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E-Book

Marseille

Porträt einer widerspenstigen Stadt

AutorGünter Liehr
VerlagRotpunktverlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783858695680
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Für 2013 hat sich Marseille herausgeputzt, und ein urbanistisches Erneuerungsprogramm soll Frankreichs älteste Stadt für ihre postindustrielle Karriere als Business Standort rüsten. Marseille jedoch spielte immer eine besondere Rolle unter Frankreichs großen Städten. Sie verteidigte ihre Eigenständigkeit und wehrte sich gegen Zugriffe des Zentralstaats. Dafür wurde sie auch mehrmals hart bestraft. Das Buch beschreibt die große Bedeutung des Marseiller Hafens als Durchgangsstation für Waren und Reisende, Ein und Auswanderer, Kolonialbeamte, Truppen und Fluchtbewegungen. Wellen von Immigranten haben das Bevölkerungsgemisch dieser Stadt hervorgebracht: Korsen, Italiener, Griechen, Armenier, Maghrebiner, Piedsnoir und Komorer. Auch Deutsche hatten mit dieser Stadt zu tun als neugierige Literaten wie Egon Erwin Kisch, Joseph Roth, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Kurt Tucholsky u.a., als antifaschistische Flüchtlinge oder als Besatzer im Zweiten Weltkrieg. Dass die zentralen Viertel von Marseille noch heute von Immigranten und kleinen Leuten bewohnt sind, passt der aktuellen Stadtpolitik nicht ins Konzept. Ob aber die 'Normalisierung' gelingt, ist nicht sicher in dieser Stadt, in der die Dinge selten liefen wie geplant.

Günter Liehr, geb. 1949 in Göttingen, Germanistikstudium, Journalist und Schriftsteller. Bis 2009 Redakteur bei Radio France Internationale. Zuletzt erschienen: Der Untergrund von Paris (Ch. Links 2000) und Frankreich eine Nachbarschaftskunde (Ch. Links 2007). Der Autor erhielt zweimal den Deutsch Französischen Journalistenpreis (2002 und 2005). Er lebt in Paris und Marseille.

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Leseprobe

Von der Marseillaise zur »Stadt ohne Namen«


Am 30. April 1790 gegen drei Uhr morgens schleicht ein kleiner Trupp Nationalgardisten im Dunkeln den Hügel von Notre-Dame de la Garde hinauf, wo sich eines der drei Marseiller Forts befindet. Als bei Tagesanbruch die Ziehbrücke heruntergelassen wird, behaupten die Männer, sie seien gekommen, um der Frühmesse in der Kapelle beizuwohnen. Das will man den frommen Bürgern nicht verwehren, man lässt sie herein und sie überrumpeln die Besatzung. Der Kommandant des Forts zögert zunächst, aber als ihm die Eindringlinge weismachen, draußen warte eine zweitausend Mann starke Truppe auf ihren Einsatz, gibt er auf. Anstelle des königlichen Lilienbanners wird die Trikolore aufgezogen, unten in der Stadt können es alle sehen, und die Neuigkeit verbreitet sich in Windeseile.

Beim Marsch auf das Fort Saint Nicolas beteiligt sich dann schon eine größere, freudig erregte Menschenmenge. Auch hier gelingt die Einnahme recht problemlos und friedfertig. Der Kommandant der königlichen Garnison kapituliert nach einer Anstandsfrist. Und bald weht es auch hier blau-weiß-rot vom Turm.

Anders läuft es dann beim Fort Saint Jean: Hier wird Widerstand geleistet, was der Kommandant Calvet und der Major Louis de Beausset mit dem Leben bezahlen. Beider Köpfe werden im Triumphzug auf Piken durch die Stadt getragen. Der Fall der Marseiller Bastillen wird ausgiebig gefeiert. »Wir mussten diesen Brandherd der Konterrevolution löschen, der in unserer Mitte loderte und uns bedrohte. Indem wir uns der Forts bemächtigten, haben wir eine heilige Pflicht erfüllt«, teilen die Marseiller Patrioten der Nationalversammlung in Paris mit.

Es handelt sich hier nicht einfach nur um eine Imitation des Pariser Ereignisses vom Vorjahr. Diese Forts haben eine sehr eigene Bedeutung für Marseille, sie stehen für die demütigende Unterwerfung der Stadt durch Louis XIV, den »Sonnenkönig«, 130 Jahre zuvor.

Begleitet von dumpfem Trommelklang rückten am 22. Januar 1660 die königlichen Truppen in die Stadt ein. Marseille hatte sich unbotmäßig verhalten, hatte rebelliert gegen die Missachtung seiner städtischen Sonderrechte, sich gegen den Gouverneur der Provence aufgelehnt und Louis XIV den Gehorsam verweigert – für den jungen König Anlass, ein Exempel zu statuieren, schließlich war die Hafenstadt für sein Reich unverzichtbar. Die Besatzungstruppe demontierte die auf der Stadtmauer platzierten Kanonen, entfernte die Schlösser von den Toren und zerstörte die Porte Réale, das große Haupttor, wo alle Herrscher vor ihrem Eintritt in die Stadt bislang rituell gelobt hatten, deren Sonderrechte zu respektieren. Beidseits des Tores wurde eine Bresche in die Mauer geschlagen, durch die dann der König am 2. März 1660 demonstrativ in Marseille einzog. Die Botschaft war klar: Diese Stadt war nun niedergerungen und erobert, mit ihrer relativen Autonomie war es zu Ende.

Bis dahin konnte Marseille in den verschiedenen Phasen seiner Geschichte stets seine Freiheiten verteidigen, hatte im Mittelalter zeitweilig die Form einer Stadtrepublik angenommen, später die Grafen der Provence auf Distanz gehalten und seine Eigenständigkeit so deutlich manifestiert, dass diese es vorzogen, ihren Hof im freundlicheren Aix-en-Provence zu installieren. Als die Provence 1481 an den König von Frankreich fiel, wurden die Sonderrechte der Stadt vertraglich festgelegt und in der Folge wiederholt erneuert. Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich Marseille unter dem ersten Konsul Charles de Casaulx zeitweilig in eine diktatorisch regierte unabhängige Republik verwandelt und sich mit den Spaniern gegen den französischen König Henri IV verbündet. Selbst als dessen Macht wiederhergestellt war, bestätigte der Monarch die traditionellen Privilegien der Hafenstadt. Noch des »Sonnenkönigs« Vater und Vorgänger Louis XIII schwor, wie es üblich war, bevor er Marseille durch das Haupttor betrat, die Freiheiten der Stadt zu respektieren.

Mit der Unterwerfung durch Louis XIV wurde Marseille ins absolutistische Königreich eingegliedert, bekam ein neues Gemeindereglement und eine Garnison verpasst. Zwei Festungen, das Fort Saint Nicolas und das Fort Saint Jean, wurden an den Eingang des Hafens gebaut, nicht so sehr, um die Stadt vor äußeren Bedrohungen zu schützen, sondern vor allem, um ihre Bewohner in Schach zu halten und ihnen täglich die Präsenz einer übergeordneten Autorität vor Augen zu führen. »Louis le Grand hat diese Zitadelle bauen lassen in der Sorge, dass sich Marseille dem Überschwang der Freiheit hingeben könnte«, so stand es dort eingemeißelt.

Der große Mittelmeerhafen wurde für die wirtschaftlichen und militärischen Interessen des Zentralstaats in Dienst genommen. Am Südufer des Lacydon entstand – als Stadt in der Stadt – das Arsenal der königlichen Galeeren. Mit über 12 000 Galeerensträflingen, dazu 6000 zugehörigen Seeleuten, Soldaten, Offizieren und Schreibern bekam Marseille eine sehr spezielle neue Bevölkerung. Bis 1748 sollte diese Einrichtung funktionieren. Eine beträchtliche Auswirkung auf das Hafengeschehen hatte die Colbert’sche Wirtschaftspolitik. Jean-Baptiste Colbert, der Finanzminister von Louis XIV, musste die absolutistische Maschinerie in Gang halten, die Finanzierung des luxuriösen Hofstaats und der Kriegszüge des Königs sicherstellen. Es galt, Manufakturen und Handel zu stimulieren, die Hafenstädte zu fördern. Marseille wurde Freihafen und bekam das Monopol für den Levantehandel, was Macht und Bedeutung der bourgeoisen Elite verstärkte.

Während sich der Reichtum der Händler-Oligarchie mehrte, verschlechterten sich die Lebensbedingungen der kleinen Leute kontinuierlich im Laufe des Jahrhunderts. Die Steuern auf Konsumprodukte wie Mehl, Salz, Wein wurden immer drückender, die Lebensmittelpreise stiegen in unerträglichem Maße. Händler horteten Getreide, um den Preis zu treiben. Gewaltsame Proteste, Streiks und Hungerrevolten waren die Folge.

Revolutionäre Avantgarde


120 000 Einwohner hatte Marseille im Jahr 1789, doppelt so viele wie 1660. Der dicht besiedelte Kern lag wie schon zur Zeit der Antike am Nordufer des tief ins Land schneidenden Naturhafens, im Lacydon der Phokäer, die sich dort um 600 v. u. Z. angesiedelt hatten. Auch wenn die Stadt in der Vergangenheit mehrfach gebrandschatzt, zerstört und wieder aufgebaut wurde, entsprach die Straßenführung noch weitgehend dem antiken Stadtplan – ein ungefähres Schachbrettmuster, angepasst ans hügelige Terrain und an die lokalen Witterungsbedingungen, mit engen gewundenen Gassen, die vor der heißen Sonne schützten und den kalten Mistral draußen hielten.

Die untere Stadt, das Quartier Saint Jean, bestand aus etwa dreißig parallelen Gassen, die von der Höhe zum Ufer hinunterführten. Sie wurden von mehreren Querstraßen durchschnitten, die parallel zum Kai verliefen. Von der auf drei Hügeln gelegenen Oberstadt ist heute das Panier genannte Viertel übrig, mit dem ältesten Platz der Stadt, der Place de Lenche, am Ort der griechischen Agora und des römischen Forums.

In der Altstadt waren die religösen Traditionen lebendig, 28 Klöster gab es und wie überall in der Provence diverse Büßer-Bruderschaften mit ihren Kapellen, dazu mehrere Hospitäler und das von dem genialen Architekten Pierre Puget errichtete Armenasyl, die Charité. Nach seinen Entwürfen hatte sein Bruder Gaspard das Rathaus unten am Kai gebaut, in dessen Erdgeschoss die Börse untergebracht war, und auf Pugets Planungen ging auch der Cours zurück, damals die »gute Stube« von Marseille. Heute heißt er Cours Belsunce, aber von der großzügigen barocken Anlage ist kaum mehr etwas zu ahnen. Pugets Cours war die Nahtstelle zwischen der alten Stadt und dem neueren Teil, der nach dem Abriss der Stadtmauern entstanden war – zugleich ein Ort der Promenade und des Marktes, ein öffentlicher Raum par excellence, wo sich alle Bevölkerungsschichten begegneten. Hier und in den anderen gleichförmigen Straßen des Erweiterungsgebiets aus der absolutistischen Ära lebte inzwischen die Elite aus Aristokraten und Händlern, wobei die Bourgeoisie deutlich dominierte. Die Adligen waren in Marseille nicht sehr zahlreich, im Unterschied zur Provinzhauptstadt Aix, wo sich die großen Institutionen der Provence befanden. Typisch für die neue Wohngegend, die sich Richtung Osten und Süden erstreckte, war das Drei-Fenster-Haus, das sich später als Stil-Merkmal der Marseiller Architektur überallhin ausbreiten sollte.

Der dritte Stadtteil war aus dem früheren Galeerenarsenal entstanden. Am Südufer des Hafens, Rive Neuve, waren auf dem Terrain dieser »Stadt in der Stadt« Wohn- und Lagerhäuser gebaut worden. Rund um den Canal de l’Arsenal, den man im 20. Jahrhundert zugeschüttet hat (und der heute zum Cours d’Estienne d’Orves geworden ist), konzentrierten sich die Warenlager der Import-Export-Händler. Rund 700 »négoçiants«...

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