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E-Book

Mein Blind Date mit dem Leben

Als Blinder unter Sehenden - eine wahre Geschichte

AutorSaliya Kahawatte
VerlagEichborn AG
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783838756011
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR

15 Jahre lang verschwieg Saliya Kahawatte, dass er nur noch zu 5 Prozent sehen kann. Wie und warum er das tat, erzählt er in diesem Buch.

Mit 15 Jahren verliert der Deutsch-Singhalese Saliya Kahawatte innerhalb von Monaten einen Großteil seines Augenlichts. Die Ärzte sagen, dass er eines Tages völlig blind sein wird. Er soll die Schule verlassen und in die Blindenwerkstatt, er aber träumt von Abitur, Studium und selbstbestimmtem Leben. 15 Jahre lang verschweigt er seine Behinderung, um in der Welt der Sehenden Karriere machen zu können. Fingerspitzen, Ohren und seine Intuition ersetzen seine Augen. Er arbeitet härter als die anderen, lernt mit Hilfe eines Sprachcomputers und weniger Eingeweihter Bücher, Stadtpläne oder als Barchef Getränkekarten auswendig. Das Zählen von Treppenstufen gehört zu seinen Strategien wie das Dummstellen im Notfall. Für seinen Weg zahlt er einen hohen Preis: Selbstverleugnung, innere Einsamkeit, immer wieder Suchtgefährdungen. Erst als er lernt, dass man nicht gegen, sondern nur mit seiner Behinderung leben kann, ist er wirklich im Leben angekommen.

Selbstironisch und ermutigend erzählt Saliya Kahawatte von seinem Weg durch extreme Höhen und Tiefen.

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Leseprobe

EINS

Heute. Klarheit

Mein Lieblingsweg führt an der Außenalster entlang. Ich gehe unheimlich gern spazieren, möglichst ein- bis zweimal pro Woche, meistens abends nach der Arbeit. Der Startpunkt ist für mich am Schwanenwik, direkt am Wasser, und der Wind sagt mir, wie die Alster gerade aussieht: spiegelglatt, ein bisschen wellig oder richtig aufgewühlt. Ich spaziere Richtung Norden, am Gästehaus des Hamburger Senats vorbei, wo immer ein Polizeiauto steht. Oft lassen die Polizisten die Standheizung laufen, ich erkenne das Auto am Dieselgeruch und am Geräusch. Wenn es Sommer ist und hell, bemerke ich den Wagen nur manchmal – aus einem bestimmten Blickwinkel und bei günstigem Licht. Als Nächstes kommen ein Ruderclub und eine Moschee, ein kleiner Park. Später geht es etwas bergab, danach ändert sich der Boden, da spüre ich Baumwurzeln. Wenn ich sehr viel Zeit habe, laufe ich noch bis zur großen Brücke, wo eine leichte Brise oft den Pommesgeruch eines Restaurants herüber weht. Dann kehre ich um und spaziere denselben Weg zurück.

Normalerweise erzähle ich so was nicht gern, weil die Leute schnell denken: Voll der Spinner! Fast blind, dazu noch gehbehindert – aber allein im Dunkeln an der Alster herumspazieren! Manche denken es nicht nur, sondern sagen es auch. Und wahrscheinlich machen sie dabei ein entsetztes Gesicht, aber das sehe ich zum Glück nicht.

Immer wieder höre ich auch den Ratschlag: »Sei vernünftig, nimm wenigstens deinen Stock mit.« Wie soll ich darauf angemessen reagieren? Ich will nicht zynisch klingen, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als zu fragen: »Welchen Stock meinst du denn? Den Blinden- oder den Gehstock?«

Mein Sehvermögen beträgt gerade mal fünf Prozent – in Umgebungen, die ich nicht kenne, brauche ich den Blindenstock tatsächlich. Außerdem sind meine beiden Hüften kaputt, das verdanke ich einer Chemotherapie. Rechts habe ich seit Langem ein künstliches Hüftgelenk, mittlerweile ist es so abgenutzt, dass die Prothese bald ausgetauscht werden muss. Das linke, noch nicht operierte Hüftgelenk ist ebenfalls stark angegriffen. Rein theoretisch wäre es also vernünftig, einen Gehstock zu benutzen. Aber in der Praxis ist es ein Unding, gleichzeitig mit zwei Stöcken zu hantieren. Selbst wenn ich es hinbekommen würde, wäre ein Spaziergang dann kein Genuss mehr. Deshalb verzichte ich auf beide Stöcke.

Bevor ich den Weg an der Alster das erste Mal allein gegangen bin, hat mich ein Freund begleitet. Dabei habe ich mir die verschiedenen Untergründe eingeprägt, sie sind verlässliche Anhaltspunkte: Asphalt, Platten, Schotter, festgetretener Sandboden, Gras. Gut für die Orientierung, wenn der Asphalt mal Wellen hat, gut, wenn sich kleine und große Gehwegplatten abwechseln. Das spüre ich unter meinen Füßen, ich höre es auch an meinen Tritten und den Tritten anderer Menschen. Außerdem orientiere ich mich an allem, was sonst noch zu hören, spüren, riechen ist: Stimmen, Wind in den Bäumen, Gläserklirren, Musik, Fahrradreifen, Motoren, Speisen, Pflanzendüfte … Für alle Fälle habe ich auch im Kopf, wie viele Schritte es von einem markanten Punkt bis zum nächsten sind.

Wenn ich so beschwingt vor mich hin spaziere, merken mir die anderen Passanten meine Sehbehinderung kaum an. Es ist schon vorgekommen, dass mich jemand nach dem Weg gefragt hat. Auch meine Gehbehinderung fällt nicht sofort auf – nicht mal mir selbst. Natürlich habe ich Schmerzen, aber wenn ich gut drauf bin, blende ich sie aus. Zudem sorge ich mit gezieltem Training im Fitnessstudio dafür, Muskeln aufzubauen, die die Gelenke entlasten.

Vielleicht bin ich wirklich manchmal ein Spinner. Aber das Spazierengehen und der Sport sind für mich keine Extravaganzen, sondern lebenserhaltende Maßnahmen. Ich brauche sie für die Balance. Damit meine ich: seelische Ausgeglichenheit, körperliche Ausgeglichenheit, das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele. Nur wenn alles ausgewogen ist, kann man aufrecht durchs Leben gehen. Und da die Balance von Natur aus nicht zu meinen Gaben gehört, fördere ich sie, indem ich mich möglichst viel an der frischen Luft bewege und täglich Sport treibe. Einen Tag Krafttraining, einen Tag Ausdauertraining, immer im Wechsel, immer 45 Minuten. Bis vor einiger Zeit war ich sogar öfters mit einem Kumpel an der Alster joggen. Doch nach einem gefährlichen Sturz bin ich dazu übergegangen, meine Kondition auf dem Laufband oder im Schwimmbad zu trainieren. So viel Vernunft besitze ich dann doch.

Seitdem ich mich intensiv um meine Balance kümmere, komme ich sehr gut mit mir und meinem Leben klar. Dass ich offiziell zu hundert Prozent schwerbehindert bin, leugne ich nicht. Aber diese Behinderungen stehen mir nicht mehr im Weg – weder auf meinen Spaziergängen noch auf meinem Lebensweg. Ich bin mit mir selbst im Reinen, ich kenne meine Ziele, ich erreiche sie. Und ich stelle immer wieder fest, dass das gar nicht so schwierig ist. Eigentlich braucht man neben der Balance nur wenige Voraussetzungen zu erfüllen. Erstens: Lass dir deine Ziele nicht aufdrängen, sondern setze sie dir selbst. Zweitens: Vertraue auf deine Sinneswahrnehmung und nutze die Sinne, die dir zur Verfügung stehen, ganz intensiv. Drittens: Such dir qualifizierte, vertrauenswürdige Helfer. Viertens: Investiere Energie. Ich glaube, die Energie ist das Einfachste an der Sache. Der Mensch hat so viel Kraft. Schade, dass sie oft ungenutzt bleibt.

Meiner Erfahrung nach halten die allermeisten Leute das, was sie sich nicht vorstellen können, für unmöglich. Dadurch beschränken sie sich und andere in ihrem Denken, ihrem Handeln, sie lassen enorme Potenziale brachliegen. Und sie reagieren ungläubig oder verunsichert, wenn einer wie ich ihnen ein scheinbar unmögliches Leben vorlebt. Manche würden mich aufgrund meiner Behinderungen wohl am liebsten einfach nur bemitleiden. Es strengt sie an, sich auf Augenhöhe mit einem beruflich erfolgreichen und körperlich durchtrainierten Mann auseinanderzusetzen, der nebenbei ein paar Handicaps hat.

Als Unternehmensberater, Personal Coach und Trainer habe ich täglich viele Stunden mit Menschen zu tun. Alle meine Kunden wissen, dass ich fast blind bin, und kommen bestens damit klar. Sie denken sich: Der Kahawatte hat vielleicht ein Problem, aber es ist sein Problem, nicht unseres. Wir kaufen bei ihm Leistungen ein, er macht seinen Job. Die Kunden labern nicht lange herum, nehmen keine unnötige Rücksicht, sondern denken ergebnisorientiert, immer schön geradeaus. Das gefällt mir.

Vielen Kunden ist meine Sehbehinderung egal – andere sind sich bewusst, dass ich aufgrund des Handicaps besondere Fähigkeiten entwickelt habe, von denen sie profitieren. Ich verfüge nämlich über eine extrem feine auditive Wahrnehmung und erspüre Dinge, die Sehenden verborgen bleiben.

Oft heißt es ja, die Augen seien der Spiegel der Seele. Damit kann ich nichts anfangen, für mich schwingt die Seele in der Stimme mit. Wer versucht, mir mit seiner Stimme etwas vorzumachen, hat sich gründlich verkalkuliert. Angst, Freude, Lügen, Ehrlichkeit, Unsicherheit, Gefühlskälte, Warmherzigkeit, Ablehnung, Zuneigung und, und, und – höre ich alles sofort, auch wenn mein Gegenüber sich für noch so cool hält.

Kürzlich sagte ein anderer Unternehmensberater zu mir: »Weil du deine Umgebung auditiv wahrnimmst, speicherst du die Informationen auch anders ab, wertest sie anders aus und kommst zu anderen Ergebnissen. Das ist eine sehr wertvolle Befähigung. Ich finde, bei dir darf man nicht von Behinderung sprechen, sondern es ist eine Leistungswandlung.«

Wäre es nach all den Behindertenberatern und Fachbehörden gegangen, mit denen ich im Laufe meines Lebens zu tun hatte, würde ich heute in einem Beruf arbeiten, der überhaupt nicht zu mir passt. Zum Beispiel als Bürstenhersteller. Ich sollte eine »behindertengerechte Ausbildung« absolvieren, die mich wahrscheinlich geradewegs in eine Blindenwerkstatt geführt hätte. Für diese Aussichten erwartete man von mir auch noch Dankbarkeit, denn schließlich kosten sowohl Behindertenausbildungen als auch -werkstätten die Steuerzahler ein Vermögen.

Immer wieder wurde ich ermahnt: »Seien Sie realistisch! Hören Sie auf zu träumen.«

Ich blieb realistisch, auf meine Art. Ich war und bin der Meinung: Wenn ein gebildeter, vielfach befähigter und motivierter Mensch sich zeit seines Lebens auf Staatskosten langweilt, ist das eine persönliche und volkswirtschaftliche Katastrophe. Heute führe ich ein selbstständiges, selbstbestimmtes und volkswirtschaftlich sinnvolles Leben. Ich zahle Steuern, beschäftige Mitarbeiter in meiner Firma und langweile mich nie. Ganz im Gegenteil, mein Alltag ist ziemlich stressig: Zwölf-Stunden-Tage, selten freie Wochenenden. Ich leiste nichts Unmögliches, aber ich will mich auch nicht unterfordern. Jeden Tag habe ich Spaß an dem, was ich tue. Spaß ist fast so wichtig wie Balance. Bei uns im Büro wird hart gearbeitet, aber auch viel gelacht. Es ist ein junges Team. Fresh and funky.

Den angeblich gut gemeinten Tipp, mit dem Träumen aufzuhören, finde ich besonders fatal. Wohin soll das führen? Und wie soll das gehen? Gehirn ausschalten? Sich absichtlich eine Träumbehinderung zulegen? Mir reicht schon seh- und gehbehindert.

Meine Träume konnte ich verwirklichen. Auch diejenigen, die ich mich kaum zu träumen wagte. Zum Teil sind für mich sogar Träume wahr geworden, deren ich mir gar nicht bewusst war. Früher habe ich nie daran gedacht, mich als Unternehmensberater selbstständig zu machen. Heute sehe ich, dass es meine Berufung ist und dass der Wunsch wahrscheinlich lange in mir...

Blick ins Buch

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