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Mein Leben

Die Jahre von 1927 bis 1968

AutorAlfred Neven DuMont
VerlagDUMONT Buchverlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783832188832
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Als ältester Sohn der traditionsreichen Verlegerfamilie Neven DuMont wird Alfred 1927 in Köln geboren, der Stadt, mit der er zeit seines Lebens am engsten verbunden bleiben wird. Seine Mutter, Tochter von Franz von Lenbach, sorgt für eine zweite Heimat: München und Starnberg. Mit 16 Jahren steht Neven DuMont dort zum ersten Mal als Schauspieler auf der Bühne der Münchner Kammerspiele. Ein Leben am Theater scheint nach dem Krieg vorgezeichnet. Er ist in der quirligen Münchener Künstler- und Theaterszene zu Hause und trifft die schillerndsten Persönlichkeiten der Zeit. Nach einem Studienaufenthalt in den USA und mehreren Hospitanzen bei großen deutschen Zeitungen fällt schließlich - nicht ganz leichten Herzens - die Entscheidung gegen das Theater und für den Journalismus. 1953 tritt er in den Verlag M. DuMont Schauberg ein, übernimmt sukzessive die Position seines Vaters und wird zu einer der großen deutschen Verlegerpersönlichkeiten. in >Mein Leben< erzählt Alfred Neven DuMont zum ersten Mal ausführlich von seiner Kindheit, Jugend und jungen Erwachsenenzeit.

Alfred Neven DuMont, geboren am 29. März 1927, trat nach einer frühen Tätigkeit an den Münchner Kammerspielen und einem Studium in München und in Chicago 1953 in den Verlag M. DuMont Schauberg ein. Er war seit 1960 Herausgeber des Kölner Stadt-Anzeigers, gründete kurz darauf die Boulevardzeitung Express, wurde 1990 Herausgeber der Mitteldeutschen Zeitung und 2006 der Frankfurter Rundschau. 2008 kam die Berliner Zeitung zum Verlag. Alfred Neven DuMont war Ehrenbürger der Stadt Köln, Honorarprofessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Autor zahlreicher Bücher. Er starb im Mai 2015.

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Leseprobe

Bei den Kraten

Über mein dramatisches Erlebnis mit den drei großen Jungen auf dem Schulhof und mit Robby wollte ich mit niemandem sprechen. Es war mir tief unter die Haut gegangen. Silvia ahnte etwas von dem Vorfall, den sie wegen der Krankheit nicht hatte verhindern können. Aber auch sie vermochte nichts aus mir herauszulocken. Nur Frau Bröhl, nur ihr allein, wurde das Geheimnis anvertraut. Sie nickte verständnisvoll: »Die Väter müssen von der Straße weg und in Lohn kommen. Der Führer, der wird es richten.«

Am nächsten Morgen entdeckte ich zu meinem Erstaunen Robby in der Küche, eine Brotscheibe mit Speck in der Hand. Er grinste mir freundlich zu, während sich Frau Bröhl woanders in der Küche zu schaffen machte. Toni erhielt den Bescheid, dass sie für meinen Schulgang nicht vonnöten sei. So trottete ich an der Seite von Robby hochzufrieden, als wäre es immer so gewesen, in Richtung Schule. Noch an dem Tag entwickelte sich Robby zu meinem Schatten. Ob auf dem Schulhof, auf dem Nachhauseweg oder während eines kleinen Ausflugs unter Jungen auf Einladung meines neuen Beschützers zum alten Fort außerhalb der Marienburg. Ich holte eine Tafel Schokolade aus meiner Tasche, bevor sie schmelzen konnte, brüderlich wurde sie geteilt. Robby schmatzte: »So etwas Gutes habe ich schon lange nicht mehr gehabt. Auch Weihnachten nicht.«

Wir zogen an den Villen vorbei, an großen und kleinen, eingebettet in das üppige Gras der Gärten oder eines Parks. Hier lebte man nicht in der Marienburg, sondern auf der Marienburg. Mit der Bezeichnung wurde für jedermann deutlich, dass die Reichen der Stadt, die »Besseren«, wie sie sich nannten, oben angesiedelt waren. Von England war das Wort »Plutokraten« hinübergeweht. Niemand wusste, wie es sich auf der Marienburg festgesetzt hatte. Ob nun Lob oder Schimpfwort, es war nicht mehr für die Herrschaften, die »besseren« Leute, wegzudenken.

Die Einwohner der Marienburg kannten sich, mehr oder weniger. Nicht selten machte man Geschäfte miteinander, Ehen wurde oft genug unter sich ausgemacht: »Man kommt aus dem gleichen Stall«, war die Begründung, die zur Beruhigung angesichts möglicher späterer Unbill beitrug. Die Unternehmen, die Handelskontore, die Kaufhäuser, die Fabriken von den Einwohnern der Marienburg lagen inmitten der Stadt oder weiter draußen, dort, wo in den Siedlungen das breite Volk lebte. Es mochte den Rauch aus den Schornsteinen der Fabriken oder den Lärm der Maschinen abbekommen. Auf der Marienburg herrschten dagegen strenge Ruhe und Sauberkeit.

Die Marienburg reichte vom Rhein im Osten bis zur Bonner Straße, vom Bayenthalgürtel im Norden bis zu dem Fort, das noch aus den Franzosenkriegen übrig geblieben war und dessen meterdicke Mauern, aus denen die Schießscharten hervorlugten, immer noch zu schaurig-lustvollen Besuchen einluden. Innerhalb der Marienburg gab es keine Läden. Der Verkauf hätte die Ruhe der Einwohner stören können. So konnte man den Distrikt der Reichen zu Recht ein »Ghetto« nennen, dem man nur unter Verlust des guten Namens und des Ansehens für immer den Rücken kehren konnte. Lediglich eine kleine schmucklose Kapelle, gleich beim schmalen Halbrund des Südparks, wo die Damen der Gesellschaft ihren Hunden freien Lauf gewährten, war vorhanden. Dort trafen sich die Herrschaften mit ihrer stattlichen Kinderschar, um unter dem Dach der katholischen Kirche in Zeiten der wirtschaftlichen und sozialen Krisen Zuflucht zu suchen. Die braune Herrschaft, die sich über Nacht im Land ausgebreitet hatte wie eine ansteckende Krankheit, ließ sich für viele bedrohlich an. Man zog den Kopf ein in der Hoffnung, dass der Spuk, dem selbst der alte Präsident und Feldmarschall keine Gegenwehr mehr geboten hatte, bald vorüber sein würde.

Auf dem Rückweg vom Fort ließ ich meinen Beschützer reden. Mit Schaudern vernahm ich, unter welchen Umständen die Familie von Robby in den Baracken lebte: Die vier Brüder schliefen in zwei Betten in einer Kammer, die so kurz waren, dass man schwerlich die Beine ausstrecken konnte. Im sogenannten »Wohnzimmer«, das als Eingang, Vorratskammer und Küche diente, schliefen die beiden heranwachsenden Mädchen auf einer Couch, die der Vater auf einer Müllhalde gefunden hatte. Es mangelte tagtäglich an genügend Essen, im Winter an Heizmaterial, an wichtigen Medikamenten, aber am meisten an Hoffnung auf ein besseres Leben.

Die Menschen aus den Wellblechbaracken wurden die »Kraten« genannt, nur durch einen kerzengraden Straßenzug getrennt von den »Plutokraten«.

Robby hatte sich, ohne dass viel über sein Tun für mich gesprochen wurde, schnell im Hause Goethestraße eingerichtet. Er sprach das mitfühlende Herz seiner Einwohner an, eine Anwandlung von Nächstenliebe angesichts des Elends der Zeit. Selbst der gestrenge Vater nahm Robby kurz in ein freundliches Verhör, er wurde als tauglich weiterempfohlen. Aber jenseits des Kitzels, den dieser Robby aus ärmlichen Verhältnissen, wo Hunger und Entbehrung auf der Tagesordnung standen, bereitete, gefiel er durch sein wendiges, geradezu einnehmendes Wesen, das im krassen Widerspruch zu seiner Herkunft stand. Auf meine Frage: »Wie machst du das?«, antwortete er: »In der Not frisst du Fliegen, ich bin schnell im Nachmachen.«

Selbst die hochnäsige Schwester Silvia ließ sich auf eine, wenn auch sehr selbstsüchtige, Beziehung ein. Bei lästigen Besorgungen, beim Transport von sperrigen Geschenken für Freundinnen anlässlich einer Geburtstagsfeier war sie so freundlich, ihn zu bitten.

Geld wanderte niemals in Robbys Tasche. Ein deftiges Frühstück in der Küche, wo Frau Bröhl wirtschaftete, war ihm immer sicher, ebenso das reichhaltige Obst zur Erntezeit mit Pflaumen, Erdbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Äpfeln und Birnen. Selbst in Silvias geheiligtem Kirschbaum durfte er sich gelegentlich den Bauch vollschlagen. Darüber hinaus erhielt er zu seinem Geburtstag von der Mutter einen schicken Anzug aus einem Kaufhaus, sodass er zu aller Zufriedenheit »allerliebst« und mit seinen zwölf Jahren »beinahe wie ein Herr« ausschaute.

Ich wusste sehr wohl, was für ein Juwel ich mit Robby, meinem »Bodyguard«, besaß. Immer wieder kam es zu Schlägereien in der Gegend der Bonner Straße, wo Arm und Reich aufeinandertrafen. Das Überschreiten der streng gezogenen Demarkationslinie konnte für einen ahnungslosen Knaben aus dem »Plutokratenlager«, den man schon von Weitem als solchen ausmachen konnte, gefährlich werden. Ich aber spazierte mit Robby im Rücken stets durch eine heile Welt. Selbst die drei großen Jungen, die mir auf dem Schulhof zugesetzt hatten, grüßten freundlich mit einem Grinsen, fast devot. Das »System« konnte groteske Züge annehmen. Da das soziale Netz auf der Marienburg sehr engmaschig war, ergab es sich von allein, dass Kinder gleichen Alters immer wieder zu einem Fest in eine andere Villa eingeladen wurden. So war es nicht selten, dass mich, wenn ich fein gekleidet mit einem Geschenk in der Hand an meinem Ziel anlangte, der eine oder der andere »Bodyguard« begrüßte, so wie es bei abendlichen Partys bei den Großen zuging, nur dass dann die kleinen Bodyguards die Chauffeure darstellten.

Schon länger drängte mich Robby, eines Tages seiner Familie in den Baracken einen Besuch abzustatten; ich sei freundlich eingeladen, man wolle nur allzu gern Robbys Wohltäter kennenlernen. Ich war unsicher. Es war mir unheimlich zumute: eine fremdartige, beklemmende Welt, so nahe gelegen und doch so unendlich fern! Als ich nicht mehr umhin konnte, marschierten wir beide los, überquerten noch weitgehend entspannt die Bonner Straße, doch als wir den lehmigen Weg in das Barackendorf einschlugen, wünschte ich, ich könne umkehren. Die Kinder der umliegenden niedrigen Holzhäuser liefen zusammen und begafften mich wie einen Fremdling aus einem fernen Land. Als wir vor Robbys Baracke standen und sich die schlichte, niedrige Tür öffnete, wollte ich abermals auf der Stelle umdrehen und weglaufen. Schon der Geruch, der aus dem Inneren durch die Holztür drang, machte mir zu schaffen. Einmal eingetreten, wurde alles anders. Aufgeregt und scheu gaben wir uns die Hand. Robbys Schwestern, alle im Sonntagsstaat, beäugten den Fremdling mit ungezügelter Neugier, die Brüder mit Zurückhaltung und Stolz. Selbst die Eltern schienen verlegen bei dem Besuch des kleinen Gastes, als ich endlich in ihrer engen Wohnstube stand. Ich wurde auf einen der wenigen Stühle genötigt, mir gegenüber saß der Hausvater, seine Frau stand hinter ihm und Robby wiederum hinter mir. Die Geschwisterschar stand um den Tisch herum. Bevor der Vater das erste befreiende Wort fand, fingen die Mädchen zu kichern an, wobei die Jüngsten interessiert nach mir griffen, nach meiner Hand, meiner Jacke, der Hose. Wie fühlte der geheimnisvolle kleine Fremde sich an? Der Vater räusperte sich, verschaffte sich als strenger Familienchef Gehör – und legte los. Er hatte offenbar eine regelrechte Rede vorbereitet. Ich fand mich überrascht, trotz der schlichten Umgebung, in einer kleinen Feierstunde wieder. Wie demütig mich Robbys Vater ansprach, verunsicherte mich gewaltig. Die Rede geriet zu einem würdig vorgetragenen Dank. Für alles. Dass Robby in unserem Haus so freundlich willkommen geheißen wurde, für die großzügigen Geschenke, die er und über ihn seine Familie erhielten. Anschließend wurde Kurt, mein Vater, gelobt, weil er sich nicht scheute, in der Zeit des braunen Diktats den Schwager von Robbys Vater, einen überzeugten Kommunisten, in seiner Druckerei anzustellen.

Es war Robbys Stunde. Er strahlte rundherum, legte bei der Ansprache des Vaters seine Hand auf meine Schulter wie auf sein persönliches Eigentum, wohingegen ich glücklich war, als die mich plagende Suada, in der immer wieder das Wort »Danke« fiel, zu Ende...

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