Auftakt
Entdecken Sie Danzig!
© huber-images: R. Schmid
Mottlau-Ufer – Lange Brücke und Krantor
Danzig (Gdańsk) ist keine Stadt normaler Maßstäbe. Hier hat Weltgeschichte ihren Anfang genommen. Einmal als im Morgengrauen des 1. September 1939 das deutsche Kriegsschiff „Schleswig-Holstein“ die Westerplatte unter Beschuss nahm und damit den Zweiten Weltkrieg auslöste. Zuletzt als 1980 ein kleiner, schnauzbärtiger Elektriker namens Lech Wałęsa während eines Streiks über die Mauer der Lenin-Werft kletterte und von dort aus als Anführer der Gewerkschaft Solidarność zuerst das polnische Regime und in der Folge das gewaltige sowjetische Imperium zum Einsturz brachte.
Alles scheint Geschichte zu sein in dieser Stadt, die lange gebraucht hat, um mit der eigenen, von Brüchen geprägten, oft verwirrenden Vergangenheit umzugehen. So blieb es einem Deutschen überlassen, Danzig auf geniale Art zu charakterisieren. Die Bücher des gebürtigen Danzigers Günter Grass wurden zunächst mit Argwohn aufgenommen. Er stöberte hinter der blendenden Schönheit der Stadt und machte Weltliteratur daraus. Doch schon lange vor seinem Tod im Jahr 2015 wurde der kantige Nobelpreisträger als großer Sohn der Stadt angenommen und wird bis heute bewundert.
Es ist eine in eintausend Jahren erlernte Fähigkeit der Bewohner von Danzig, mit Veränderungen umzugehen, Neues in sich aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Sie sind geprägt von einer Toleranz, die das Leben in einer blühenden Handelsstadt über Jahrhunderte bestimmte, in der Deutsche, Polen, Kaschuben und Einwanderer aus unzähligen Ländern wohnten. Diese Weltoffenheit trug reiche Früchte in Kultur, Wissenschaft und Kunst, die noch heute nicht nur in den Museen, Kirchen und Galerien der Stadt zu bewundern sind.
Unübersehbar: das Erbe der Hanse
Seine Bedeutung als Handelsstadt hat Danzig nicht verloren. Zugpferd des Arbeitsmarkts ist allerdings der Tourismus. Danzig ist wegen seiner Lage und der architektonischen Einzigartigkeit unverzichtbarer Bestandteil einer Reise durch Polen. Unübersehbar dabei: das steinerne Erbe der Hanse. Die reich verzierten Bürgerhäuser und öffentlichen Gebäude im Stil des flandrischen Manierismus verleihen der Stadt einen liebenswerten Charme. Kaum zu glauben, dass Danzig 1945 fast völlig in Trümmern lag. Wie die Stadt damals ausgesehen hat, lässt ein Blick auf die historischen Fotos im Rechtstädtischen Rathaus erahnen.
Nach dem Krieg machten sich die Bewohner mit viel Liebe zum Detail daran, den historischen Kern Danzigs wieder aufzubauen. Mehr als 600 Häuser rekonstruierten die Meister der polnischen Restauratorenschule nach alten Stichen und Fotos, originalgetreu bis ins Detail. So verströmt der Lange Markt heute wieder das Flair früherer Jahrhunderte, als dort die wohlhabenden Kaufleute residierten. Allerdings beschränkte sich die Renaissance des „historischen Gdańsk“ auf die Rechtstadt. In der benachbarten Alt- und Vorstadt restaurierte man nur einige bedeutende Gebäude. Diese lange vernachlässigten Stadtteile werden ihr Gesicht in den nächsten Jahren sehr verändern, an vielen Ecken und Enden wird hier bereits gebaut, saniert, modernisiert. Teile der Speicherinsel werden in einem Mix aus historisierenden und modernen Elementen revitalisiert, die Hamburger Speicherstadt lässt grüßen.
© Laif: P. Hahn
Alles in Rot: Das Cafe Ferber ist eine Institution, was Kuchen, Torten und Eis betrifft
Wrzeszcz wird Danzigs neuer Vorzeigestadtteil
Danzig steckt in einem rasanten Wandel. In der Rechtstadt, diesem Stein gewordenen Architekturmuseum, ist davon naturgemäß nicht viel zu spüren. In Wrzeszcz umso mehr. Ursprünglich waren es vor allem die Studenten, Kreative und (Lebens-)Künstler, die wegen der billigen Wohnungen in den etwas angegrauten Kleinbürgerstadtteil zogen. Sie machten aus Wrzeszcz so etwas wie das Kreuzberg Danzigs, ein Szeneviertel, das mittlerweile richtig angesagt ist. Nun rollt die nächste Welle: Die Verwaltung lässt Wrzeszcz mit viel EU-Geld aufpeppen, eine Straße nach der anderen wird saniert. Aus dem grauen Entlein Langfuhr, wo Günter Grass aufwuchs und später auch sein großer kleiner Romanheld Oskar Matzerath nebst Blechtrommel, soll Danzigs neuer Vorzeigestadtteil werden.
In fast erschütterndem Kontrast zur herausgeputzten Rechtstadt stehen die Stadtteile, die in den 1950er- und -60er-Jahren am Reißbrett entstanden und in aller Eile hochgezogen worden sind. Wohnungen mussten her für die Tausende Arbeiter, die jeden Tag auf der Lenin-Werft Schiffe zusammenschweißten. Zaspa ist so ein Viertel, Plattenbau reiht sich an Plattenbau. Doch auch diese Hässlichkeit ist von einer ganz eigenen Kreativität in Besitz genommen worden. Viele Wände der Hochhäuser in dieser monotonen Siedlung sind mit gigantischen Wandmalereien versehen: spektakuläre Gemälde, furiose Farbmischungen. An dem Haus, in dem Lech Wałęsa einst wohnte, prangt ein riesiges, pixeliges Wałęsa-Antlitz: Je weiter man sich entfernt, umso deutlicher wird es.
Diese heimliche Lust, Autoritäten nicht ganz ernst zu nehmen, ihnen ein Schnippchen zu schlagen, scheinen die Menschen in Danzig in ihren Genen zu haben. Vor mehr als 1000 Jahren musste der böhmische Bischof Adalbert diesen rebellischen Wesenszug der Bewohner des Küstenstreifens noch mit dem Leben bezahlen. Der Gottesmann schipperte über die Danziger Bucht, stieg bei „Gyddanycz“ vom Boot und begann, die Leute zu taufen. Nicht alle dankten ihm seinen missionarischen Eifer – schon bald wurde ihm der Kopf abgeschlagen. Sein Märtyrertod wurde später von einem Benediktinermönch beschrieben, und dieses Dokument gilt heute als „Geburtsurkunde“ der Stadt. Kein Wunder also, dass diese Stadt einen wie Lech Wałęsa hervorbrachte, der die Stirn hatte, sich gegen ein ganzes politisches System zu stellen. Nachdem er als Präsident Polens zu höchsten Ehren gekommen war, sank allerdings sein Stern rapide. Heute schimpfen die meisten Danziger über Wałęsa, er sei ein miserabler Elektriker gewesen und als Staatsmann habe er sie verraten und verkauft.
Statt Lenin-Werft heißt es nun Młode Miasto – „Junge Stadt“
Fast tragisch mutet es an, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ausgerechnet der Lenin-Werft, der Keimzelle der Freiheitsbewegung, die Lichter ausgingen. Zu groß, zu schwerfällig, nicht überlebensfähig gegen die Konkurrenz aus Asien, lautete das Urteil der Konkursverwalter. Zuerst konnte sich kaum jemand die Stadt ohne ihre dominierende Werft vorstellen. Schließlich erkannten die Menschen aber, dass es keinen Sinn hat, sich gegen das Schicksal zu stemmen, und nahmen die Gestaltung der Zukunft mit beiden Händen in Angriff. Die Werft wurde aufgeteilt, verkauft, und auf einem Teil des Geländes soll ein ganz neuer Stadtteil entstehen, mit Apartments, Einkaufszentren, Hotels. „Młode Miasto“, junge Stadt, soll er heißen.
In den Nachkriegsjahrzehnten ist Gdańsk, wie die Stadt seit 1945 polnisch amtlich heißt, mit seinen Nachbarn Gdynia (Gdingen) und Sopot (Zoppot) zu einem großen urbanen Zentrum zusammengewachsen. Fast 50 km zieht sich „Trójmiasto“, die Dreistadt, an der Westseite der Danziger Bucht hin, mit inzwischen 800 000 Ew. die dominierende Metropole der polnischen Ostseeküste. Ungleiche Geschwister sind sie geblieben, die „Drei-Städte“: Ganz im Norden Gdynia, Industriehafen und Wirtschaftszentrum, Heimat der Handelsflotte und wichtigste Nato-Basis der Ostsee. In den 1920er-Jahren im schnörkellosen Bauhausstil errichtet, ist sie das Gegenstück zum historischen Danzig. Nur wenige Touristen verirren sich hierher, darum kann man in Gdynia in den entspannten polnischen Alltag eintauchen. Man spürt ihn an der aufgehübschten Promenade, an deren Ende ein wilder, naturbelassener Strand beginnt. Von dort kann man durch Sand und vorbei an den Adlerhorstklippen (Orłowo) bis Sopot laufen.
Sopot, die dritte Stadt an der Küste, ist ein Seebad, das sich den mondänen Glanz früherer Tage zurückerobert. Dort flanieren die Schönen und Reichen auf dem berühmten Seesteg auf und ab. Es zählt zu den fast herrschaftlichen Genüssen, nach einem Strandspaziergang seinen Kaffee auf der Terrasse des stilvollen Grand Hotels zu nehmen. Ehrgeizige Pläne für die Zukunft sind bereits geschmiedet. Wie die aussehen soll, davon zeugt das Sheraton-Hotel am Fuß der Mole, das den klassischen Bäderstil modern variiert. Es bietet alles für Touristen auf der Suche nach Fünf-Sterne-Luxus. Wer will, kann also mit Boot, Zug oder Auto in der Trójmiasto an einem Tag drei Welten erleben, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch auf ihre Weise zusammengehören. Auch das gehört zum Reiz einer Reise nach Danzig.
Der Sozialismus und die schwere Krise seiner Überwindung: Geschichte. Seit 2004 gehört man zur EU, zu Europa ohnehin seit jeher. Allerdings zeigt sich die Gesellschaft gegenwärtig gespalten wie selten: Ein großer Teil der Polen unterstützt die konservativ-katholische Regierung, die keine moslemischen Flüchtlinge ins Land lässt, Homo-Ehe und Abtreibung als „Sünde“ brandmarkt und ganz allgemein gegen den Zerfall christlicher Werte zu Felde zieht. Um ihre Sicht der Dinge durchzusetzen, ließ sie regierungskritische Journalisten aus den öffentlichen Medien entfernen. Ähnliches soll mit unliebsamen Juristen im Obersten Gericht geschehen. All das begreift der andere Teil der Bevölkerung zu Recht als Kreuzzug gegen die so hart erkämpfte Freiheit und tut...