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'Mein Leben ist Berlin, und ich bin Berlin.' Zum Verhältnis von Großstadt und Weiblichkeit in 'Berlin Alexanderplatz' und 'Das kunstseidene Mädchen'

AutorElena Schefner
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl73 Seiten
ISBN9783656622826
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2013 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 1,8, Freie Universität Berlin (Philosophie und Geisteswissenschaften), Sprache: Deutsch, Abstract: 'Ich bin Berlin' - diese Aussage des kunstseidenen Mädchens im gleichnamigen Roman von Irmgard Keun zitiert, wie Urte Helduser treffend feststellt, einen männlichen Großstadtdiskurs, in dem die Stadt als Projektionsfläche männlicher Moderneerfahrung weiblich allegorisiert wird. Doris, die Protagonistin des Romans, adaptiert diese Tradition weiblicher Allegorisierung unbewusst, weil diese im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch in der populären Kultur eine weite Verbreitung fand. Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, welche Weiblichkeitsbilder in dieser Tradition enthalten sind und in welchem Verhältnis sie zu den konkreten Frauenfiguren in der modernen Großstadtliteratur stehen. Wie lassen sich diese Bilder von der weiblichen Stadt mit der tatsächlich in der Stadt existierenden Frau in einen Zusammenhang bringen? In der Literaturgeschichte ist der Topos von der Stadt als Frau - sei es als Mutter, Göttin oder gefährliche Verführerin - schon sehr viel älter. Bereits in der Bibel ist die Rede von dem wohl prominentesten Beispiel, der Hure Babylon, die als Allegorie auf die gottlose Stadt auch in der Moderne wieder aufgegriffen wird. Doch obwohl die moderne Großstadt als literarisches Motiv in der Literaturwissenschaft sehr beliebt ist, wird ihre weibliche Allegorisierung nur selten kritisch hinterfragt. Diese Arbeit soll einen Beitrag zur Beseitigung dieses Mangels zu leisten, denn eine ausführliche Analyse der Großstadtromane der 'Klassischen Moderne' unter diesem Aspekt gibt es bisher nicht. Alfred Döblins 'Berlin Alexanderplatz' (1929) und Irmgard Keuns 'Das Kunstseidene Mädchen' (1932) können als zwei repräsentative Vertreter dieser 'klassischen' Großstadtliteratur betrachtet werden. Die Themen Stadt und Weiblichkeit sind hier besonders eng miteinander verknüpft. Die Stadt wird zum einen dämonisiert und als solche mit 'allen Attributen verführerischer und beängstigender Weiblichkeit ausgestattet' , zum anderen birgt sie neuen Freiraum für die Frau selbst. Folglich prallen tradierte, großstadtkritische Imaginationen der Stadt als Frau auf moderne Vorstellungen so genannter 'neuer' Frauen, die in der Großstadt die Möglichkeit zur Emanzipation sehen. Hieraus ergibt sich die Frage, wie diese in der Großstadt entstandenen Weiblichkeitsbilder miteinander zu vereinbaren sind bzw. inwiefern eine Emanzipation der Frau möglich ist, solange die stereotypen Weiblichkeitsvorstellungen, die in den Allegorisierungen zum Vorschein kommen, vorherrschen.

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Leseprobe

2. Zum Großstadt- und Weiblichkeitsdiskurs in der Weimarer Republik


 

„Man sprach von Berlin, solange man es nicht besaß,

wie von einer begehrenswerten Frau.“[16]

 

Berlin Alexanderplatz und Das kunstseidene Mädchen entstanden zu einer Zeit, in der sowohl „Großstadt“ als auch „Weiblichkeit“ dominante Themen in den öffentlichen Diskussionen waren. Beide Themenkomplexe wurden dabei stets im Spannungsfeld zwischen Feindschaft und Faszination verhandelt und waren damit von vergleichbaren Ambivalenzen geprägt. Weiterhin waren sie durch die Tatsache, dass erst die Entwicklung der modernen Großstadt eine Veränderung der gesellschaftlichen Stellung der Frau bewirkte und damit eine Neudefinition von „Weiblichkeit“ erforderte, eng miteinander verbunden. Die urbane Kultur, die in den 1920er ihren Höhepunkt erreichte, galt als eine materielle, stark auf das „Weib“ ausgerichtete Kultur, so dass Großstadtfeindschaft häufig mit Weiblichkeitsfeindschaft einherging. Genauso wie umgekehrt Großstadtfaszination oft mit der Faszination für eine Frau umschrieben wurde.[17]

 

Wenn in dieser Zeit von der modernen Großstadt die Rede ist, so ist dabei fast immer die Rede von Berlin. Die Hauptstadt und Verwaltungsmetropole galt als „Inbegriff der modernen Industriegesellschaft […], in dem alle Aspekte des modernen Lebens – die negativen ebenso wie die positiven – in konzentriertester Form präsent waren“[18]. Die hier untersuchten Romane, die sich mit Berlin als Lebensraum auseinandersetzen, sind somit auch explizit als Berlin-Romane zu betrachten. Da die Stadt aufgrund ihrer intensiven Geschichte in der Literatur eine Sonderrolle einnimmt und mit „unzulänglichen Mythologie-Ansätzen“[19] verknüpft ist, gilt es im Folgenden, sich mit dem Mythos auseinanderzusetzen, der für die Zeit der Weimarer Republik Gültigkeit hat – der Mythos um Berlin als Weltstadt in den „goldenen“ 20er Jahren.

 

2.1 Die Metropole Berlin – ein Ort der Gegensätze


 

Im Vergleich zu anderen europäischen Städten entwickelte Berlin sich relativ spät, dafür aber nahezu explosionsartig zu einer modernen Großstadt. Anders als Paris oder London ist es nie eine Hauptstadt mit tief verwurzelter nationaler Vergangenheit gewesen, sondern galt bis in die Neuzeit hinein als geschichtslose Stadt, die sich in jeder Generation neu erfand und damit eher einer amerikanischen als einer europäischen Stadt glich. Der Umbruch vom Alten zum Neuen, den die Industrialisierung und Urbanisierung zur Folge hatten, konnte hier somit nur schwer in die nationale Identität des Staates integriert werden.[20]

 

Als die Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich auch in Berlin endgültig einbrach und die Stadt sich mit allen dazu gehörenden Erscheinungen wie der Technisierung, Kapitalisierung und Individualisierung rasant zu einer Metropole entwickelte,[21] stand es dem restlichen Land als „erratischer Block der Moderne“[22] gegenüber. Helmut Lethen bringt diese Besonderheit Berlins auf den Punkt: „Berlin, umzingelt von dem Rest des Reiches, das in älteren Strukturen verharrt, während die Metropole mit einem Ruck in die Moderne gestoßen ist.“[23] Die Stadt repräsentierte an diesem Punkt somit nicht die Nation, sondern vielmehr den Zusammenbruch der alten Gesellschaftsstrukturen, was es für diejenigen, die den Verlust dieser Strukturen betrauerten, zu einem idealen Hassobjekt machte. Die Menschen sahen in Berlin einen Ausnahmezustand, einen Ort frei von Geschichte, der in die Zukunft drängte. Als Symbol der Moderne wurde die Stadt zum Austragungsort ideologischer Kämpfe, an dem Gegensätze aufeinander trafen und gleichzeitig neue Freiräume entstanden. Wie Lethen es ausdrückt, vereinten sich im Berlin der 20er Jahre Chicago und Moskau.[24]

 

Dabei steht Chicago für den „Amerikanismus“, der mit der Entwicklung der Massengesellschaft einherging. In den 20er Jahren war Berlin nicht nur die größte deutsche Industriestadt, sondern durch seine Funktion als Verwaltungszentrum des Landes auch die Metropole der Angestellten, die als neue soziale Gruppe rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachten.[25] Während die Industrie die Technisierung der Gesellschaft vorantrieb und elektrisches Licht, Radio, Kino, U-Bahn und Autos immer mehr zu Selbstverständlichkeiten im Alltag wurden, trugen die Angestellten als „Agenten der Modernisierung“[26] durch ihr Konsumverhalten zur Entwicklung der Massenkultur bei. Als traditionslose Sozialgruppe pflegten sie einen zukunftsoffenen, technisch-industriell geprägten Lebensstil, der ganz den amerikanischen Wertvorstellungen entsprach. Was in der kulturkritischen Tradition mit dem Schreckbild Großstadt assoziiert wurde, wie Anonymität, Entwurzelung und Kulturindustrie, wurde in der Metropole der 20er Jahre erstmals positiv umgewertet. Denn Anonymität bedeutete auch mehr Freiheit, Entwurzelung bot die Chance, seine Herkunft hinter sich zu lassen und durch Leistung seinen Lebensstandard zu verbessern und die Kulturindustrie beseitigte scheinbar die Kluft zwischen „der exklusiven Kultur und den Massenbedürfnissen nach Zerstreuung“[27]. Diese veränderte sachliche Ausrichtung spiegelt sich in den Trends dieser Zeit wider. Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten schienen zu einem „homogenen Weltstadtpublikum“[28] zu verschmelzen, das sich für Jazz, Kino und Mode interessierte, im Sport ein neues Kollektivgefühl entdeckte und sich enthemmt in Kabaretts, Revues und Nachtlokalen der glitzernden Weltmetropole vergnügte.

 

Wie Anselm betont, ist dieses Bild der rauschhaften „goldenen“ 20er, das sich hauptsächlich auf das dekadente Berliner Nachtleben beschränkt, erst nach dem 2. Weltkrieg als eine Art Wiedergutmachung für dieses durch die Nationalsozialisten denunzierte Jahrzehnt propagiert worden.[29] Es orientiert sich an dem eng mit Chicago verknüpften Begriff der „Roaring Twenties“, der das außerordentliche, vergnügungsorientierte Lebensgefühl in der wirtschaftlichen Hochkonjunktur der 20er Jahre bezeichnet, das als Ausbruch der im Krieg verdrängten Leidenschaften interpretiert wird.[30] Und auch wenn eingeräumt werden muss, dass der Krieg und seine Folgen die traditionellen Werte nachhaltig erschüttert und die Menschen damit für die „amerikanische“ Modernität geöffnet haben,[31] so muss der in der Weimarer Republik gepflegte Weltstadt-Mythos angesichts anderer Sphären der Stadt als bloßer Schein enttarnt werden. Der Glanz der Vergnügungsstätten und Leuchtreklamen rund um den Kurfürstendamm erscheint genauer betrachtet als künstliche Fassade, die mit den realen Lebensbedingungen der Stadtbewohner nur so viel zu tun hatte, als dass sie von ihnen ablenkte. Wie Michael Bienert in seiner Auseinandersetzung mit Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik konstatiert, diente die Inszenierung Berlins als moderne, amerikanisch anmutende Weltstadt „der symbolischen Überwindung der Vergangenheit“[32]. Das neue Stadtbild, das durch Aktionen wie Berlin im Licht[33], teuere Neubauten, Vergnügungsangebote und Massenmedien geformt wurde, sollte die vergangene Kaiserzeit, die Kriegsniederlage, die gescheiterte Revolution und ihre sozialen und politischen Folgen vergessen machen. Dieses Weltstadtimage wurde von der Bevölkerung durch aktive Teilnahme mitinszeniert. Während um den Kurfürstendamm herum die „enthemmte Masse“[34] Zerstreuung in Kinos und Nachtlokalen suchte, herrschte in anderen Stadtteilen soziales Elend. Um dieses zu verdrängen und die Großstadtkomplexität zu bewältigen, kultivierte das „Weltstadtpublikum“ in dieser Zeit die von Simmel konstatierte Blasiertheit des Großstädters als neusachlichen Lebensstil.[35]

 

Neben dem sozialen Elend als Folge der Inflation bestand die Realität jedoch auch aus politischen Machtkämpfen, die blutig auf der Straße ausgetragen wurden. Denn was Lethen dem Moskau-Anteil in Berlin zuschreibt ist nicht nur der Einfluss der Kultur der russischen Avantgarde, sondern auch das von linken Gruppierungen verfolgte Ziel einer sozialistischen Revolution. Schließlich ist mit der Industrialisierung die große soziale Klasse der Arbeiter entstanden, die nun um eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpfte.

 

Die Weimarer Republik war durchdrungen von politischen und wirtschaftlichen Krisen, die von der Hyperinflation 1923 über die bürgerkriegsähnlichen Kämpfe zwischen Nationalsozialisten, Kommunisten und Polizei bis hin zur Massenarbeitslosigkeit Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre reichen.[36] Die kurze Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs zwischen 1925 und 1929[37] kann all die Not und das Elend der Menschen vor und nach dieser Zeit nicht so weit aufwiegen, als dass die 20er Jahre tatsächlich als „golden“ bezeichnet werden könnten. Zumal selbst in dieser Phase die Lebensbedingungen aufgrund des mangelnden, bezahlbaren Wohnraums[38] so katastrophal waren, dass Berlin als größte...

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