Sie sind hier
E-Book

Mein Jahr ohne Hosen

Überall auf der welt von zu hause aus arbeiten

AutorScott Berkun
VerlagWiley-VCH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783527685639
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Kapitel 1
Das Hotel Electra


Wenn Mike Adams ein Programm schrieb, legte er die Rückseite seines Laptops auf seine Oberschenkel und schaute nach unten auf den Bildschirm. Seine Finger hingen über dem Rand seiner Tastatur, als ob seine Handgelenke gebrochen wären. Er sah aus wie ein frohgemuter Astronaut, der im Weltall schreibt und auf wundersame Weise die Regeln der herkömmlichen Physik außer Kraft setzt. Seine Brillanz spiegelte diese Unabhängigkeit wider, und er bewältigte Herausforderungen immer wieder mit einer Leichtigkeit, mit der es nur eine Handvoll Techniker auf der Welt aufnehmen kann. Mit seinen 29 Jahren war er noch jung genug, um durch den ständigen Stress keine körperlichen Schäden davonzutragen, aber wenn man ihn in seinen komischen Verrenkungen auf verschiedenen Sofas und Sitzgelegenheiten arbeiten sah, fiel es schwer zu glauben, dass das so bleiben würde. Hinter seinen dicken Brillengläsern und dem struppigen Bart nistete ein eiserner Wille, Probleme zu lösen. Er arbeitete oft stundenlang und ignorierte dabei Hunger und andere körperliche Unannehmlichkeiten, bis er endlich mit den gewonnenen Erkenntnissen zufrieden war. Seine Leistungen waren umso beeindruckender, wenn man berücksichtigte, dass er nie ein Buch über Informatik gelesen hatte. Er war ein brillanter, kooperativer und manchmal unglaublich lustiger Autodidakt. Und das Beste daran war, dass er zu meinem Team gehörte.

Wir saßen hart arbeitend zu viert in der Lobby eines Hotels in Athen mit dem unheilverkündenden Namen Electra. Wie bei vielen anderen berühmten griechischen Charakteren ist die Geschichte Elektras eine wunderbare Mischung aus Rache und Muttermord. Laut Sophokles schmiedete sie gemeinsam mit ihrem Bruder den geheimen Plan, ihre Mutter und ihren Stiefvater umbringen zu lassen, um sich für den Mord an ihrem Vater zu rächen. Stellen Sie sich nur mal vor, wie spaßig ein Feiertagsessen bei ihnen zu Hause gewesen sein muss. Die Erzählung von Sophokles könnte Shakespeare zu seinem Hamlet inspiriert haben, aber das weiß keiner so genau. Ich musste jedenfalls jedes Mal, wenn bei der Arbeit in Athen wieder etwas danebenging, automatisch an Elektra und all die Dinge denken, die in Familien und Teams schief laufen können. Ich behielt das natürlich für mich: Chefs sollten nie Witze über Meuterei machen. Unser Team war bisher gut vorangekommen, und ich wollte nicht, dass uns irgendetwas in die Quere kam, egal ob mythologisch oder praktisch.

Wir wurden Team Social genannt und waren eines von vielen Programmierer-Teams, die an einer Website namens WordPress.com arbeiteten. Auf dieser einzigartigen Website existieren Millionen von bekannten Blogs und anderen Websites und auf der Rangliste der meistbesuchten Websites weltweit nimmt sie Platz 15 ein. Die Aufgabe meines Teams war einfach: Dinge zu erfinden, die das Bloggen und das Lesen von Blogs leichter machten. Wenn Sie uns bei der Arbeit in dieser Hotellobby beobachtet hätten, hätten Sie bei uns viele unorthodoxe und abenteuerliche Arbeitsmethoden entdeckt. Aber genau genommen stimmt das nicht. Es existieren zwar viele unorthodoxe Methoden, aber wenn Sie uns bei der Arbeit beobachtet hätten, hätten Sie diese vielleicht gar nicht bemerkt. Bei oberflächlicher Betrachtung hätten Sie wahrscheinlich angenommen, dass wir überhaupt nicht arbeiteten.

 

 

Wir saßen in einer kleinen Lounge gegenüber der Hotelbar, die in einem versteckten Winkel hinter der großen Lobby lag – als hätten die Barkeeper dem Architekten einen Sonderbonus angeboten, damit man die Bar nur schwer findet, und das war ihm gelungen. Wir hatten eine Reihe von tiefen roten Sesseln und Sofas in Beschlag genommen und daraus einen »Halbkreis der Web-Entwicklung« gebildet, ein wahres Bollwerk des Nerdismus. An den gelben Wänden hinter uns hingen in dicken Holzrahmen kleine Drucke mit Familienporträts aus der Renaissance. Sie waren von hell leuchtenden, goldfarbenen Wandlampen flankiert, die kläglich auseinanderkippten und ein Licht verbreiteten, das es uns schwierig machte, unsere Bildschirme gut zu erkennen. Die Glasplatte des Couchtischs zwischen uns war zu niedrig, denn sie war wohl eher für Kaffeetassen und Tüten voller Souvenirs gedacht und nicht als provisorischer Schreibtisch für ein Team von Technikern. Um uns mit Strom zu versorgen, zogen wir den Stecker einer der Stehlampen heraus, was – wie wir glaubten – den einzigen Barkeeper, einen stattlichen Russen mittleren Alters, zu der Weigerung veranlasste, uns zu bedienen; und das trotz unserer Begeisterung für die überteuerten, persönlich servierten und mit Schirmchen verzierten Cocktails.

Obwohl ich zehn Jahre älter bin als der Rest des Teams, sahen wir alle aus, als seien wir Mitte bis Ende 20. Für jeden Beobachter hätten wir einfach wie verwöhnte, junge Touristen ausgesehen, die lieber in diesem schrecklichen Hotel mit seiner Unbequemlichkeit und den geschmacklichen Verirrungen mit ihren Laptops und Geräten spielten, als die prächtigen Touristenattraktionen zu genießen, die Athen zu bieten hat. Wenn wir in der Lobby gestanden und mit Kettensägen Eisskulpturen geformt hätten, hätte diese Arbeit für Zuschauer ein Schauspiel geliefert. Vorbeigehende Hotelgäste wären stehen geblieben, hätten uns zugesehen und neugierig gefragt, was wir da machten und wie man das machte.

Aber unsere Arbeit war vollkommen unsichtbar, versteckt in den leuchtenden Bildschirmen unserer Laptops. Keiner konnte wissen, dass jeder von uns mit dem Klick auf einen Button seines Webbrowser Funktionen in Gang setzen konnte, die augenblicklich eine Auswirkung auf Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben. Für jemanden, der in unserer Nähe saß, sah es allerdings so aus, als würden wir Solitär spielen. Das erstaunliche an unserem digitalen Zeitalter ist die Tatsache, dass die Person, die bei Starbucks neben einem sitzt, vielleicht gerade eine Schweizer Bank hackt oder Marschflugkörper auf einem weit entfernten Kontinent abschießt. Vielleicht ist sie aber auch nur auf Facebook. Man kann den Unterschied nicht feststellen, es sei denn, man ist neugierig genug, um über ihre Schulter zu spähen.

Hinter unserer gewöhnlichen Erscheinung verbargen sich ungewöhnliche Tatsachen. Obwohl wir Arbeitskollegen waren, kam es selten vor, dass wir alle gemeinsam zusammensaßen. Die meiste Zeit arbeiteten wir nur online. Dieses Treffen in Athen war erst das zweite Mal, dass wir alle im selben Raum arbeiteten. Wir hatten uns schon einmal in Seaside, Florida getroffen, wo vor ein paar Wochen das jährliche Firmentreffen stattgefunden hatte. Um die anderen im Electra zu treffen, war ich von Seattle nach Athen geflogen. Mike Adams kam aus Los Angeles. Beau Lebens, der, darauf könnte ich wetten, nebenher als Geheimagent arbeitet, war in Australien geboren, lebte aber in San Francisco. Andy Peatling, ein hinreißend schlauer, englischer Programmierer, verbrachte seine Zeit in Kanada und Irland.

Die Vorstellung, nicht im Büro zu arbeiten, erscheint den meisten Menschen merkwürdig, bis sie sich bewusst machen, wie viel Arbeitszeit man an traditionellen Arbeitsplätzen am Computer verbringt. Wenn 50 Prozent Ihrer Interaktion mit Mitarbeitern online stattfindet, zum Beispiel durch E-Mails und übers Internet, dann sind Sie nicht weit von dem entfernt, was WordPress.com macht. Der Unterschied ist, dass die Arbeit bei WordPress.com hauptsächlich, oft sogar vollständig, online erledigt wird. Manche Leute arbeiten monatelang zusammen, ohne jemals auf demselben Kontinent zu sein. Die Teams dürfen sich ein paar Mal im Jahr irgendwo treffen, um die immateriellen Dinge aufzufrischen, die über die Technik nicht vermittelt werden können, was unseren Trip nach Athen erklärt. Wir hatten Griechenland ausgesucht, weil unser Boss das vorgeschlagen hatte, und wir stimmten schnell zu, bevor er seine Meinung ändern konnte. Den Rest des Jahres arbeiteten wir aber online an verschiedenen Orten, je nachdem, wo wir uns auf der Welt zufällig gerade befanden.

Weil der Ort keine Rolle spielt, kann Automattic, die Betreiberfirma von WordPress.com, die besten Talente weltweit einstellen, egal, wo sie sind. Diese räumliche Unabhängigkeit ist eine der grundsätzlichen Voraussetzungen für die Art und Weise, wie die im Jahr 2005 gegründete Firma organisiert ist und »gemanagt« wird. Ich habe gemanagt in Anführungszeichen gesetzt, weil – wie ich später erklären werde – wir nicht in dem Sinn gemanagt werden, wie das in der Wirtschaft üblich ist. Zu Beginn hatte die Firma keinerlei Hierarchie und alle Angestellten berichteten direkt an den Firmengründer Matt Mullenweg. 2010 kamen er und Toni Schneider, der CEO, zu dem Schluss, dass die Dinge selbst für sie zu chaotisch geworden waren, und sie fanden für sich einen besseren Weg: Sie teilten die Firma, die zu diesem Zeitpunkt 50 Angestellte hatte, in zehn Teams auf.

Jedes Team hatte einen Leiter, die erste hierarchische Ordnung in der Firmengeschichte. Die Führungsrolle war locker definiert und es blieb jedem Team überlassen, sie für sich selbst zu bestimmen. Matt und Toni fanden es gut, gleichzeitig mit verschiedenen Dingen zu...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Internet - Intranet - Webdesign - Security

Internet für Psychologen

E-Book Internet für Psychologen
Format: PDF

Das Internet kurz zu erklären und gleichzeitig einen aktuellen Überblick über psychologische Themen und Forschungsschwerpunkte zu geben, ist wohl ein hoffnungsloses Unterfangen. Zu…

Internet für Psychologen

E-Book Internet für Psychologen
Format: PDF

Das Internet kurz zu erklären und gleichzeitig einen aktuellen Überblick über psychologische Themen und Forschungsschwerpunkte zu geben, ist wohl ein hoffnungsloses Unterfangen. Zu…

Internet für Psychologen

E-Book Internet für Psychologen
Format: PDF

Das Internet kurz zu erklären und gleichzeitig einen aktuellen Überblick über psychologische Themen und Forschungsschwerpunkte zu geben, ist wohl ein hoffnungsloses Unterfangen. Zu…

Internet für Psychologen

E-Book Internet für Psychologen
Format: PDF

Das Internet kurz zu erklären und gleichzeitig einen aktuellen Überblick über psychologische Themen und Forschungsschwerpunkte zu geben, ist wohl ein hoffnungsloses Unterfangen. Zu…

Texten für das Web

E-Book Texten für das Web
Erfolgreich werben, erfolgreich verkaufen Format: PDF

Dieses Buch bietet das nötige Handwerkszeug, um die Qualität der eigenen Web-Texte zu verbessern bzw. eingekaufte Texte sicherer beurteilen zu können. Es liefert klare Kriterien für die Textanalyse,…

Texten für das Web

E-Book Texten für das Web
Erfolgreich werben, erfolgreich verkaufen Format: PDF

Dieses Buch bietet das nötige Handwerkszeug, um die Qualität der eigenen Web-Texte zu verbessern bzw. eingekaufte Texte sicherer beurteilen zu können. Es liefert klare Kriterien für die Textanalyse,…

Texten für das Web

E-Book Texten für das Web
Erfolgreich werben, erfolgreich verkaufen Format: PDF

Dieses Buch bietet das nötige Handwerkszeug, um die Qualität der eigenen Web-Texte zu verbessern bzw. eingekaufte Texte sicherer beurteilen zu können. Es liefert klare Kriterien für die Textanalyse,…

TCP/IP-Praxis

E-Book TCP/IP-Praxis
Dienste, Sicherheit, Troubleshooting Format: PDF

Netzwerke modernen Standards verlangen weniger nach Rezepten für Neu - Design als vielmehr nach Wegen, Maßnahmen zur Integration in eine bestehende Infrastruktur aufzuzeigen. Diesem Aspekt trägt TCP/…

E-Learning

E-Book E-Learning
Einsatzkonzepte und Geschäftsmodelle Format: PDF

Der vorliegende Band ist dem Lernen und Lehren auf der Basis moderner Informations- und Kommunikationstechnologien gewidmet. Das Buch fasst die wichtigsten Ansätze zur Einführung, Umsetzung und…

E-Learning

E-Book E-Learning
Einsatzkonzepte und Geschäftsmodelle Format: PDF

Der vorliegende Band ist dem Lernen und Lehren auf der Basis moderner Informations- und Kommunikationstechnologien gewidmet. Das Buch fasst die wichtigsten Ansätze zur Einführung, Umsetzung und…

Weitere Zeitschriften

Menschen. Inklusiv leben

Menschen. Inklusiv leben

MENSCHEN. das magazin informiert über Themen, die das Zusammenleben von Menschen in der Gesellschaft bestimmen -und dies konsequent aus Perspektive der Betroffenen. Die Menschen, um die es geht, ...

FREIE WERKSTATT

FREIE WERKSTATT

Die Fachzeitschrift FREIE WERKSTATT berichtet seit der ersten Ausgaben 1994 über die Entwicklungen des Independent Aftermarkets (IAM). Hauptzielgruppe sind Inhaberinnen und Inhaber, Kfz-Meisterinnen ...

BMW Magazin

BMW Magazin

Unter dem Motto „DRIVEN" steht das BMW Magazin für Antrieb, Leidenschaft und Energie − und die Haltung, im Leben niemals stehen zu bleiben.Das Kundenmagazin der BMW AG inszeniert die neuesten ...

BONSAI ART

BONSAI ART

Auflagenstärkste deutschsprachige Bonsai-Zeitschrift, basierend auf den renommiertesten Bonsai-Zeitschriften Japans mit vielen Beiträgen europäischer Gestalter. Wertvolle Informationen für ...

Card-Forum

Card-Forum

Card-Forum ist das marktführende Magazin im Themenbereich der kartengestützten Systeme für Zahlung und Identifikation, Telekommunikation und Kundenbindung sowie der damit verwandten und ...

DER PRAKTIKER

DER PRAKTIKER

Technische Fachzeitschrift aus der Praxis für die Praxis in allen Bereichen des Handwerks und der Industrie. “der praktiker“ ist die Fachzeitschrift für alle Bereiche der fügetechnischen ...

Euphorion

Euphorion

EUPHORION wurde 1894 gegründet und widmet sich als „Zeitschrift für Literaturgeschichte“ dem gesamten Fachgebiet der deutschen Philologie. Mindestens ein Heft pro Jahrgang ist für die ...

FileMaker Magazin

FileMaker Magazin

Das unabhängige Magazin für Anwender und Entwickler, die mit dem Datenbankprogramm Claris FileMaker Pro arbeiten. In jeder Ausgabe finden Sie von kompletten Lösungsschritten bis zu ...