhnlich den Rector Neide, indem ich von einem Nachbar abschrieb, oder bewegte ihn durch meine Confusion zu solchem Mitleid, daß er sich zu mir setzte, die Aufgabe mit mir durchrechnete, viel Taback dabei verstreute und endlich, wenn er fertig war, mit der selbstbefriedigten Bemerkung aufstand, ich hätte es doch nun schon besser gemacht und es würde recht bald noch besser gehen. In der Prima war eine große schwarze Tafel aufgehängt, auf welcher mit rother und weißer Farbe die verschiedenen Städte zu oberst aufgeschrieben waren, die das Recht hatten, einen Cours zu machen; zur Linken waren alle wichtigen Geldsorten aufgeführt und in der Quere rubrikenweis die durchschnittlichen Differenzen der Aequivalente in den verschiedenen Städten. Wenn nun am Ende des Semesters aus der sogenannten Gesellschaftsrechnung zur Coursrechnung übergegangen wurde, so verfiel ich mit einigen Andern in einen völligen Unverstand. Einige Auserwählte, gewöhnlich Kinder aus kaufmännischen Häusern, fanden sich zu unserem Erstaunen zurecht, beschäftigten und befriedigten den Rector, während wir Uebrigen die ärgsten Allotria's trieben. Manche Städte haben von diesen Courstafeln her eine finstere Physiognomie für mich gehabt, z.B. das freundliche, so schön gelegene Botzen, dem früher auch das Recht zustand, einen Cours zu machen. Der Hauptfehler bei der Methode, der mir das Rechnen so unendlich erschwerte, scheint mir der gewesen zu sein, daß man, die vier Species ausgenommen, von der Regeldetri ab, Alles in benannten Zahlen rechnen ließ, weil man glaubte, daß dadurch eine frischere Theilnahme und für das Leben eine große erleichternde Vorbildung gegeben werde. Es sind aber diese Specificationen sehr gleichgültig. Sie ändern nichts an der Zahl und können in der Wirklichkeit doch nicht gerade so wieder vorkommen, als das Exempel sie angiebt. Für ein Kind von lebhafter Phantasie, wie ich mich wohl bezeichnen darf, wurde durch die concrete Benennung der Zahlen der Antheil an diesen Gegenständen rege gemacht und die Richtung auf das Abstracte vermindert, während die Operation an sich gegen das Concrete völlig indifferent ist, denn ob ich sage: Wenn drei Birnen sechs Pfennige kosten, was kosten siebzehn? oder ob ich statt Birnen Aepfel, Pflaumen u. dgl. setze, ändert an der arithmetischen Bestimmtheit nichts, die auf der 3 und 6 und 17 beruht. Namentlich aber bei der sogenannten Gesellschaftsrechnung verwirrte ich mich immer durch ein dramatisches Ausmalen des...

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