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E-Book

Mein Leben ist kein Drehbuch

Zeitpfeiler

AutorPeter Sattmann
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783426455227
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Peter Sattmann, einer der beliebtesten deutschen Schauspieler, blickt zurück auf sein Leben. In seiner Autobiografie versammelt er außergewöhnliche Geschichten, die ihm unauslöschlich in Erinnerung sind. Seine Erlebnisse zeichnen ein buntes Leben mit Höhen und Tiefen nach - ein Leben, das immer für eine Überraschung gut ist. Peter Sattmanns autobiografische Geschichten sind wunderbar erzählte Reisen in ein Leben, das von markanten Erlebnissen geprägt ist. Ob heiter oder traurig, als 'Zeitpfeiler' haben sie sich tief in das Gedächtnis des Schauspielers verankert und offenbaren vor allem eines: Den Verrücktheiten des Lebens kommt man am besten mit Gelassenheit und Humor bei. So schildert Sattmann, wie er mit neun den Ausreisestempel aus der DDR erschwindelte, als Schulabbrecher mittellos nach München ging und nur dank unfreiwilliger Komik einen Platz an der Schauspielschule ergatterte. Er taucht ein in die wilde Subkultur der 60er-Jahre, schildert unvergessliche Augenblicke auf Deutschlands Theaterbühnen, gesteht seine ungebrochene Liebe zu Katja Riemann und entführt den Leser in ferne Länder, wo abenteuerliche Situationen warten. Ein Blick zurück voller Witz, Charme und Esprit.

Peter Sattmann, 1947 in Zwickau geboren, lebt heute nahe Berlin. Er brilliert auf der Bühne und im Fernsehen gleichermaßen. Der gelernte Schauspieler wurde zweimal zum Schauspieler des Jahres gekürt, schlüpfte in zirka zweihundert TV-Rollen, ist zudem Komponist, Autor und Regisseur. Als selbsterklärter 'Multidilettant' hat er ein Ziel: Sein Publikum soll gut unterhalten sein.

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Leseprobe

Vorhang auf


Ich möchte mich vorstellen. Ich heiße Peter.

Ich bin noch kein Jahr alt und habe heute mein erstes Erfolgserlebnis. Ich habe den Stuhl erklommen, der vor dem geöffneten Fenster steht. Über die Querstreben der Rückenlehne bin ich auf die Fensterbank geklettert und stehe nun breitbeinig im Fensterrahmen. Mit der linken Hand halte ich mich am Rahmen fest, ein leichter Wind weht mir ins Gesicht, und ich bin überwältigt von der Aussicht.

Ich bin fast auf gleicher Höhe mit den Kronen der Bäume. Ich sehe den blauen Himmel, die weißen Wolken, die sich unendlich langsam, aber doch bewegen. Wenn ich den Kopf in den Nacken lege, muss ich blinzeln. Wenn ich nach unten schaue, sehe ich meine nackten Füße, die nur noch wenige Zentimeter vor sich haben, bevor sie ins Leere treten würden. Ich habe kein Gefühl der Unsicherheit, aber mir ist klar, bis hierhin und nicht weiter. Muss ich auch nicht, ich sehe ja alles, was ich sehen will. Vier, fünf Meter unter mir flitzen die gackernden Hühner durchs Gehege.

Ich bewohne mit meinem Vater und meiner Mutter eine winzige Zweizimmerwohnung über einem ziemlich großen Hühnerstall. Der Zugang zur Wohnung führt an der Außenwand des Stalls über eine halsbrecherisch steile Holztreppe, auf der ich wahrscheinlich noch eine ganze Weile getragen werden muss, bevor ich sie selber meistern kann.

Mein Vater ist wie immer um diese Zeit unter Tage. Im Erzbergbau Wismut-Aue. Meine Mutter ist wahrscheinlich beim Einkaufen. Sie sagt mir nie, wohin sie geht, weil sie bestimmt denkt, ich könne mit dieser Information sowieso noch nichts anfangen. Sie sagt nur immer: »Ich bin gleich wieder da«, nachdem sie mich auf dem Sofa in Kissen gebettet und mir die warme Milchflasche in die Hände gedrückt hat. Ich werde noch zehn Jahre lang die Milch aus der Flasche trinken. Ich werde noch an der Flasche nuckeln, wenn ich schon längst der Anführer einer Indianerbande geworden bin. Jahrzehnte später wird mir meine Mutter gestehen, dass sie mir nie die Brust geben konnte, weil sie so unterernährt war.

Zweiter Geburtstag. Im Atelier eines Fotografen. Damals hatten nur Fotografen einen Fotoapparat.

Ich werde sie dann fragen: »Mam, kann es sein, dass ich die erste Zeit nach meiner Geburt woanders war, also nicht bei dir, sondern irgendwo anders?«

»Wie kommst du darauf?«, wird sie mich erschrocken fragen. »Aber es stimmt, ich musste dich die ersten zwei Monate in die Familie einer guten Freundin geben. Ich lag im Krankenhaus, und Pap musste den ganzen Tag unter Tage. Aber wie um Himmels willen kommst du darauf?«

»Mam«, werde ich sagen, »ich habe vor langer Zeit, zwischen meinem fünfundzwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr, jedes Jahr einmal, einen Trip gemacht. Ich war, wie die Azteken, die Mayas und die Inkas, einmal im Jahr auf einer Reise ins Ich. Sei unbesorgt, es hat mir nicht geschadet, im Gegenteil. Ich weiß seitdem alles über mich. Ich habe alles zutage gefördert, was jemals meine Augen, meine Ohren, meine Nase und meine Hände wahrgenommen haben.

Unter anderem auch, dass mein Leben in einem Wäschekorb begann. Heute weiß ich, dass der Geruch, den ich immer noch in der Nase habe, das Flechtwerk aus Weide ist.

Ich lag in einem weißen, im Innern des Korbes befestigten Wäschesack. Um mich herum herrschte nächtliche Dunkelheit, die mich aber in keinem Augenblick ängstigte. Durch die Ritzen im Geflecht sah ich sehr warmes gelbes, goldenes Licht auf den Fußboden fallen, das durch den Spalt einer angelehnten Tür kam. Ab und zu drangen gedämpfte Stimmen aus dem Nebenzimmer.

An die Leute erinnere ich mich nicht. Ich kann von den zwei Monaten nur den Film sehen, in welchem ich im Dunkeln allein im Wäschekorb lag. Aber ich weiß, warum. Ich habe tagsüber geschlafen, und in der Nacht war ich wach, so, wie ich es heute noch am liebsten habe.«

»Mam, jetzt heul nicht«, werde ich sagen, »es ging mir gut, ich hatte keine Angst, ich habe nicht gelitten. Ich habe die zwei Monate in der meditativen Ruhe eines gut gefütterten Hundes verbracht.«

Sie wird mich nicht wirklich erleichtert in die Arme nehmen und fragen: »Kannst du dich noch an andere Sachen erinnern?«

»An alles! Ich kann dir bis ins Detail die kleine Wohnung über dem Hühnerstall beschreiben, in der wir die ersten zwei Jahre wohnten. Ich weiß noch genau, dass ihr mich an Armen und Beinen am Gitterbett festgebunden habt, als ihr ins Volkshaus um die Ecke zum Tanzen gegangen seid.«

»Um Gottes willen!«, wird sie schluchzend sagen. »Das weißt du noch!?«

»Ja, aber du brauchst nicht wieder anfangen zu heulen, auch da habe ich nicht gelitten. Ihr hattet, kurz bevor ihr gegangen seid, das Licht dann doch angelassen und mir den Schnuller in den Mund gesteckt. Ich war, bis ihr wiederkamt, hellwach, aber ich hatte ein wundervolles Kino. Die Decke über mir war so schlecht gemalert, dass man jeden Pinselstrich sah. Sie bot in einem schönen verwitterten Hellgrün ein unendliches Labyrinth aus Linien und Streifen, Punkten und Flecken, Kurven und Kreisen. Ich habe mich keinen Moment gelangweilt. Das Blöde war nur, dass ich irgendwann den Schnuller loswerden wollte. Ich versuchte, ihn auszuspucken. Beim ersten Versuch rutschte das runde Ding, das vor den Lippen sein soll, hinter die Lippen. Beim zweiten Versuch rutschte es mir hinter die Zähne. Hatte ich da schon Zähne?«

»Ja, ja«, wird Mam sagen, »unten, zumindest unten hattest du schon ein paar Zähne. Du warst ein halbes Jahr alt, ich weiß das genau, weil wir dich bis dahin nie alleine gelassen hatten. Es war das erste Mal, dass wir wieder tanzen gegangen sind. Das muss ja furchtbar für dich gewesen sein!«

»Nee«, werde ich sagen, »wirklich nicht. Der Schnuller steckte zwar komplett in meinem Mund und war so verklemmt, dass ich die Kiefer nicht mehr bewegen konnte, geschweige denn mit der Zunge den Schnuller habe rausdrücken können. Aber ich hatte keine Angst. Ich bekam immer noch prächtig Luft. Lediglich das Schlucken des Speichels war schwierig. Soll ich weitererzählen?«

Es wird eine große Unsicherheit in ihrer Stimme liegen: »Ja, erzähle weiter.«

»Als du als Erste ins Zimmer kamst, hast du geschrien, als ob mich der Schwarze Mann aufgeschlitzt hätte. Du wolltest mich sofort von meinem Knebel befreien, was dir nicht gelang, denn du wolltest mir ja nicht wehtun. Deine Finger fanden keinen Halt in meinem verstopften Mund. Pap stürmte wie vom Blitz getroffen ins Zimmer und eilte dir zu Hilfe. Er wollte mir sicher auch nicht wehtun, und er tat mir auch nicht weh, als er mir beherzt seine beiden Zeigefinger in die Mundwinkel schob und Ober- und Unterkiefer so weit auseinanderdrückte, dass du den Schnuller rausziehen konntest. Du hast den Schnuller quer durchs Zimmer gefeuert, womit er für alle Zeit entsorgt war. Während Pap mich so schnell wie möglich von der Strickwolle befreien wollte, mit der ihr mich gefesselt hattet, hast du ihn geschlagen. Du hast wimmernd mit beiden Fäusten auf ihn eingeprügelt. Er ließ die Schläge über sich ergehen. Auch er wimmerte. Dann habt ihr mich ins große Bett zwischen euch gelegt und in den Schlaf gestreichelt.«

»Stimmt«, wird sie sagen, »genau so war’s. Ich hatte danach die erste große Krise mit deinem Vater. Dabei war es meine Schuld, meine Angst, dir könnte etwas passieren in den zwei Stunden, in denen wir weg waren. Du könntest aus dem Bett krabbeln und dir den Hals brechen oder sonst was. Das brachte ihn auf die blöde Idee, dich festzubinden. Und ich war so blöde, nicht zu merken, dass es eine blöde Idee war.«

 

Obwohl diese zwei Stunden für mich in meiner Erinnerung kein schreckliches Erlebnis sind, habe ich doch ein Trauma davongetragen. Ich kann bis heute nicht auf dem Rücken schlafen. Wenn es während des Schlafes dann doch mal passiert, dass ich mich auf den Rücken gedreht habe, wache ich nach wenigen Minuten oder vielleicht auch schon nach Sekunden schweißgebadet auf. Ich konnte nie rückwärts in ein Schwimmbecken springen. Obwohl ich als junger Mann artistisch durchaus begabt war, habe ich den Salto rückwärts nie geschafft. Dabei hatte ich in der Zeit am Stuttgarter Staatstheater den besten Trainer, den man sich vorstellen kann.

László Kovács gibt es viele in Ungarn. Der, den ich meine, war der Untermann einer sechsköpfigen Artistentruppe. Er balancierte fünf ausgewachsene Männer auf seinen Schultern.

Das Publikum beklatscht den, der ganz oben steht, immer am meisten. Weil es nicht weiß, dass der Untermann nicht nur die ganze Last trägt, sondern derjenige ist, der das Ganze in Balance hält.

Diesen László hatte Claus Peymann zwei Spielzeiten lang für uns Schauspieler engagiert. Die Teilnahme am Training war freiwillig, aber ich kann mich an keinen Kollegen erinnern, der nicht etwas von ihm lernen wollte. Ihm eilte der Ruf voraus, er könne einer Gießkanne den Salto beibringen.

Therese Affolter, diese zierliche Person, konnte nach zwei Wochen den Salto rückwärts. Während der Sattmann selbst dann scheiterte, wenn er einen Gurt um den Bauch hatte und an Seilen hing.

Ich hatte damals meine Aztekenreise noch nicht beendet. Ich wusste noch nicht, woher dieser Reflex kam, mich in der Luft immer wieder auf den Bauch zu drehen, den Salto mittendrin abzubrechen; was das Schlimmste ist, was man tun kann, denn man landet unweigerlich auf der Fresse.

Als ich den Salto das erste Mal probierte, hing ich nicht an Seilen. László stand wie bei den vorherigen Kollegen neben der Matte, tief in der Hocke, mit der Spannung eines Karatekämpfers. Den linken Arm schon ausgestreckt über der Matte, dort, wo der Drehpunkt des Saltos sein wird. Den...

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