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E-Book

Mali oder das Ringen um Würde

Meine Reisen in einem verwundeten Land

AutorCharlotte Wiedemann
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641142308
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Erkundung einer unbekannten afrikanischen Welt
Charlotte Wiedemann nimmt den Leser mit auf ihre Reisen und lässt ihn tief eintauchen in eine unbekannte afrikanische Welt. Zerrissen zwischen der ruhmreichen Vergangenheit und der politisch unsicheren Gegenwart, zwischen dem Reichtum vergangener Tage und der Armut heute suchen die Menschen in Mali voller Stolz nach ihrem eigenen Weg in die Moderne. Ein intensiver, ein ermutigender Blick auf dieses Land in der Sahelzone.

Mali gehörte einst zu den Zentren islamischer Wissenschaft und Kultur, das sagenumwobene Timbuktu war eine Handelsmetropole der alten Welt. Heute leidet das Land an Armut und Abhängigkeit, in jüngster Zeit wurde es obendrein durch Rebellion und Krieg geschwächt. Dennoch passt Mali nicht in das Klischee vom scheiternden Afrika. Charlotte Wiedemann, die das Land viele Male bereist hat, beschreibt eine Gesellschaft, die ihre Werte von Solidarität und Toleranz in den Wirren der Globalisierung zu verteidigen sucht. Ihre eindringlichen Reportagen zeigen Menschen, die um ihre Würde und Identität ringen - und sich gegen die Bevormundung durch den Westen ebenso wehren wie gegen einen fundamentalistischen Islam. Die Journalistin erzählt so behutsam wie kenntnisreich; auch deshalb wird sie von Autoren wie Rafik Schami und von Kolleginnen wie Carolin Emcke gleichermaßen geschätzt.

Charlotte Wiedemann, geboren 1954, ist eine erfahrene Auslandsreporterin und politische Journalistin. Seit 2004 schreibt sie über islamische Lebenswelten auf verschiedenen Kontinenten, ihre Reportagen und Essays erscheinen unter anderem in der Zeit, in GEO und Le Monde Diplomatique. Vor Ort untersuchte sie die Folgen des Arabischen Frühlings in Ägypten, Tunesien und Jemen. Charlotte Wiedemann unterrichtet Journalismus und ist Mitglied im PEN.

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Leseprobe

2.
Bamako
Moderne ohne Asphalt

Ein halbes Jahrhundert ist vergangen seit den frühen Tagen der Unabhängigkeit, seit den Tagen, als die Zuversicht noch frisch und unschuldig war. Bamako, die Hauptstadt, hat drei Systeme gesehen seitdem, erst den Sozialismus, dann eine Militärdiktatur und schließlich eine Demokratie.

Die Träume aber haben sich nicht geändert. Sie sind zu sehen auf zwei Gemälden, die den Eingang zum Nationalparlament flankieren. Auf der linken Seite Kultur und Tradition, mit hohen Masken, einer Moschee, einem strahlenden Griot. Auf der rechten Seite die Moderne mit Computern, Hochhäusern, einem Schnellzug. Auf der Seite der Moderne stehen auch die Politiker, die Abgeordneten, sie tragen Schärpen in den leuchtenden Farben der Nation, und über ihnen schwebt eine Waage, so gerecht wird ihre Politik sein.

Die Bilder sind verblichen von der harten Sonne vieler Jahre, in denen der Schnellzug nicht eingetroffen ist und auch nicht die Gerechtigkeit. Die Hoffnung aber ist geblieben: dass es möglich sei, die eigene Kultur zu bewahren und dazu noch technischen und politischen Fortschritt zu gewinnen. Dass es also einen malischen, einen eigenen Weg in die Zukunft gebe. Die Hoffnung, von der es einst hieß, sie blühe auf den Feldern, hängt nun schwer und bleiern in der Luft von Bamako, umhüllt von Abgasschwaden.

Bamako sei unter den Hauptstädten Afrikas die afrikanischste. Das sagen Europäer; weil ihnen das Niedrige, das Rote, das Lehmige dieser Stadt so authentisch afrikanisch erscheint. In den staubigen Himmel über Bamako ragt in der Tat nur ein einziges veritables Hochhaus, der zwanzigstöckige Turm der westafrikanischen Zentralbank – als lägen hier Reichtümer auf einem Hochregal. Für unsere Augen wirkt Bamako ländlich, weil nur die wenigsten Straßen asphaltiert sind. Die Zellstruktur der Stadt, das ist ein Netzwerk von sechzig Quartiers entlang holpriger Gassen aus festgestampfter Erde; wie ein Agglomerat von Dörfern zu beiden Seiten des Niger. Kaum zu glauben, dass Bamako zwei Millionen Einwohner hat.

Aus dem Blickwinkel tatsächlicher Ländlichkeit, aus Sicht eines stromlosen malischen Dorfes, ist Bamako indes so fern, so verheißungsvoll und so sündig, wie eine Metropole nur sein kann. Wenn in einem abgelegenen Winkel des Sahel der glänzend-weiße Geländewagen von Entwicklungshelfern auftaucht, schreien die Kinder: »Ein Auto aus Bamako!« Bamako steht für das Geld der Weißen, für den Zentralstaat, für eine gierige, Französisch sprechende Elite und für die Korruption. Aber Bamako ist auch ein Labor, hier entstehen Lebensformen, Moden und Gedanken, die im großen Rest des Landes erst viel später ankommen werden – oder gar nicht.

Wer sich zu lange in dieser Stadt aufhält, findet nicht mehr hinaus. Bamako ist sich selbst genug und kommuniziert nur mit sich selbst. Hier werden stapelweise Zeitungen produziert, die der Rest des Landes nie sieht. Der Präsident residiert auf einem Hügel, wo schon die koloniale Herrschaft saß: als solle die Distanz zur bäuerlichen Basis noch durch zusätzliche vierhundert Höhenmeter unterstrichen werden. Und wenn er im Fernsehen eine »Rede an die Nation« hält, spricht er Französisch, wohlwissend, dass ihn achtzig oder neunzig Prozent der Bevölkerung nicht verstehen. Als spräche er nicht zu den Maliern, sondern zum Ausland.

Wer vom Flughafen kommend in die Stadt hineinfährt, stößt schon bald auf das erste Denkmal. Der Büffel auf der Place de Sogolon ist ein Symbol für die Mutter von Sundjata Keita, Malis berühmtestem Herrscher. Später kommt ein gewaltiges Jäger-Monument; der Jäger steht für traditionelles Wissen, für die Verbindung von Natur und Spiritualität. Bamako ist gespickt mit solchen Denkmälern; eine Hommage, in Stein und Beton, an Malis echtes Afrikanertum. Das war die Idee von Alpha Oumar Konaré, dem ersten Präsidenten der demokratischen Epoche. Von Haus aus Historiker, nutzte er seine zwei Amtszeiten zwischen 1992 und 2002 für eine regelrechte Baukampagne. Nach zehn Jahren verließ er den Präsidentensessel als schwerreicher Mann. Das hat die Malier nachhaltiger beeindruckt als jedes Monument. Die Denkmäler blieben zurück als Symbole nicht eingelöster Versprechen.

Manche Malier sagen: Bamako zeigt, was wir verlieren. Das sagen vor allem die Älteren. In der Stadt vermischen sich Kulturen und Eigenarten diverser Ethnien, kaum jemand ist mehr an seiner Kleidung zu erkennen. Was der Fremde in Bamako für authentisch malisch hält, ist für traditionsbewusste Malier ein Gebräu mit diffusem Geschmack.

Als ich zum ersten Mal nach Bozola kam, wurde gerade der Beginn der Schulferien gefeiert. Bozola ist eines der ältesten Viertel der Stadt, in seinem Namen ist noch erkennbar, dass es von der Ethnie der Bozo gegründet wurde. Das einstige Fischerdorf ist heute verrufen als Quartier der Drogen und der Kriminalität. Bei Tage war Bozola ein Gewirr von kleinen Läden und Werkstätten, die Straßen heillos verstopft mit Kleinbussen, Karren, Eselsfuhrwerken. In dieser Nacht aber war es das Quartier der Tänzer. Die Straße aus Erde und festgetretenem Müll war mit einer Phalanx verkratzter blauer Eisenstühle abgesperrt. Um zehn Uhr wummerte ein Lautsprecher los, das Publikum war zwischen sechs und sechzehn, Erwachsene schien es nicht zu geben. Die besten Tänzer des Quartiers durften vortanzen; die Tribüne bestand aus aufgestapelten Händlerkarren vom Markt. Der kleinste Vortänzer hatte noch Babyspeck an den Beinen. Die Mädchen waren dressed to kill, Mini-Röcke, reichlich Busen. War Mali wirklich ein muslimisches Land?

An diesem Abend lernte ich Alou kennen, Alou Diawara. Er stand plötzlich neben mir. In meinem Notizblock stand später der Satz: »Viele Mädchen hier haben schon als Dreizehnjährige Sex«, aber vermutlich war das nicht das Erste, was der junge Mann mir erzählte.

Alou war ein arbeitsloser Abiturient. Aus Begeisterung für die digitale Welt gab er Computerkurse für Schüler im unbenutzten Raum einer Grundschule; das wollte er mir zeigen. Im hinteren Teil des unbeleuchteten Hofes schloss er einen Klassenraum auf. Boden und Wände waren rötlich vom ewigen Staub, eine Neonröhre verstreute ein fahles Licht. Auf geblümten, löcherigen Plastikdecken standen sechs Computer, klobige Kisten, sie waren mit schwarzem Tuch zugedeckt wie uralte Kameras. An der Schiefertafel stand noch die Lektion vom Vortag: Was bedeutet Kilobyte, Megabyte?

Die Schüler zahlten ihm eine winzige Gebühr. Davon bezahlte Alou den Strom. Später am Abend öffnete er die Fensterläden, draußen im Nachtdunklen trainierte umschwirrt von Insekten eine Karategruppe, die nun von Alous Licht profitierte und ihm dafür etwas zahlte. Alou wiederum gab dem Wächter der Schule einen Obolus, damit aus dessen Familie jede Nacht jemand bei den Computern schlief und sie bewachte.

So organisiert sich eine Gesellschaft, der es nach unserem Verständnis an allem fehlt. Der prekäre Alltag besteht aus einem dicht geflochtenen Netz von Beziehungen, die zwar geschäftlicher Natur sein mögen, aber letztlich nur über das persönliche Vertrauen funktionieren. Nichts ist einklagbar in dieser Welt, nichts ist versichert – ein Begriff, der nur in unserer Hemisphäre existiert. Alles wird ausgehandelt und heruntergebrochen auf kleinstmögliche, bezahlbare Einheiten. Wie in jenen Miniaturtankstellen, die nur aus einem Holzkasten mit Glasflaschen bestehen. Aus den Flaschen wird Benzin in winzigen Mengen verkauft, als handele es sich um alten Cognac.

»Ich zeig dir meinen Blog«, sagte Alou. Die Verbindung baute sich langsam auf, wir warteten, über uns knarzte ein Ventilator. »Ich habe mir alles selbst ausgedacht. Ich kenne sonst niemanden, der einen Blog schreibt.« Während ich zu lesen begann, bereitete Alou unter einem Sicherungskasten in der Ecke seine Gebetsmatte aus. Sein Blog hatte erst zwei Einträge, adressiert an eine diffuse Weltöffentlichkeit: »Wenn ihr hier etwas vermisst, dann vergesst nicht, dass wir in einer Grundschule in Mali sind.«

Alou war ehrgeizig und selbstbewusst, und er hatte den starken Willen, etwas aus sich zu machen. Er sprach außer Französisch ein gutes Englisch, hörte BBC, suchte den Kontakt zur Welt fernab der Grenzen seiner Heimat. Doch bald kämpfte er, wie alle jungen Malier, die keine wohlhabenden Eltern haben, gegen das Gefühl der Aussichtslosigkeit, das sich mit erdrückender Last auf all seine Unternehmungen legte. Er dachte an Auswanderung, doch irgendwann fehlte ihm sogar das Fahrgeld, um bei den Botschaften seine Zeugnisse einzureichen.

Gemeinsam mit ein paar Freunden entschloss ich mich, Alou bei dem zu helfen, was er sich am meisten wünschte: eine Ausbildung zum Journalisten. Wir bezahlten die bescheidenen Studiengebühren für die Universität in Dakar (Senegal), unterstützten die Anschaffung eines gebrauchten Laptops und eines Mikrofons. Alles andere gelang Alou allein. Wovon er lebte, wie er sein Essen bezahlte, blieb mir ein Rätsel. Er schlug sich durch, mit der unbändigen Energie, die ein junger Afrikaner an den Tag legt, wenn er eine Chance bekommt.

Als Alou aus Dakar zurückkehrte, zählte er zur Minderheit malischer Journalisten mit einer professionellen Ausbildung. Er machte von Bamako aus Beiträge für das Radioprogramm der BBC; das brachte ihm Prestige ein, aber nicht viel Geld. Im Pressehaus gehörte ihm nur die Ecke eines Schreibtischs, den noch zwei weitere Kollegen benutzten.

Die malischen Journalisten beeindruckten mich vor allem durch ihre Streikbereitschaft. Ich erlebte mehrere Generalstreiks. Um ein wenig Solidarität zu zeigen, stand ich eines Morgens vor einer Eisenklappe, die sich...

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