Vom Waldschrat zur Wissenschaft
Mein langer Weg zur Vogelwarte
Ich bin nicht nur Ornithologe – also Vogelliebhaber, Vogelkundler oder Zoologe mit Schwerpunkt in der Tierklasse Aves –, sondern auch Ornithomane, vielleicht sogar Ornithopath, also den Piepmätzen regelrecht verfallen. Woher das kommt, ist letztlich nicht zu klären, aber ich kann beschreiben, wie es begann und schlimmer wurde.
Vorweg aber noch ein Wort an diejenigen, denen es ähnlich geht: Wir befinden uns mit unserer Manie oder Passion in riesiger Gesellschaft. Vögel sind nämlich die beliebtesten Mitlebewesen, die wir kennen. Keine andere Gruppe von Tieren oder Pflanzen hat so viele Forscher, Liebhaber und Naturschützer in ihren Bann gezogen wie die Vögel – ihre Anzahl beträgt weltweit viele Millionen. Die Ursachen dafür: Vögel sind nicht nur wegen ihrer Farbenpracht in oftmals bizarrem Gefieder herrlich anzuschauen, sondern betören zudem durch eine ganze Klangwelt an Rufen und Gesängen, faszinieren durch bewundernswerten Flug und vielfältiges Verhalten. Außerdem sind sie uns tagtäglich Kumpane, wo immer wir leben – im Urwald, in Wüsten, Hochgebirgen, auf Weltmeeren und in arktischen Tundren bis in unsere Hausgärten und aufs Fensterbrett.
Die Begeisterung für die Vogelwelt ist mir nicht unmittelbar in die Wiege gelegt worden – keiner meiner Vorfahren war Ornithologe –, wohl aber der Nährboden dafür: Meine Großeltern und Eltern waren ungemein naturbegeistert. Von meinem Großvater väterlicherseits, der bereits im Ersten Weltkrieg fiel, erzählte man: Von Beruf Schlosser fand er in der Natur Entspannung von seiner harten Arbeit. Ähnlich mein Großvater mütterlicherseits: Nach sechs Tagen Lärm, Hitze und Gestank in einer Werkstatt, die er als Schreinermeister leitete, pflegte er sonntags häufig eine Vorliebe: In aller Herrgottsfrühe aufzustehen, um dann im nahen Stadtpark von Zittau, meiner Geburtsstadt, den Sonnenaufgang zu erleben, die herrliche Morgenluft einzuatmen und vor allem im Frühjahr das Vogelkonzert zu genießen, auch wenn er nur wenige Vogelarten kannte.
Beide Großeltern – und im Gefolge auch meine Mutter – waren begeisterte Schrebergärtner, so dass auch ich von 1945 bis 1952 im Sommerhalbjahr jeden Nachmittag mit in den Garten pilgerte. Wenn dort auch ordentlich eingespannt, ist mir Gartenarbeit nie lästig geworden, im Gegenteil. Mich begeisterte nicht nur, dass wir in jenen schlechten Zeiten neben Kartoffeln, Kürbissen, Gurken, Äpfeln und Birnen auch „exotische“ gelbe Tomaten oder schwarze Himbeeren hatten, die meine Klassenkameraden nicht einmal vom Hörensagen kannten – für mich war der Garten zudem auch Privatzoo. Dort konnte ich Meerschweinchen halten, im Brunnen Schmerlen und Moderlieschen, eine Zeitlang einen im Feld ergriffenen jungen Feldhasen sowie Rebhuhnküken, die ich in der städtischen Brutanstalt abholen konnte, nachdem ein in einem Gebüsch entdecktes und dorthin gebrachtes Gelege Transport und Brutapparat überstanden hatte.
Mein Vater hat mich schon als Kind in den Wald mitgenommen, etwa wenn er zur Jagd ging, aber davon ist mir wenig in Erinnerung geblieben, da wir – kriegsbedingt – erst ab 1953 Gelegenheit hatten, gemeinsame Naturfreunde zu werden. Und so wurde meine „Großmuttel“ väterlicherseits – die „Kartoffelgroßmutter“, wie ich sie nannte – zur wichtigsten prägenden Persönlichkeit für mich, vor allem für das Leben in und den Umgang mit der Natur. Sie lebte seinerzeit verwitwet allein in Olbersdorf, dem Nachbarort von Zittau in Richtung Zittauer Gebirge, unweit des idyllischen Ferienortes Oybin. Dort wohnte sie in einem Siedlerhäuschen neben einer Reihe von Bauernhöfen, also richtig auf dem Lande, wo neben einfachen Dörflern Rinder, Pferde, Schweine, Schafe, Ziegen, Karnickel, Hühner, Gänse, Enten, Tauben, Bienen und sogar Fasane, Pfauen u. a. lebten – alles Tiere, die mein Herz höher schlagen ließen. Dorthin marschierte ich – etwa zwei Stunden zu Fuß –, sooft ich nur durfte – am Samstagnachmittag, um das Wochenende bei ihr zu verbringen, und Sonntagabend ging’s wieder zurück.
Kartoffelgroßmutter hatte ich sie genannt, weil sie sich ganz überwiegend von Kartoffeln ernährte – in jeglicher Form, am liebsten von „Mauke“, also Kartoffelpüree, das dadurch noch heute Götterspeise für mich ist. Lange Zeit hatte ich sogar geglaubt, sie lebe ausschließlich von Kartoffeln und hätte dadurch die etwas knollenförmige Verdickung ihrer Nase bekommen …
Adalbert Stifter hätte sie ganz anders benannt: die Waldlerin. Sie war dem Walde in den Zittauer Bergen bis in die entlegensten Winkel an der tschechischen Grenze so verbunden, ja fast mit ihm verwoben, dass sie meiner Fantasie nach in Skandinavien als Norne hätte leben können, und in ihrer Begleitung fühlte ich mich im Walde als der geborene kleine Waldschrat. Der Wald war ihr wie Lebensraum und Lebensquell. In ihn tauchten wir ein, sooft es Zeit und Wetter erlaubten, sammelten Leseholz, Zapfen, kämmten Heidel- und Preiselbeeren von den Sträuchern und füllten ganze Körbe voller Speisepilze vieler verschiedener Arten, die sie sehr wohl kannte. Darauf aufbauend kann ich heute weit über 100 essbare Pilzarten unserer Wälder gefahrlos verwenden.
Da seinerzeit in Zittau Pilze als Nahrungsmittel sehr begehrt waren, nahm ich bisweilen einen großen Korb voll mit in die Stadt und verkaufte sie auf dem Schulweg an ein Lebensmittelgeschäft. Das verdiente Geld und weiteres, das ich mir durch Kräutersammeln für die Stadtapotheke erwarb sowie durch den Verkauf von Kräuterbüscheln und Seerosenblüten beim Hausieren, summierte sich bis 1952 auf 250 Ostmark – und davon konnte ich mir bereits als Schulbub die Spiegelreflexkamera „Exa“ kaufen, also die kleine Schwester der berühmten „Exakta Varex“.
Bei so viel ständig erlebter Natur waren natürlich auch Vögel in ihrer ganzen Vielfalt meine tagtäglichen Begleiter, und sie schlugen mich mehr und mehr in ihren Bann, bis ich ihnen über einige Schlüsselerlebnisse schließlich gänzlich verfallen war – bis zum heutigen Tag.
Eine beringte Kohlmeise
Im Alter von zehn Jahren begeisterten mich unter den vielen Vögeln, die ich beobachtete und wozu mich ein Fernglas von meinem Großvater aus dem Ersten Weltkrieg besonders privilegierte, vor allem drei Vogelarten, die mich wegen ihrer grazilen Gestalt und exotischen Farbenpracht zutiefst faszinierten. Die Erstbegegnungen mit ihnen sind mir noch in so lebendiger Erinnerung, als wären sie gerade erst erfolgt: Schwanzmeisen – Federbällchen mit langem Schwanz, auch „Pfannenstielchen“ genannt –, geschickt durch ein Stachelbeerbäumchen in einem Hausgarten in Olbersdorf turnend, der „fliegende Edelstein“ Eisvogel über dem Burgmühlgraben am Stadtrand von Zittau, dessen aufblitzendes Blau fast blendete, sowie etwa zehn Dompfaffen-Männchen – karminrot leuchtende Federkugeln – vor dem Hintergrund weiß verschneiter Büsche im Stadtpark an der Weberkirche.
Nachdem mir mit viel Mühe auch noch gelang herauszufinden, was ich beobachtet hatte – ein erstes Vogelbüchlein erhielt ich erst zwei Jahre später –, ließen mich die Vögel nicht mehr los. Ich begann alsbald Vogeleier zu sammeln und, wie das unter sächsischen Vogelliebhabern nicht selten vorkam, auch „schwarz“ Vögel zu fangen. Mit einer ausgedienten Zigarrenschachtel mit Schlagnetz versehen – von einem alten Vogelfänger organisiert –, ließen sich auf dem Fensterbrett Meisen, Finken, Ammern und andere Vögel fangen. So bekam ich Vögel auch in die Hand und konnte sie aus nächster Nähe betrachten, bevor ich sie wieder fliegen ließ.
Einen märchenhaft gelbgrün leuchtenden Grünling gewöhnte ich jedoch in einen Käfig ein und schenkte ihn meiner Kartoffelgroßmutter, bei der er jahrelang im Freiflug in der Küche lebte. Ich durfte mir im Zoofachgeschäft am Rathausplatz einen wunderschön singenden Girlitz kaufen. Was ich damals noch nicht ahnen konnte: Mit der dadurch erweckten Leidenschaft für Käfigvögel wurde der Grundstein gelegt für spätere so ausgeklügelte Vogelhaltung und -zucht, dass wir damit die Spitzenforschung erreichten.
Unter den Fensterbrett-Zigarrenkisten-Fänglingen war dann am 19. November 1952 das absolute „Highlight“: eine Kohlmeise mit einem Aluminiumring am Bein. Er trug die Prägung: „H69870 Radolfzell Germania“. Auf mein großes Erstaunen, dass eine Kohlmeise von Radolfzell am Bodensee bis nach Zittau gewandert sein sollte, folgte alsbald eine gewisse Ernüchterung: Die Meise war von einem Herrn Heinz Knobloch, Lehrer und wohnhaft in unserer Nachbarschaft, in Zittau unweit von meinem Fangplatz „für wissenschaftliche Zwecke“ beringt worden. So etwas durfte er, denn er war ehrenamtlicher Mitarbeiter und Beringer der Vogelwarte Radolfzell, die damals für Ostdeutschland zuständig war.
Damit hatte ich durch die beringte Meise zwei wichtige Dinge erfahren: Es gibt also eine Vogelwarte, und für die kann man – ganz legal für wissenschaftliche Zwecke – Vögel fangen! Das war faszinierend, und die Vorstellung, so etwas auch einmal machen zu können, ließ mich nicht mehr los.
Als es das Schicksal wollte, dass meine Mutter mit mir 1953 nach Württemberg übersiedelte, wo wir uns mit meinem aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Vater wieder zusammenfinden konnten, galt eine meiner ersten Fahrradtouren der Vogelwarte Radolfzell. Sie war in dem herrlichen Wasserschloss Möggingen bei Radolfzell am Bodensee untergebracht, und damals begnügte ich mich natürlich damit, sie zunächst nur aus der Ferne zu beäugen. Danach überlegte ich, wie ich mich diesem „Ornithologen-Olymp“ meiner...