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E-Book

Mein Leben ohne mich

Wie ich fünf Jahre im Koma erlebte

AutorCarola Thimm
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783843606127
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Dramatischer kann eine Lebensgeschichte kaum sein. Carola Thimm ist im fünften Monat schwanger, als in ihrem Gehirn ein Aneurysma platzt. Sie fällt ins Wachkoma, wird künstlich ernährt, kann nicht sprechen, reagiert nicht. Selbst die Geburt ihrer Tochter erlebt Carola Thimm nicht mit. Fünf Jahre bleibt sie in diesem Zustand, bis sie langsam wieder erwacht. In ihrem erstaunlichen Buch beschreibt Carola Thimm ihre Erfahrungen und Gefühle während dieser Zeit. Und wie es ihr gelungen ist, sich ihr Leben nach dem Erwachen neu zu erobern. Sie lernt wieder gehen, sprechen, Zähne putzen und begreift nur langsam, dass sie Mutter einer mittlerweile fünfjährigen Tochter ist. Ein aufrüttelndes Buch über eine lebensmutige Frau und ein sensationeller Einblick in das Phänomen Wachkoma.

Carola Thimm, geboren 1968, arbeitete nach einem Studium des Verwaltungsrechts für das Sozialministerium in Schleswig-Holstein. Außerdem war sie passionierte Taucherin und Tauchlehrerin. Sie lebt heute in ihrer Heimatstadt Preetz. Diana Müller, geboren 1977 in Siegen, volontierte an der Katholischen Journalistenschule ifp und arbeitet nun als Redakteurin beim Schwabenverlag in Ostfildern.

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Leseprobe

Carola


Als ich wieder zu mir komme, liege ich schon im Krankenwagen. Aber das realisiere ich in dem Moment nicht. Wo bin ich? Warum wird es plötzlich so hell? Wohin fahren wir? Ich merke, dass ich mich nicht richtig bewegen kann. Meine Arme liegen eng an meinem Körper. Vorsichtig öffne ich die Augen und muss einige Mal blinzeln. Noch immer sehe ich nicht richtig klar, eher wie durch einen Schleier hindurch. So sieht es aus, wenn ich meine Taucherbrille nicht richtig ausgespült habe und sie unter Wasser beschlägt. Milchig. Verschwommen. Doch dieses Mal ist da keine Brille, die ich absetzen und auswaschen könnte.

Ein Mann sitzt direkt neben mir auf einem Stuhl. Er trägt eine grell orangefarbene Jacke. Erst jetzt merke ich, dass ich festgeschnallt bin, auf einer Liege. Sie ist schmal und fühlt sich kühl und glatt unter meinen Händen an. Was mache ich hier? Wollte ich nicht walken gehen? Vorsichtig drehe ich den Kopf und erkenne eine Kanüle, die in meiner Hand steckt. Langsam rinnt eine durchsichtige Flüssigkeit aus einem Beutel in meine Vene. Ich bewege meine Hand und bin erleichtert: Ich kann meine Finger spüren.

Als ich den Blick hebe, erkenne ich ein graues Regal, in dem ein großer Koffer steht, rotes Kreuz auf weißem Untergrund. Mehrere Kabel und Schläuche hängen von der Decke, an der auch zwei zylinderförmige Lampen befestigt sind. Sie sind ausgeschaltet. Alles sieht sehr sauber und steril aus.

Mein Baby!, schießt es mir plötzlich durch den Kopf. Wenn das hier ein Krankenwagen ist, was ist dann mit mir passiert? Und was ist mit meinem Kind?

Ich muss diese Gedanken laut ausgesprochen haben, denn der Sanitäter schaut mir in die Augen und lächelt. »Dem Baby geht es gut«, beruhigt er mich. »Sie sind beim Walken zusammengebrochen und wir bringen Sie jetzt erst einmal nach Preetz ins Krankenhaus.«

»Ich bin umgefallen?« Erstaunt sehe ich den Mann an. Ich kann mich nicht daran erinnern. Aber dann atme ich tief durch, jetzt bin ich ja wieder wach. Sicher ist alles halb so wild. Mein Herzschlag beruhigt sich.

»Wir werden Sie jetzt im Krankenhaus mal gründlich durchchecken und dann finden wir sicher heraus, was mit Ihnen ist«, sagt der Sanitäter. Er ist noch jung und hat grüne Augen. »Vielleicht haben Sie sich überanstrengt und hatten einen Kreislaufkollaps.«

Ich schließe die Augen. Plötzlich fallen mir die starken Kopfschmerzen wieder ein, die ich gespürt habe, bevor ich in diesem schwarzen Loch versunken bin. Sie sind immer noch da. Wenn es am Ende kein Kreislaufkollaps war, sondern mit meinem Kopf zu tun hat? Wenn es – wieder ein Aneurysma ist?

Ich erzähle dem Sanitäter, dass ich 1991 ein Blutgerinnsel im Kopf hatte. Damals war ich dreiundzwanzig Jahre alt. Mein damaliger Freund und ich wollten gerade Eis essen gehen, als ich plötzlich fürchterliche Kopfschmerzen bekam. Ich weiß noch, wie ich vorm Waschbecken gekniet habe, bis mein Freund mich dort fand und den Krankenwagen alarmierte. »Ich bin dann operiert worden und das Aneurysma wurde entfernt«, erkläre ich ihm. Dabei haben sie mir meine schönen langen Haare abrasiert, fällt mir wieder ein. »Anschließend ist mein Kopf noch mehrfach untersucht worden. Aber es war alles okay und sie haben mich als geheilt entlassen.«

Bilde ich es mir nur ein oder ist das Gesicht des Sanitäters während meiner Erzählung ernster geworden? Mir gegenüber lässt er sich nichts anmerken. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir finden heraus, was mit Ihnen los ist«, sagt er beruhigend und drückt meine Hand.

Wieder schließe ich die Augen. Wie lange dauert diese Fahrt denn noch? Die Strecke kommt mir ewig vor. Dann, endlich, biegt der Krankenwagen um eine Kurve und wird langsamer. Wir fahren in ein Gebäude hinein, Schatten dringen durch die Fensterscheiben, dann öffnen sich die Türen. Wir sind da. Zwei Sanitäter nehmen mich in Empfang und fahren mich über einen langen Flur ins Innere der Klinik. Ich friere.

Jetzt bin ich in einem Untersuchungszimmer und werde abgeschnallt und auf eine andere Liege gehoben. Das fühlt sich besser an. Kurz schüttele ich mich. Der kalte Schweiß auf meinem Rücken ist unangenehm klebrig. Noch immer steckt die Kanüle in meiner Hand. Dafür habe ich den Eindruck, wieder ein wenig klarer sehen zu können.

Jetzt kommt eine Ärztin auf mich zu. Auch ihr erkläre ich die Sache mit dem Aneurysma. Sie misst meinen Blutdruck, leuchtet mir mit einer kleinen Lampe in die Augen und hört mein Herz ab. Dann überprüft sie meine Infusion. Alles so weit in Ordnung. Nachdem sie mir verschiedene Fragen gestellt hat, beauftragt sie eine Krankenschwester, mir Blut abzunehmen. Wenig später werde ich in den Aufzug geschoben und in ein Zimmer gebracht.

Jetzt liege ich in meinem Bett und trage einen frischen roten Trainingsanzug. Am liebsten würde ich aufstehen und nach Hause gehen. Bestimmt liegt es an der Schwangerschaft, dass bei mir plötzlich der Kreislauf versagt hat. Aber woher kamen diese Kopfschmerzen …?

»Wir müssen der Sache auf den Grund gehen«, hat die Ärztin zu mir gesagt.

Inzwischen geht es mir wieder gut und die Schmerzen sind längst nicht mehr so stark. Ich bin optimistisch. Vorhin waren meine Eltern und Michael da und wir haben geredet und gelacht; für später haben sich noch meine Schwester Claudia und mein Schwager Marko angemeldet. Ich freue mich schon, sie wiederzusehen. Ob sie meine kleine Nichte Ebba auch mitbringen? Sie ist so ein goldiges Kind.

Ich habe ein schönes Zimmer für mich alleine, mit einem großen Fenster, das ich gerade geöffnet habe. Irgendwie riecht es in Krankenhäusern immer so seltsam. Ich habe den Eindruck, dass die Trainingshose und das T-Shirt diesen komischen Geruch schon angenommen haben. Vorsichtig lege ich die Hände auf meinen Bauch. Ob das Kind mitbekommt, was gerade bei mir los ist? Ich atme tief ein und aus und versuche, in meinen Bauch hineinzuhören. Vor einigen Tagen habe ich abends im Bett zum ersten Mal gespürt, dass sich dort etwas tut. Anfangs war ich mir nicht sicher, ob es doch nur mein grummelnder Magen war, doch dann habe ich das leichte Flattern gefühlt. Wie Schmetterlingsflügel, die mich von innen sanft streicheln – ein unbeschreibliches Gefühl. Als ich erfahren habe, dass ich schwanger bin, konnte ich das gar nicht richtig begreifen. In meinem Bauch wächst ein Kind, habe ich mir immer wieder gesagt, und doch kam mir selbst das Ultraschallbild bei meinem Frauenarzt irgendwie ab­strakt vor, so als ob es gar nicht meine Gebärmutter, sondern die irgendeiner Frau zeigt.

Ich schaue nach oben zur Decke und bewege die Hände langsam über meinen Bauch. Und da, plötzlich tut sich etwas. Rechts neben meinem Bauchnabel nehme ich ein feines Vibrieren wahr. Das muss das Kind sein. Jetzt spüre ich es wieder. Ein Zittern wie von Seegras im Wasser, das von einer leichten Strömung erfasst wird. Ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus, lächelnd streichele ich die Stelle auf meinem Bauch.

Ich bin froh und erleichtert, dass es mir schon wieder so gut geht, und hoffe inständig, dass ich nicht wieder ein Aneurysma habe. Wenig später werde ich in die Neurochirurgie der Universitätsklinik in Kiel verlegt, wo sich die Ärzte meinen Kopf ansehen. Aber noch bin ich zuversichtlich. Es wird schon alles gut werden, habe ich mich zu beruhigen versucht.

In Kiel treffe ich den Arzt wieder, der mich damals als junge Frau so erfolgreich operiert hat: Professor Dr. Hubertus Maximilian Mehdorn, ein sehr netter Mensch. Die Ärzte stellen alles Mögliche mit mir an, aber ich mache mir keine Sorgen: Hier bin ich in guten Händen. Zuerst werden zwei Magnetresonanztomografien (MRT) gemacht, bei denen die Ärzte meinen Kopf von innen sehen. Das MRT ist eine schonende Art der Untersuchung, durch die mein Baby auf keinen Fall geschädigt wird.

Die Ärzte schauen sich die Aufnahmen an und suchen nach der Stelle, an der sich ein Blutgerinnsel gebildet haben könnte. Doch sie finden nichts. So ähnlich ist die Untersuchung auch vor dreizehn Jahren abgelaufen, doch damals sind sie der Gehirnblutung schnell auf die Spur gekommen.

Beim zweiten Mal gehen die Checks weiter. Die nächste Untersuchung ist eine Angiografie. Von der Leiste aus führen die Ärzte eine Sonde in meine Arterie ein, die bis zum Gehirn geht. Eine komische Vorstellung; richtige Angst habe ich zwar nicht davor, aber irgendwie bin ich doch froh, dass ich für die Prozedur in einen leichten Dämmerzustand versetzt werde. Bis zum Hals steuern sie diese Sonde im Blindflug – ohne Einsatz von Röntgenstrahlen, wie es eigentlich üblich ist –, damit mein Kind geschont wird. Wahnsinn, was medizinisch heute alles möglich ist! In den Hals bekomme ich dann ein Kontrastmittel gespritzt, damit die Ärzte die Sonde ab da wieder sehen können.

Wie ich anschließend erfahre, als ich wieder bei Bewusstsein bin, finden die Ärzte an der Stelle, an der ich als junge Frau schon einmal operiert wurde, eine Verdickung, die die beiden alten Klammern, die damals angebracht wurden, verschoben hat. Ich muss operiert werden.

Die Nachricht macht mir Sorgen und gleichzeitig fühle ich mich erleichtert. Eine Operation ist ja immer ein Risiko, gerade am Kopf, aber andererseits dürfte ich die Sache ja danach überstanden haben. Wenn es an dem alten Aneurysma liegt, dass ich in der Feldmark zusammengebrochen bin, hat sich zumindest kein neues Blutgerinnsel gebildet. Ich schaffe es tatsächlich, furchteinflößende Gedanken beiseitezuschieben und mit meinem Wissen vom letzten Mal die Möglichkeiten zu durchdenken. Wahrscheinlich drückt die Verdickung auf eine Stelle in meinem Kopf, was die Schmerzen und den...

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