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Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition

AutorBenjamin Ziemann
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl640 Seiten
ISBN9783641172572
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,99 EUR
Das Leben einer Jahrhundertgestalt: die erste umfassende Biographie
Der Pfarrer Martin Niemöller (1892-1984) ist als Mitbegründer der Bekennenden Kirche und durch seine Reden zur Schuld der Deutschen nach 1945 bekannt. Dabei war er als Student in völkischen und antisemitischen Parteien und Verbänden aktiv und begrüßte 1933 die NS-Machtergreifung. Auch nach 1945 trat seine Judenfeindschaft wiederholt hervor. Benjamin Ziemann rekonstruiert die Biographie eines streitbaren Kirchenpolitikers und Nationalisten, der die Weimarer Republik ebenso ablehnte wie Adenauers Politik der Westbindung und den Parteienstaat der Bundesrepublik. Nach 1945 wurde Niemöller zum Pazifisten - und blieb doch dem Habitus des kaiserlichen Marineoffiziers treu. In diesem Leben voller dramatischer Momente, Widersprüche und persönlicher Krisen werden die Umbrüche und Kontinuitäten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert anschaulich.

Benjamin Ziemann, Prof. Dr., ist Professor für Neuere deutsche Geschichte an der University of Sheffield. Er hat zahlreiche Bücher zur deutschen und europäischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert veröffentlicht, u.a.: Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918-1933, Bonn 2014; Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten - Überleben - Verweigern, Essen 2013; Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2009. Seine große Biographie über Martin Niemöller erscheint im Herbst 2019.

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Leseprobe

1
Eine Jugend im evangelischen Pfarrhaus


Im Rückblick auf seine Kindheit und Jugend erklärte Martin Niemöller zuweilen, dass er »Sproß einer westfälischen Bauernfamilie sei« und eine »westfälische Bauernnatur« habe. Er tat dies wohl vor allem, um damit seine Bodenständigkeit und Zähigkeit zu betonen. 1 Seine frühesten nachweisbaren väterlichen Vorfahren verdienten als Heuerlinge und Kleinbauern im Tecklenburger Land bei Osnabrück ihren Lebensunterhalt. Seine direkten Vorfahren waren Müller, worauf bereits der Name – Neumüller, also der neue Müller am Ort – hinweist. Seit dem späten 17. Jahrhundert waren sie in dem Dorf Wersen ansässig. Als Müller brachten sie es zu einigem Besitz und damit bescheidenem Wohlstand. Der rapide soziale Aufstieg der Familie Niemöller im 19. Jahrhundert beruhte aber auf dem Erwerb von Bildung und Bildungspatenten. Er begann mit Martins Großvater Gerhard Heinrich Niemöller (1819–1873), der in Wersen als Volksschullehrer arbeitete und überdies als Kantor für das Orgelspiel in der evangelischen Kirche zuständig war. Gerhard Heinrich Niemöller heiratete 1850 Christine Bäumer aus Ibbenbüren. Heinrich Niemöller – Martin Niemöllers Vater – wurde 1859 geboren und war das sechste von acht Geschwistern. In der Familie wurde plattdeutsch gesprochen. Aber der Volksschullehrer Gerhard Heinrich Niemöller hatte auch die alten Sprachen erlernt, um seine Kinder auf den Besuch einer höheren Schule vorbereiten zu können. 2

Nach dem Tod ihres Mannes im April 1873 musste Christine Niemöller das Kantorhaus verlassen und kam mit ihren drei jüngeren Kindern – der jüngste Sohn war bereits nach einem Jahr verstorben – zunächst in einigen Räumen im Dachgeschoss der Bringenburg unter, einem Jagdschloss in Wersen. Durch die Vermittlung des Landrats war Heinrich Niemöller eine Freistelle in Schulpforta zugesagt worden, der 1543 im Gefolge der Reformation gegründeten Internatsschule für Knaben in Naumburg an der Saale. Beim ersten Anlauf im Herbst 1873 fiel Heinrich bei der Aufnahmeprüfung durch. Nach einigen Monaten intensiven Paukens schaffte er es beim zweiten Mal aber doch: Heinrich Niemöller wurde im April 1874 als Schüler in Schulpforta aufgenommen. 3

Die Mutter ließ sich derweil von ihrem Erbteil ein kleines Fachwerkhaus in Wersen bauen, das sie bis zu ihrem Tod 1908 bewohnte. Sie lebte von ihrem Ackerland, dem Garten, einer Kuh und einigem Kleinvieh und widmete sich zudem ganz der Fürsorge für ihre Kinder und die stetig wachsende Enkelschar. Im Alter konnte sie mit Zufriedenheit auf den sozialen Aufstieg ihrer Nachkommen blicken. Ihr ältester Sohn Friedrich war Naturwissenschaftler und Direktor der Realschule in Emden. Der zweite Sohn Rudolf wanderte in den 1880er Jahren mit seiner Frau nach Afrika aus. Er arbeitete als Kaufmann in Betschuanaland, einem britischen Protektorat auf dem Gebiet des heutigen Staates Botswana, schickte seine drei Kinder aber 1898 zur Ausbildung nach Deutschland zurück. Einer von ihnen, Rudi, kam bei der Familie von Rudolfs jüngerem Bruder Heinrich unter, der inzwischen als Pfarrer in Lippstadt arbeitete. Martin Niemöllers Verhältnis zu Rudi und seinen anderen Vettern aus Afrika blieb jedoch »kühl«. Dies mag vor allem daran gelegen haben, dass diese »sich als Engländer fühlten« und dies ihren Cousin auch wissen ließen. 4

August Niemöller, der dritte Bruder von Martin Niemöllers Vater, hatte es als Kaufmann und Teilhaber in einem Großhandelsgeschäft für Lebensmittel ebenfalls zu etwas gebracht, und der jüngere Bruder Wilhelm hatte in Schulpforta einige Jahre zusammen mit Heinrich studiert. Wilhelm arbeitete später als Lehrer für alte Sprachen an einem Gymnasium in Soest. Christine Niemöller, die jüngste Tante von Martin, durchlief die Ausbildung zur Lehrerin und heiratete einen Schulrektor. Allein Johanna, das älteste Kind von Gerhard Heinrich und Christine Niemöller, ergriff keinen bürgerlichen Beruf. Sie heiratete den Bauern Hermann Schaberg, dessen Hof in Wersen nur wenige Hundert Meter vom Haus der Mutter entfernt lag. 5

Martin Niemöllers Vater Heinrich war also nicht der Einzige aus dieser Generation der Familie, der das Abitur ablegte, anschließend studierte, als Akademiker den sozialen Aufstieg ins Bürgertum vollzog und dauerhaft absicherte. Die humanistische Ausbildung in Schulpforta mit ihrem Schwerpunkt, den alten Sprachen, hatte ihm die dafür nötige Grundlage vermittelt. Aber die Schule half Heinrich Niemöller auch in materieller Hinsicht, indem sie ihm für die sechs Semester des Theologiestudiums, das er in Leipzig und Halle absolvierte, ein Stipendium bereitstellte. Auch die älteren Geschwister August und Johanna liehen dem angehenden Theologen Geld.

Bereits nach der ersten theologischen Prüfung beim Konsistorium im Oktober 1884 bot der Superintendent dem jungen Heinrich Niemöller die Stelle eines Hilfspredigers in Lippstadt an. Zwei Mönche des dort seit 1281 ansässigen Augustiner-Eremitenklosters hatten 1523 aus dem Studium in Wittenberg die neue Lehre der Reformation in die Stadt an der Lippe gebracht und sie zur »ersten evangelischen Stadt in Westfalen« gemacht. In einem kleinen Büchlein beschrieb Heinrich Niemöller diese Geschichte später. Nach der Ordination im Jahr 1887 ernannte man ihn in Lippstadt zunächst zum Pfarradjunkten, 1890 wurde er dann auf die zweite Pfarrstelle der Stadtgemeinde Lippstadt gewählt. 6

Wie seine Vorfahren war auch Heinrich Niemöller in einer reformierten Gemeinde getauft worden. Doch durch die Ausbildung und Konfirmation in Schulpforta – das seit der Reformation auch die Funktion hatte, potenzielle Kandidaten für das Studium der Theologie und den lutherischen Pfarrerstand bereitzustellen – wurde er lutherisch geprägt. 7 Die Gemeinde in Lippstadt, in der er von 1890 bis 1900 als Pfarrer arbeitete, war in einem ebenso langen wie konfliktreichen Prozess aus der Vereinigung von reformierten und lutherischen Gemeinden im Zeichen der preußischen Union entstanden. Diese Bemühungen hatten in den 1830er Jahren begonnen und gelangten erst 1887, als Niemöller nach Lippstadt kam, zum Abschluss. 8 Die Vorgeschichte solch unierter Gemeinden reicht bis in das späte 18. Jahrhundert zurück. Damals hatte sich im evangelischen Bürgertum die Überzeugung herausgebildet, dass die aus dem Abendmahlsstreit im 16. Jahrhundert überkommenen Differenzen zwischen Reformierten und Lutheranern zu überwinden seien. Die territoriale Neuordnung der Staaten nach den napoleonischen Kriegen, die den Landesherren konfessionell durchmischte Territorien zuführte, hatte den Druck zur Bildung unierter Kirchen noch verstärkt. 9

In Preußen befürwortete König Friedrich Wilhelm III. eine Union der beiden protestantischen Bekenntnisse. Dazu entwarf er eine einheitliche Agende für die rituelle Ordnung des Gottesdienstes, die am Reformationstag 1817 erstmals zelebriert wurde. Das Oktroi stieß jedoch in den reformierten wie in den lutherischen Landesteilen auf heftigen Widerstand, der sich mit liberaler politischer Opposition gegen den König verband. Nur wenige Gemeinden – 1823 waren es gerade einmal sieben Prozent – übernahmen die gemeinsame Agende. So war die Evangelische Kirche der Union in Preußen, die 1817 unter dem Druck des Landesherrn entstand, in erster Linie eine Rechts- und Verwaltungsgemeinschaft mit dem 1850 geschaffenen Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin an der Spitze. Nachdem Preußen 1866 mehrere benachbarte Staaten – darunter das lutherische Königreich Hannover und das unierte Kurhessen – annektiert hatte, blieben deren Landeskirchen selbstständig und die Union in Preußen auf die altpreußischen Provinzen beschränkt, eben – so der offizielle Name seit 1922 – die Evangelische Kirche der altpreußischen Union. Letztlich war mit der Gründung der Union das ganze Gegenteil dessen erreicht worden, was man sich erhofft hatte: Neben die reformierte und die lutherische war »mit der Union faktisch eine dritte protestantische Konfession getreten«, die so zur »weiteren Zersplitterung der konfessionellen Landschaft« unter den Evangelischen führte. 10

Bevor er die Pfarrstelle in Lippstadt antrat, heiratete Heinrich Niemöller 1889 Paula Müller. Er kannte die Kaufmannstochter mit hugenottischen Vorfahren, die aus dem unweit von Wersen gelegenen Westerkappeln stammte, bereits seit seinem sechsten Lebensjahr. Im Jahr darauf wurde dem Ehepaar das erste Kind geboren, der Sohn Gerhard Heinrich, der jedoch 1894 nach kurzer Krankheit verstarb. Damit war der am 14. Januar 1892 zur Welt gekommene und nach dem Reformator Martin Luther benannte Sohn der älteste. Auf Martin folgten vier weitere Kinder: Magdalene (geb. 1894), Pauline (geb. 1896), Wilhelm (geb. 1898) und Maria (geb. 1901). Wie Wilhelm bezeugt hat, kam Martin als dem Ältesten eine unangefochtene »Vorrangstellung« unter den Geschwistern zu. 11 Er selbst »bewunderte« den großen Bruder, den die Eltern ihm als leuchtendes Vorbild hinstellten. Wilhelm hat zu dem Älteren aufgeschaut. Als sie noch Kinder waren, hat er ihm das Geld überlassen, das er mit dem Sammeln von Lumpen verdient hatte. 12 Nach 1945 hat er an der Niemöller-Legende gestrickt und den Bruder gegen Kritiker verteidigt.

Der Patriarch Heinrich Niemöller feiert am Vorabend des Ersten Weltkriegs Weihnachten im Kreise seiner Familie. Martin sitzt rechts...

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