Sie sind hier
E-Book

Mein Blick auf Ligeti / Partch & Compagnons

AutorManfred Stahnke
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl424 Seiten
ISBN9783743132320
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Dies ist meine Schriftensammlung von 1981 bis 2017. György Ligeti und Harry Partch kommen darin zentral vor. Sie beide haben wesentlichen Einfluss auf meine Denkweise und meine Kompositionen gehabt, welche ich immer wieder eingestreut in einer Auswahl beschreibe. Ich widme mich aber auch anderen Komponisten wie Pierre Boulez, Gérard Grisey oder Ben Johnston und meinen Freunden Sidney Corbett, Hubertus Dreyer, John Fonville, Hans Peter Reutter oder Mari Takano. Es geht immer wieder um die Entdeckung neuer Harmonik und Melodik jenseits unserer alten 12 Töne, um neue rhythmische Erfindungen jenseits der alten "Avantgarde". Mich faszinieren Musiken seit jeher von außerhalb Europas. Dem gegenseitigen Reagieren der verschiedenen Musiken gilt mein Hauptaugenmerk.

Der Hamburger Komponist und Musikologe Manfred Stahnke wurde 1951 in Kiel geboren und studierte ab 1966 in Lübeck Violine, Klavier und Komposition, ab 1970 in Freiburg, Hamburg und in den USA Komposition, Musikwissenschaft und Computermusik. Er legte das Examen in "Musiktheorie und Komposition" 1973 in Freiburg bei Wolfgang Fortner ab. 1979 promovierte er in Hamburg bei Constantin Floros über Pierre Boulez. Seine Lehrer in Komposition waren nach Wolfgang Fortner: Klaus Huber und Brian Ferneyhough (Freiburg), Ben Johnston (Urbana, USA) und György Ligeti (Hamburg). Zu seinen Kompositionen zählen Bühnenwerke: "DER UNTERGANG DES HAUSES USHER" 1981, "HEINRICH DER VIERTE" 1987, "WAHNSINN, DAS IST DIE SEELE DER HANDLUNG", Neufassung Berlin Staatsoper 2012, "ORPHEUS KRISTALL" 2002, Biennale München. Ferner Orchesterwerke und Konzerte, u.a. aufgeführt vom Radiosinfonieorchester Hilversum, den Kieler Philharmonikern und dem SWR-Sinfonieorchester, darunter "DANZBODNLOCK", Violinsinfonie mit Barbara Lüneburg (Violine) und Hans Zender; "SCALES OF AGES", Saxophonsinfonie mit John-Edward Kelly (Saxophon) und Thomas Kalb. Außerdem schrieb Stahnke viele Kammermusiken für Ensembles wie das ensemble modern, das Nieuw Ensemble Amsterdam, das ensemble decoder etc. Er reiste mit dem Ensemble CHAOSMA als Komponist und Keyboarder in viele Erdteile; war in Neuseeland, Südafrika oder in den USA Vortragender über aktuelle Musik; spielt derzeit mit dem Improvisationsensemble "TonArt" Viola. Seit 1989 ist er an der "Hochschule für Musik und Theater Hamburg" Professor für Komposition, seit 1999 Mitglied der "Freien Akademie der Künste in Hamburg", wo er derzeit (2017) die Sektion Musik leitet. Er wirkte viele Jahre im Musikbeirat des Goethe-Instituts München.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Gedanken zu Harry Partch


Für den Pianisten Herbert Henck geschrieben, der damals gerade seinen privaten Verlag "Neuland" gegründet hatte und bis heute extrem an neuen Denkentwicklungen interessiert ist. November 1980, redigiert 2016

1979/80 studierte ich bei Ben Johnston, einem Freund des inzwischen verstorbenen amerikanischen Harmonikers Harry Partch, und lernte dessen Musik und Theorie intensiv kennen. Wer Partch's Musik hört, kann sich kaum dem eigentümlichen Reiz seiner Mikro-Harmonik entziehen. Wie sie aber zustande kommt, bleibt uns zunächst verborgen. Es gibt bisher keine Notenschrift für diese Musik und auch sonst kaum Brücken, die uns Partch näher bringen könnten. Partch selbst legte Wert auf den Abbruch der Brücken zu Europa. Vielleicht aber hat er (mit Absicht?) einige vergessen oder nicht gründlich genug abgetragen.

Ich werde in diesen knappen Anmerkungen zu Harry Partch versuchen, uns seine Musik in Noten erfahrbar zu machen. Dieses Unternehmen erscheint, wenn wir unsere traditionelle Notenschrift verwenden wollen, zunächst absurd angesichts der 43 Töne pro Oktave bei Partch. Da Partch aber bei näherem Hinsehen uns bekannte Akkorde zum Ausgangspunkt seiner Harmonik nahm, liegt nichts näher, als diese Akkorde auf eine uns bekannte Weise zu notieren. Allerdings werden wir zu berücksichtigen haben, dass Partch 1. nicht-temperierte Intervalle wollte, 2. seine Harmonik bis hin zum für uns exotischen Intervall 11/8 erweiterte (dem "Natur-Tritonus").

Nach meinem Vorschlag einer Partch-Notation werden wir die Frage aufwerfen können, wie groß tatsächlich der Abstand zwischen Partch's Harmonik und jener westlicher Prägung ist, ob hier ein wesensmäßiger Unterschied oder nur ein gradueller vorliegt.

Abschließend werden wir einige fragmentarische Gedanken anfügen zum Problem, wieweit das Ohr Partch folgen kann und wieweit Partch seine Harmonik mit seinen selbstgebauten Instrumenten zu realisieren vermochte.

Gewiss hat Partch uns Hindernisse aufgebaut auf dem Weg in sein privates Labyrinth. Andererseits bietet er Wege an in Form von zahlreichen Hinweisen auf europäisches musiktheoretisches Denken von den Griechen bis zu Arthur von Oettingen.

Harry Partch, der komponierende Hobo und bastelnde Philosoph, lebte von 1901 bis 1974. Die erste deutsche Aufführung eines seiner Werke mit selbstgebauten Instrumenten (The Bewitched) fand erst 1980 in Berlin statt. Was wollte Partch, der sein Leben lang als Erzhasser westeuropäischer Musikkultur auftrat und doch einen großen Teil seiner Ideen aus ihr ableitete?

Partch berichtet über sein Denken umfassend in seinem Buch "Genesis of a Music".13 Schon der Titel gibt einigen Aufschluss: Er lautet nicht etwa "Genesis of a New Music"; denn als neu sieht Partch die Prinzipien der reinen Stimmung und des "corporealism" nicht an. Partch's Corporealismus meint emotionale "Greifbarkeit" und lehnt die westliche "abstrakte" Musik ab; wir kommen darauf zurück.

Just how old this 'new' philosophy actually is has since been a continual revelation to me.14

Partch vermied es auch, die reine Stimmung, sein Markenzeichen, unter dem er in Amerika mittlerweile erstaunlich bekannt ist, im Buchtitel hervorzuheben.

Wir werden sehen, dass es ihm durchaus nicht nur um reine, einfache Intervalle ging. "Genesis of a Music" meint das Erfinden einer Musik (von vielen möglichen) im Gegensatz zum Erfinden im Rahmen einer bestehenden Musikkultur.

Mine is a procedure more of antithesis than of simple modification.15

The creative individual, in developing the man-made ingredients and in examining the God-given, finds the way to a special kind of truth.16

Als "gottgegeben" sieht Partch nur zweierlei: 1. die Fähigkeit eines Körpers zu vibrieren und dadurch Klang zu erzeugen, 2. den Mechanismus des menschlichen Ohres, diesen Klang zu registrieren. Alles andere: Skalen, Instrumente und die Theorie dahinter, sei vom Menschen gemacht und müsse immer neu hinterfragt werden. Keineswegs meint Partch, die reinen Intervalle seien gottgegeben, oder gar, seine reine Stimmung sei der Zwölftontemperierung (gegen die er vornehmlich kämpft) überlegen.

Music systems are made valid - and workable by significant music.17

Equal Temperament has proved "practicable" simply because the music written for its instruments is significant.18

Wir verstehen Partch falsch, wenn wir meinen, er denke nur in Akkorden mit einfachen Intervall-Proportionen. Er geht im Gegenteil mitunter von außerordentlich komplexen Verhältnissen aus, z.B. gleichzeitig erklingenden Tönen im Verhältnis 55/54 zueinander.19 Die weitaus größte Zahl der 340 in seinem System vorkommenden Intervalle ist ähnlich komplex. Partch bezeichnete sein System als ein "Spiel von relativer Konsonanz gegen relative Dissonanz".20 Hierin, und nicht im möglichen autistischen Geklingel reiner Intervalle, liegt der exotische Reiz von Partch's Kompositionen.

An diesem Punkt wird es nötig, in die Einzelheiten der Partch'schen Skala zu gehen und Fragen der klanglichen Realisierung anzuschneiden. Wir können hier keine ausführliche Darstellung des Systems und der Partch'schen Instrumente geben. Um aber die vielleicht zukunftweisenden Möglichkeiten aufzuzeigen und sie gleichzeitig vor gewissen Illusionen Partch's in Schutz zu nehmen, müssen wir wenigstens Umrisse andeuten.

Zunächst gilt es festzuhalten, dass Partch keine Musik schreiben wollte, deren Fremdartigkeit Selbstzweck ist. Partch's Skala aus 43 Tönen pro Oktave steht im Dienst der Idee Corporealismus. Seine Musik baue, so Partch, auf "vokalisierten Wörtern" auf, deren Zweck der Transport von Bedeutung sei.21 Sie habe Beziehung zu "einer Zeit und einem Ort, einem Hier und Jetzt".22 Sie suggeriere "wirkliche Identitäten, wirkliche menschliche Situationen".23 Partch bezieht sich hierbei auf alte Musikkulturen (er erwähnt die chinesische, altgriechische, arabische, indische), wo "überall Musik physisch verbunden war mit Dichtung oder Tanz". Partch's Diskussion z.B. der Florentiner Camerata als Reaktion gegen die "Wortverrenkungen der restriktiven liturgischen Polyphonie",24 oder des Gluck'schen Kampfes gegen Virtuosenmätzchen zeigt, dass er seine Idee des Corporealismus auf eine breite Basis zu stellen vermag. Auch Neueres, wie Mahlers Lied von der Erde und Schönbergs Pierrot lunaire sieht er einem corporealen Prinzip verpflichtet. Angesichts von Schönbergs sonstigem "Abstraktionismus" müsse der Pierrot aber eher als ein "schrulliges Abenteuer" angesehen werden.25

Partch erwähnt in diesem Zusammenhang auch amerikanische Pop-Musik, die "trotz mancher Unzulänglichkeiten nichts einem halbgebildeten und akademischen Europäismus" verdanke.26

From one standpoint the twentieth century is a fair historic duplicate of the eleventh. At that time the standard and approved ecclesiastical expression failed to satisfy an earthly this-time-and-this-place musical hunger; result: the troubadour...27

Partch selbst zog viele Jahre als fahrender Sänger durch die U.S.A. und begleitete sich dabei auf seiner "Adapted Viola", einer Viola mit Violoncellohals.

Diese knappen Anmerkungen zum Corporealismus Partch's mögen ein Hinweis darauf sein, dass wir nicht den ganzen Partch beschrieben haben, wenn wir uns seinem Tonsystem und seinen Instrumenten zuwenden.

Eine der größten Schwierigkeiten, Partch's System zu verstehen, liegt darin, dass wir nicht an seine proportionale Denkweise und an die teilweise in seinen Werken praktizierte proportionale Schrift gewöhnt sind. Eine Akkordfortschreitung notiert er z.B. so:

Partch denkt in harmonischen Proportionen, nicht in uns geläufigen Notennamen. So heißt der Grundton seines Systems nicht G (392 Hertz), sondern "1/1", "Prime Unity". Ganz wesentlich ist, dass Partch das direkte Hören reiner Intervalle will, nicht ein korrumpiertes Hören, das für echt hält, was verstimmt ist (wie in der Zwölftontemperierung).

Falsch wäre es anzunehmen, Partch's System beruhe auf der Darstellung von Naturtonreihen, auch wenn er deren Proportionen bis zur Zahl 11 verwendet. Partch meint, das Ohr sei von Partialtönen als solchen unbeeindruckt, es nehme aber Intervalle mit harmonischen Proportionen als etwas Besonderes wahr.28

Um Partch in Notenschrift zu transkribieren (ihn uns damit vorstellbar und erfassbar zu machen), müssten wir uns auf ein spezielles Zeichensystem einigen, das reine Quinten 3/2, Terzen 5/4 und 6/5, Septen 7/4 und Tritoni 11/8 darstellen kann. Partch hat darauf sein Leben lang verzichtet. Sofern er nicht Proportionen notiert, verwendet er tabulaturähnliche Schriften oder, wie bei seinem umgestimmten Harmonium, herkömmliche Notation ohne Kongruenz zum klanglichen Resultat.

Skizzieren wir eine mögliche Umschrift, aus der die gemeinten Tonhöhen zu ersehen sind:

  1. Angenommen sei eine pythagoräische Quintenfolge (nur reine Quinten enthaltend): ...B - F - C - G - D - A - E... Im Gegensatz zum temperierten System würden hier z.B. C und His um das pythagoräische Komma von 23.5...
Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Musik - Instrumente - Jazz - Musikwissenschaft

Jahrbuch Musikpsychologie Band 17

E-Book Jahrbuch Musikpsychologie Band 17
Musikalische Begabung und Expertise Format: PDF

Der Schwerpunkt von Band 16 ist dem Thema "Wirkungen und kognitive Verarbeitung in der Musik" gewidmet. Themen sind u.a.: Understanding the expressive performance movements of a solo pianist,…

Jahrbuch Musikpsychologie Band 17

E-Book Jahrbuch Musikpsychologie Band 17
Musikalische Begabung und Expertise Format: PDF

Der Schwerpunkt von Band 16 ist dem Thema "Wirkungen und kognitive Verarbeitung in der Musik" gewidmet. Themen sind u.a.: Understanding the expressive performance movements of a solo pianist,…

Jahrbuch Musikpsychologie Band 17

E-Book Jahrbuch Musikpsychologie Band 17
Musikalische Begabung und Expertise Format: PDF

Der Schwerpunkt von Band 16 ist dem Thema "Wirkungen und kognitive Verarbeitung in der Musik" gewidmet. Themen sind u.a.: Understanding the expressive performance movements of a solo pianist,…

Plastizität und Bewegung

E-Book Plastizität und Bewegung
Körperlichkeit in der Musik und im Musikdenken des frühen 20. Jahrhunderts Format: PDF

Musik vermag es, Körperlichkeit in neuer Weise für die Kulturwissenschaften fruchtbar zu machen. Zu oft missverstanden als klingendes Beiwerk bewegter Körper in Tanz oder szenischer…

Plastizität und Bewegung

E-Book Plastizität und Bewegung
Körperlichkeit in der Musik und im Musikdenken des frühen 20. Jahrhunderts Format: PDF

Musik vermag es, Körperlichkeit in neuer Weise für die Kulturwissenschaften fruchtbar zu machen. Zu oft missverstanden als klingendes Beiwerk bewegter Körper in Tanz oder szenischer…

Weitere Zeitschriften

Menschen. Inklusiv leben

Menschen. Inklusiv leben

MENSCHEN. das magazin informiert über Themen, die das Zusammenleben von Menschen in der Gesellschaft bestimmen -und dies konsequent aus Perspektive der Betroffenen. Die Menschen, um die es geht, ...

Berufsstart Gehalt

Berufsstart Gehalt

»Berufsstart Gehalt« erscheint jährlich zum Sommersemester im Mai mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und ermöglicht Unternehmen sich bei Studenten und Absolventen mit einer ...

bank und markt

bank und markt

Zeitschrift für Banking - die führende Fachzeitschrift für den Markt und Wettbewerb der Finanzdienstleister, erscheint seit 1972 monatlich. Leitthemen Absatz und Akquise im Multichannel ...

dima

dima

Bau und Einsatz von Werkzeugmaschinen für spangebende und spanlose sowie abtragende und umformende Fertigungsverfahren. dima - die maschine - bietet als Fachzeitschrift die Kommunikationsplattform ...

DULV info

DULV info

UL-Technik, UL-Flugbetrieb, Luftrecht, Reiseberichte, Verbandsinte. Der Deutsche Ultraleichtflugverband e. V. - oder kurz DULV - wurde 1982 von ein paar Enthusiasten gegründet. Wegen der hohen ...