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E-Book

Mein Jahr mit dem Tod

Wie ich den großen Unbekannten besser kennenlernte

AutorHeike Fink
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641217235
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
»Ich will dem Tod auf die Schliche kommen. Warum beherrscht er uns so?« (Heike Fink)
Am Grab eines Freundes ist es da: Das Entsetzen darüber, dass auch das eigene Leben endlich ist! Was ist das, der Tod, dem niemand entgeht? Wird das Unvermeidliche erträglicher, wenn man ihm in die Augen sieht?
Heike Fink probiert es. Ein Jahr lang sucht sie die Nähe von Menschen, die einen besonderen Umgang mit dem Tod pflegen. Sie spricht mit einem Bestatter, einem Friedhofsgärtner, der Leiterin eines Hospizes und einem Physiker mit Nahtoderfahrung. Ein Tatortreiniger erzählt ihr von seinen Erfahrungen und eine todkranke Sängerin, deren Stimme nur noch jüdische Lieder singen mag. Geschichten voller Witz und Poesie, manchmal traurig, manchmal sentimental, immer ehrlich und sehr berührend.


  • Geschichten vom Tod - voller Leben
  • Unterwegs mit Handwerkern, Archivaren und Gestaltern des Todes
  • Eine Entdeckungsreise auf der Spur der eigenen Endlichkeit
  • Unverkrampft und heiter, poetisch und unterhaltsam


Heike Fink, geboren 1968, wuchs in Schwaben zwischen Weinbergen und Kochtöpfen auf. Sie studierte Literaturwissenschaft und Soziologie und arbeitete als Journalistin und Testesserin. Seit 2000 schreibt sie Drehbücher und macht Dokumentarfilme. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

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Leseprobe

1 JANUAR – WISSENSCHAFT

Vom anderen Vollmond

und der fehlenden Erinnerung ans Totsein

Ich habe Angst vor dem Tod.

Gleichzeitig fasziniert er mich. Warum ist das so? Würde man mehr von sich selbst verstehen, vom Sinn und Zweck seines Daseins, wenn man mehr über ihn wüsste? Im Allgemeinen glaubt man das. Um es herauszufinden, müsste ich mich ihm annähern. Mitunter, stelle ich fest, gibt er sich nämlich recht einladend, ihn als geheimnisvolles Rätsel zu begreifen. Aber warum sollte ich? Braucht man überhaupt einen Lebenssinn? Ich atme, ich esse, schlafe, mache Liebe, habe Familie, Freunde und einen erfüllenden Beruf. Ich bin gesund und mobil. Ich beherrsche mehrere Fremdsprachen: Englisch, Schulfranzösisch und Schwäbisch. Ich kann die basalen Grundgefühle voneinander unterscheiden und weiß, was ich tun muss, um mich aufzuheitern, wenn es mir dreckig geht. Zwar glaube ich an keinen Gott, empfinde trotzdem Dankbarkeit, weil es Schönheit auf Erden gibt. Ich habe alles, was ich brauche. Und noch viel mehr ...

... außer die Kontrolle über meine Lebenszeit.

Physikalisch gesprochen bin ich ein instabiler, radioaktiver Atomkern, der mit Sicherheit zerfallen wird, ohne dass der Zeitpunkt des Verfalls vorausbestimmt werden könnte.

Wer oder was ist der Tod? Warum ist der Zerfall naturgegeben und der Moment des letzten Zerbröselns ein absoluter, erbarmungsloser Zufall?

Um die Angst vor dem Tod zu verlieren, muss ich bloß begreifen, dass ich zerfalle, dass ich sterblich bin, dass es allem Lebendigen so ergeht und Sterben also völlig normal und natürlich ist.

Es ist der unerträglichste Gedanke meines Lebens, die schrecklichste Erkenntnis, die mich je heimgesucht hat; schlimmer als Erwachsenwerden. Meine Körperwärme, mein Duft, mein Fingerabdruck, meine Einfälle und die Art, beim Sprechen, das S leicht zu zischeln werden mit mir zugrunde gehen. Irgendwann einmal werde ich ausgelöscht sein. Ich habe keine Idee davon, was das Ende meines Bewusstseins bedeutet. Ich kann mir nicht vorstellen, NICHT zu sein.

Wie geht Nichtsein? Das Fremde, sagt man, verursacht mitunter Ängste. Je mehr man darüber weiß, desto eher gewöhnt man sich daran. Lernte ich ihn nun kennen, diesen unbekannten, entfernten, fremden Tod und gewöhnte mich an ihn ...

... würde dann die Angst weniger?

Am liebsten würde ich die Finger davon lassen. Es ängstigt mich schon, das Wort TOD zu schreiben. Das Wort T O D. Es starrt mich an, versucht mir in die Augen zu sehen. Mein Blick weicht seinem runden Vollmondgesicht mit den unterschiedlichen Ohren aus, kaum dass meine Finger die drei Buchstaben schreiben. In großen Lettern wirkt er noch bedrohlicher. T O D. Als kleiner Tod verliert er ein wenig sein einschüchterndes Auftreten. Sein Gesicht verwandelt sich in einen Mund, der o sagt; ein beinahe erstauntes Oh! Schreibe ich ihn von hinten her – Dot – wird aus ihm eine englische Vokabel. Sie bedeutet Punkt.

Es war einer dieser Tage, an denen man die Welt besonders intensiv wahrnimmt; kühle Luft auf den Wangen spürt, die feuchte Erde und den beginnenden Herbst riecht. Selten kam mir das Laub der Bäume so orangerot und glühend vor. Zwischen den Blättern spielte die Sonne. Es war ein wundervoller, kristallklarer Tag. Nur, wenn ich meinen Blick senkte, legte sich ein Nebelschleier vor meine Augen.

Die frische Erde ist der Hügel neben dem Grab meines Freundes. Um mich gruppieren sich dunkel gekleidete Menschen, Freunde, Bekannte und Unbekannte. Sie schweigen. Manche murmeln. Keiner weint laut. Ich stehe am Fuß des Grabes. Ich halte eine Rose in der Hand und weiß nicht, wie ich sie hinunterwerfen soll. Kann man das verlernen? Ich spüre einen Sog und schwanke leicht. Zwei Meter geht es hinab ins Erdreich. Der Wind weht sacht. Über mir rauschen die Bäume. Ich erinnere mich, dass alle, die vor mir an das Grab getreten sind, gewankt haben und sich ausbalancieren mussten. Haben sie alle dasselbe empfunden wie ich? Meine Hand öffnet sich. Die Rose fällt zu den anderen. Wie Mikadostäbe liegen sie kreuz und quer auf dem Sarg.

Keine halbe Stunde später esse ich Nusstorte und unterhalte mich mit Leuten, die ich zum ersten Mal sehe. Auf gewisse Weise sind wir uns nah. Der Tod hat aus uns eine Wahlverwandtschaft werden lassen für diesen einen Tag. Es braucht nicht viele Worte, seine Empfindungen mitzuteilen, einander zu verstehen. Trotzdem sprechen wir, viel sogar und analysieren unsere Bekanntschaftsbeziehungen, deren Knotenpunkt der Tote ist. Dabei witzeln wir, als sei nichts gewesen, als sei da keine Trauer in uns, die uns die Brust eng macht. Das dunkle Loch in der Erde auf dem Friedhof ist Abstraktion geworden. Zum Kaffee gibt es Hochprozentiges und plötzlich fällt mir auf, dass ich mich in dieser leicht übergeschnappten Stimmung, die ich von anderen Beerdigungen her kenne und die mir typisch erscheint, ziemlich wohlfühle inmitten der Gemeinschaft anderer. Jemand sagt »Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.« Es wird auf den Toten angestoßen. Vernuschelt höre ich Wortfetzen: »Es muss weitergehen«, »Jaja, so ist das Leben«. Erinnerungen über den Verstorbenen werden ausgetauscht, häufig eingeleitet mit »Es hätte ihm gefallen, dass ...«

... wir uns gepflegt betrinken.

... alle zusammen sind.

... wir lachen und scherzen.

... wir uns so gut halten und keiner heulend zusammenbricht.

Dabei möchte ich heulen und schreien, ich möchte kreischen und toben, schluchzen und wehklagen und in den Meeresfluten meiner Trauer ertrinken. Nichts kann mich trösten. Nichts kann meinen Freund zurückbringen. Wie kann ich diesen Schmerz jemals ertragen? Am Nebentisch unterhalten sich einige darüber, wie sie selbst einmal sterben möchten, wenn sie die Wahl hätten. Fast alle möchten schnell und schmerzfrei sterben. Es herrscht die einhellige Meinung darüber, dass unser toter Freund es gut getroffen hat. Binnen eines Augenblicks hörte sein Herz auf zu schlagen. Noch bevor er auf dem Fußboden aufschlug, war er tot. Er hat weder den Aufprall gespürt, noch den Krach gehört, den sein rund neunzig Kilo schwerer Körper verursacht hat. An seiner verdrehten Körperhaltung konnte der Arzt, der den Totenschein ausstellte, es ablesen. Plötzlich wollen alle so sterben wie unser Freund – nur nicht so jung natürlich. Mich wundert, dass keiner nicht sterben will und frage in die Runde. Tatsächlich will niemand unsterblich sein. Außer mir!

Der Mann mir gegenüber, der bisher geschwiegen und mit Hingabe Torte gegessen hat, sagt ohne Zusammenhang: »Wenn man Leichenschmaus wortwörtlich nimmt ...« Das Lachen platzt aus mir heraus. Ich lache, bis ich weine und umgekehrt, dann werde ich wieder ruhig. Ich halte mich recht gut, denn ich abstrahiere den konkreten Tod meines Freundes. Er liegt nicht da unten in der Erde und vermodert. Er ist von nun an in meinen Gedanken und wird dort weiterleben ...

... wann immer ich an ihn denke, solange ich an ihn denke ...

... bis ich selbst ... einmal nicht mehr bin.

Es dauert einen Augenblick, bis ich meine eigenen Gedanken begreife und mir peu à peu beim Betrachten der dunkleren Flecken, die sich neuerdings auf meinen Hand­rücken ausbreiten, das Ausmaß dessen bewusst wird, was ich bisher nur erahnte: Urplötzlich überschreitet der Tod den Bannkreis, den bislang Jugend, Jungsein und Jungaussehen um mich gezogen hatten. Meine Tochter zieht aus, erste Falten ziehen in mein Gesicht, weiße Haare auf meinen Kopf. Vermehrt sterben Personen im meinem näheren Umkreis. Mein Freund ist tot. Menschen gehen für immer verloren. Auch ich werde verloren gehen und der Welt abhandenkommen. Dieser Sog ist drängender als der vorhin am offenen Grab. Tagelang schleppe ich ihn neben der Trauer um den Verlust des Freundes mit mir herum. Von nun an wird es schwerer Leichtigkeit zu spüren. Ich befinde mich in der Mitte des Lebens. Man könnte sagen, die Hälfte ist vorüber. Man könnte aber auch sagen, der zweite Teil liegt vor mir. So oder so – es ist Halbzeit. Die Hälfte der Zeit ist unwiederbringlich passé, womöglich vertan. Aber so weit will ich nicht denken! Ich muss eine Methode entwickeln, um das Unerträgliche ertragbar zu machen – die Vorstellung, dass mir wahrscheinlich nicht mehr genügend Zeit bleibt, um alles noch zu erleben, was ich erleben will, bis es ernst wird.

Mein Freund und ich waren gleichaltrig. Er ist der Erste, der gegangen ist. Noch bin ich und sind wir anderen die Überlebenden. Im Angesicht des Todes, davon bin ich überzeugt, gibt es mehr als die üblichen Weisheiten, wie »Das Leben muss weitergehen«, »Augen zu und durch« oder »Man muss das Leben in vollen Zügen auskosten und genießen«. Da muss mehr sein!

Marc Müller ist ein Sonntagskind. An einem Sonntag wurde er geboren. An einem Sonntag ist er gestorben. Er gäbe etwas darum, sich an seinen Tod erinnern zu können.

»Manchmal denke ich darüber nach, mich unter Hypnose zu begeben, um meinen Tod noch einmal bewusst erleben zu können. Für mich als Wissenschaftler wäre das eine Bereicherung.«

Totsein ist natürlich Definitionssache, und die Frage nach der Reversibilität macht es nicht einfacher. Sämtliche Religionslehren beantworten sie eindeutig. In der Medizin dürfen lebenserhaltende Maßnahmen bei Nicht-Hirntoten keinesfalls unterlassen oder ausgesetzt werden, was wohl bedeutet, dass auch die Humanwissenschaftler so ihre Zweifel am Totsein haben, sofern ›nur‹ die Vitalfunktionen, nicht aber die Hirnströme erlöschen. Kann ein Mensch auferstehen von den Toten? Offensichtlich....

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