3. Entfremdung
a) Allgemeines und Besonderes zur Entfremdung
Um Entfremdung adäquat beurteilen zu können, darf man sie nicht quantifizieren, sondern muß sie in ihrer Qualität, die quantitative Aspekte einschließt, analysieren. Entfremdung ist kein plötzlich auftauchendes Phänomen, das mit der gesellschaftlichen Entwicklung wächst1. Solche Betrachtungsweisen reduzieren die vielfältigen Erscheinungsformen der Entfremdung auf das einfache, aber falsche Schema angeblicher Meßbarkeit. Gleichzeitig wird jede differenzierte Darlegung der komplexen Problematik zunehmend schwieriger. Um dem Thema aber wenigstens annähernd gerecht zu werden, müssen zumindest gewisse Tendenzen berücksichtigt werden. Das Allgemeine, das alle entfremdeten Strukturen charakterisiert, kann nicht grundsätzlich mit dem Besonderen der jeweiligen geschichtlichen Lage identifiziert werden, weil objektive und subjektive Faktoren in spezifischen historischen Situationen korrelieren und zu unterschiedlichen gesellschaftlichen und individuellen Aktionen und Reaktionen führen können.
Die verschiedenen Formen der Arbeit schaffen entfremdete Verhältnisse, die immer die gesamte Gesellschaft betreffen, weil die Prostitution des Arbeiters „…ein Verhältnis ist, worin nicht nur der Prostituierte, sondern auch der Prostituierende fällt – dessen Niedertracht noch größer ist -, (und) so fällt auch der Kapitalist etc. in diese Kategorie“2. Dabei wirkt der historische Kontext bestimmend auf die Komponenten der Entfremdungsstruktur3. Deren sich verändernde Formen und Inhalte modifizieren die gesellschaftliche Qualität der Alienation, indem, zumindest dem Potential nach, die Möglichkeiten wachsen, um Entfremdung aufzuheben. Um also die entfremdeten Verhältnisse einer besonderen Gesellschaft angemessen beurteilen zu können, bedarf es eigentlich einer Analyse, die sämtliche Faktoren der Entfremdungsstruktur berücksichtigt. Allgemein müssen deren Elemente, wenn auch nicht im Detail, so doch wenigstens in ihrer entfremdeten und Entfremdung thematisierenden Existenz zur Kenntnis genommen werden. Die Analyse einer bestimmten entfremdeten Gesellschaft in einer spezifischen Lage setzt Interdisziplinarität voraus.
Um gesellschaftliche Tendenzen aufzuzeigen, muß bedacht werden, daß es in der konkreten Situation keine zwangsläufigen oder automatischen Prozesse gibt, sondern nur Potentiale, die unter bestimmten Voraussetzungen tatsächlich einen progressiven Charakter haben. Dabei ist zu bedenken, daß Entfremdung nicht zu einem beliebigen Zeitpunkt aufgehoben werden kann, sondern ihrerseits von gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen abhängt4.
Das konstitutive Element der Entfremdungsstruktur ist die Arbeit. Ihre Entwicklung bestimmt die Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Natur und somit das gesellschaftliche und individuelle Verhältnis zu deren Universalität. Dabei enthält die unentwickelte Tätigkeit, selbst wenn noch keine ausgeprägte Klassenstruktur besteht, eine fremde Beziehung von Mensch und Natur, weil ein derartiges Verhältnis immer mit entsprechend unentwickelten Fähigkeiten und Bedürfnissen zusammenhängt5. Arbeit ist ihrem Ursprung nach keine primär menschliche Tätigkeit. Denn selbst wenn „gesellschaftliches“ und individuelles Potential noch nahezu identisch sind, bleibt Arbeit eine äußerlich motivierte Tätigkeit, der allerdings die Tendenz zur Äußerung – z.B. in der Form von Tanz oder Malerei – innewohnt. Das Menschliche, Freie und Bewußte, ist der Arbeit immanent, muß aber innerhalb langwieriger dialektischer Entwicklungen erarbeitet werden6. Doch mit dieser Entwicklung einer zwar noch nicht freien – und ebensowenig grundsätzlich „unbewußten“ – Tätigkeit werden jene gesellschaftlichen Potentiale geschaffen, die letztendlich der Aufhebung der Entfremdung dienen können.
Die Dynamik entfremdeter Prozesse manifestiert sich in historischen Entwicklungen, deren modernste Ausdrücke immer Resultate vorausgegangener gesellschaftlicher Bewegungen sind. Dabei werden einst dominierende Existenzweisen der Entfremdung von neuen Formen zwar abgelöst, aber nicht unbedingt abgeschafft7. Es können, je nach dem gesellschaftlichen Entwicklungsgrad, verschiedene Formen entfremdeter Arbeit unterschiedlicher sozialer Bedeutung vorhanden sein, wobei einmal etablierte Formen entfremdeter Tätigkeit im globalen Rahmen, wenn auch quantitativ und qualitativ modifiziert, nicht einfach verschwinden.
Die gesellschaftliche Einheit von menschlichem Wesen und individueller Existenz, die sich unter nichtentfremdeten Bedingungen in den sozial vermittelten Fähigkeiten und Bedürfnissen gesellschaftlicher Individuen manifestiert, ist unter entfremdeten Bedingungen nicht gegeben8. Vielmehr charakterisiert es entfremdete Verhältnisse, daß aus den gesellschaftlichen Bedingungen eine Trennung von allgemeinem Wesen und individueller Existenz resultiert. Ursächlich dafür ist neben der in der Entwicklung befindlichen Tätigkeit die Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Potential und der auf Not, Zwang oder Zufall basierenden individuellen Arbeit, die sozialen Beschränkungen untergeordnet ist. Die objektiven Bedingungen finden ihren subjektiven Ausdruck in einer entsprechenden Klassenstruktur. Die diesen Strukturen immanenten persönlichen oder sachlichen Machtverhältnisse werden mittels der spezifischen Formen entfremdeter Arbeit erzeugt und verändert9. Dabei muß berücksichtigt werden, daß das gesellschaftliche Potential ein historisches Produkt ist. Es repräsentiert die allgemeinen Fähigkeiten einer Gesellschaftsformation in einer besonderen Situation10. Auf der anderen Seite befinden sich die individuellen Potentiale, die als subjektive Komponenten gesellschaftlicher Verhältnisse von diesen objektiven Bedingungen beeinflußt werden. Je entwickelter das gesellschaftliche Potential und je reduzierter die individuelle Tätigkeit, desto größer die individuelle Entäußerung der allgemeinen Fähigkeiten. Abhängig ist die Entäußerung von der Art gesellschaftlicher, betrieblicher und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Dementsprechend eingeschränkt ist nicht nur die individuelle Aneignung natürlicher und gesellschaftlicher Gegenständlichkeit, sondern auch das bewußtseinsbildende und bewußte Moment der Arbeit. Denn mit der sozial beschränkten Aneignung gesellschaftlichen Potentials ist eine reduzierte Äußerung individueller Potentiale verbunden. Tendenziell folgt daraus, daß eine fortschreitende Entwicklung der Arbeitsteilung, individuelle Verarmung begünstigt11.
Entfremdete Arbeit dient – bei gleichzeitiger Reproduktion des gesellschaftlichen Antagonismus – in erster Linie der Erhaltung der reduzierten Existenz. Sie ist somit Mittel, aber nicht Zweck und individuelle Bejahung des gesellschaftlichen Wesens12. Bei diesen Verhältnissen der Individuen zur Arbeit kann man allgemein konstatieren, daß individuelle Fähigkeiten nur insoweit bedeutsam sind, als sie ökonomische Qualität haben13. Subjektiv können sich allerdings Differenzen ergeben. Es handelt sich um die Frage der Wahrnehmung der individuellen Situation und der daraus resultierenden Reaktionen. Die individuellen Verhältnisse zur Arbeit können verschieden empfunden (Selbstentfremdung) und ausgedrückt werden (Entfremdung des Individuums von Gesellschaft und Natur), so daß die Trennung von gesellschaftlichem Potential und reduzierter Existenz unter Umständen der Einheit des individuellen Wesens mit der entfremdeten Existenz entspricht. Denn, abhängig von der Entwicklung der Produktivkräfte und der jeweiligen Form der Arbeitsteilung, kann auch die Art der Selbstentfremdung variieren.
So sind beispielsweise für die antike Form der Sklaverei unterschiedliche Inhalte feststellbar, die von der Arbeit auf Plantagen bis zur Tätigkeit Freigelassener als kaiserliche Sekretäre reichen. Je nach dem kann das Leben des einzelnen antiken Sklaven zwar reichhaltig sein, wodurch sogar eine individuell positiv erscheinende Beziehung zur Tätigkeit und damit zur eigenen Person vorhanden sein könnte. Jedoch hebt dies nicht die Abhängigkeit im Verhältnis zum Sklavenhalter auf. Die persönliche Bindung beider macht die positive Beziehung des Sklaven zu seiner Tätigkeit zum Zufall. Zumal die gesellschaftlichen Komponenten dieser Verhältnisse – trotz aller potentiellen Vielfalt – die fremde Beziehung des Menschen zum Menschen verdeutlichen, wenn die versklavten oder freigelassenen Individuen aufgrund ihrer „unfreien“ Herkunft stigmatisiert sind oder als „lebendige Werkzeuge“ funktionalisiert werden, um den Status quo des sozialen Antagonismus zu sichern14.
Auch zunftgebundene Handwerker bejahen sich mit ihrer reduzierten Tätigkeit möglicherweise. Allerdings hängt diese Bejahung von der Mitgliedschaft in der Zunft, also wiederum vom Zufall, ab. Konkret heißt dies u. a. von der Erblichkeit der Zugehörigkeit oder auch von den finanziellen Mitteln, um sich diese zu erkaufen. Andererseits kann die Person, die die Mitgliedschaft erbt, ein negatives Verhältnis zum Handwerk haben. Die Ausübung dessen hängt nicht von der Freiwilligkeit der Individuen ab. Vielmehr basieren die Gründe, den Beruf auf bestimmte Personen zu begrenzen, auf der Absicht, Konkurrenz auszuschalten, um die Existenz der Mitglieder zu sichern15.
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