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E-Book

Mein Weg als Deutscher und Jude

Vollständige Ausgabe

AutorJakob Wassermann
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl97 Seiten
ISBN9783849619428
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Die Autobiografie eines großen Schriftstellers. Die Serie 'Meisterwerke der Literatur' beinhaltet die Klassiker der deutschen und weltweiten Literatur in einer Sammlung.

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Leseprobe

 


Allmählich wurde ich dem Freund lästig. Ich wußte nichts mit mir anzufangen, Aussicht auf Broterwerb hatte ich nicht, denn ich hatte nichts Rechtes gelernt und eignete mich zu keiner praktischen Tätigkeit. Die dürftigen Hilfsmittel des Freundes waren völlig versiegt, in der Not knüpfte er frühere Bekanntschaften wieder an, und eine Zeitlang hielten wir uns mit deren Bestand noch über Wasser, was das Schlimme mit sich brachte, daß wir die Freiheit verloren und wieder in ein fades und vergiftendes Gelag- und Kneipenwesen gerissen wurden. Ich war den Leuten aus irgendwelchen Gründen unsympathisch, und als ich gelegentlich einer Fahrt auf dem Züricher See durch einen Windstoß meinen alten Strohhut einbüßte, wurde ich außerdem noch lächerlich. Der Freund, verängstigt und feig geworden, gab mich preis, und mir war im Ring der Feinde übel zumute. Es wurde beschlossen, daß ich bei einer Zeitungsredaktion Anstellung zu suchen hätte. Man schrieb mir Adressen auf und schickte mich mit einem geliehenen Filzhut tagelang herum. Die Unlust war auf meine Stirn geschrieben, um keinen Preis wollte ich Journalist werden, mein Aussehen mag ebenfalls keine Empfehlung gewesen sein, und so kehrte ich von jedem Gang unverrichteter Dinge zurück. Da hielten sie Kriegsrat und gelangten zu dem Ergebnis, erstens, daß mir ein neuer Hut gekauft werden sollte, zweitens, daß durch eine Sammlung das Fahrgeld aufzubringen sei, dessen ich zur Reise nach München bedurfte. In München lebte damals mein Vater. Es geschah so; ich glaube, es waren etwa zwanzig Franken, die außer dem Hut zusammenkamen; davon lösten sie am Bahnhof das Billett bis Lindau, der Restbetrag wurde mir eingehändigt. Der Abschied vom Freund war lau und bitter, soweit ich mich entsinne. Ich entsinne mich auch, daß ich auf der Fahrt zwischen Zürich und dem Bodensee von Hunger ergriffen wurde; ich konnte der erlockung, mich nach langer Zeit wieder einmal satt zu essen, nicht widerstehen und nahm von dem zur Weiterreise bestimmten Geld. Als ich auf dem Lindauer Bahnhof stand, einige Minuten vor Abgang des Münchener Zuges, muß ich als mitleidswürdige Figur aufgefallen sein, denn ein alter Schaffner trat zu mir, ließ sich in ein Gespräch mit mir ein, und nachdem ich ihm gestanden hatte, daß ich das Geld zur Reise nicht hatte, ließ er mich einsteigen und drückte mir während der Fahrt das Billett in die Hand mit den Worten, er vertraue meinem ehrlichen Gesicht, daß ich ihm die Auslage wiedererstatten werde. Auf das Billett hatte er seine Münchener Wohnung geschrieben, die merkte ich mir, und die Menschenfreundlichkeit des Schaffners hatte eine schreckliche Szene zwischen mir und meiner Stiefmutter zur Folge. Ich ging sogleich in die Wohnung des Vaters; der Vater war verreist; ich sah an allem, daß er sich in der ärmlichsten Lage befand, trotzdem bat ich die Frau, sie möge mir das Geld für den Schaffner geben, es waren vielleicht zehn oder zwölf Mark. Sie weigerte sich mit Heftigkeit; ich beharrte und wurde dringlicher; sie geriet außer sich, überschüttete mich mit Vorwürfen und Beschimpfungen und verwies mir das Haus. Da schwand mir die Besinnung, ich langte nach einem Küchenmesser und schritt drohend auf sie zu; nun wurde sie auf einmal nachgiebig, sei es, daß mein Anblick sie in Furcht versetzte, sei es, daß sie meine Verzweiflung instinktiv erfaßte; nach einer Weile brachte sie mir ein silbernes Armband, das meiner Mutter gehört hatte und sagte, ich möge es versetzen.

 

Danach war natürlich jede Verbindung mit meinem Vater zerbrochen, und er schrieb mir nach seiner Rückkehr nur ein paar Zeilen, die mich durch einen ihm sonst nicht eigenen kargen Ausdruck des Kummers bewegten. Ihm war ich nun ein gänzlich mißratener Auswürfling. Dies alles sei berichtet, weil ich sonst die Periode meines Lebens, die sich unmittelbar an dies Zerwürfnis schloß, nicht gut erklären könnte; enn es waren Monate so vollkommener Einsamkeit und Verlassenheit und so erdrosselnder Not, wie sie selbst in einer modernen Großstadt selten sind, und die zu ertragen eine nicht gewöhnliche Widerstandskraft notwendig war. Ich lebte von Äpfeln, von Käse und von Salat. Den Salat fand ich morgens in einer Schüssel vor der Tür meines Mansardenlochs; eine Frau, die mir gegenüber wohnte und von meiner hilflosen Lage Kenntnis erlangt hatte, übte auf diese zarte Manier Mildtätigkeit. Als ich ihr eines Tages dankte, schüttelte sie stumm den Kopf. Ich hätte aber selbst so nicht weiterleben können, wenn mir nicht mein Vater hier und da einen Brief geschickt hätte, in den er ein paar Marken gelegt hatte, die ich veräußerte; er mußte es heimlich und ohne Wissen seiner Frau tun. Ferner machte ich die Bekanntschaft eines Archivars, Streber, Ordensjäger und Geschichtsforscher ad usum delphini, der mich eine Zeitlang als Abschreiber verwendete. Es war dies ein gewissenloser Menschenschinder, wie man sie nicht selten unter subalternen Beamten trifft; es machte ihm zynisches Vergnügen, aus meiner Bedrängnis Nutzen zu ziehen und seine Macht zu mißbrauchen; selbst in gedrückter Stellung, war es Lust für ihn, über einen noch Gedrückteren unumschränkter Herr zu sein. Wenn ich eine Woche lang seine Exzerpte kopiert und ihm zehn bis fünfzehn Bogen abgeliefert hatte, zahlte er mir nach Willkür und Laune einen bis anderthalb Taler. An manchen Tagen verdiente ich mir zwanzig oder dreißig Pfennig mit Schachspielen in einem Winkelkaffee, wobei ich darauf bedacht sein mußte, daß ich mich nicht in einen Kampf mit stärkeren Spielern einließ. Daß ich körperlich immer mehr herunterkam, bedarf keiner Erwähnung; es stellten sich Magenblutungen ein, und ich verordnete mir eine strenge Reiskur, die mich auch wirklich heilte. Im Äußeren war ich völlig vernachlässigt, obwohl ich alle Sorge darauf richtete, ohne Löcher, Flecken oder Flicken herumzugehen. Innerlich begab sich etwas Sonderbares mit mir: Ich geriet in einen Zustand halb uälender, halb beglückter Spannung, aus der sich langsam Gestalten, Bilder und Vorgänge lösten. Mein tägliches Dasein war ein erregter Traum; die Nächte über saß ich bei der Arbeit und schlief nur wenige Stunden. Die Einsamkeit, der gänzliche Mangel an Umgang und Aussprache bewirkten eine wiederkehrende und schließlich latente, rauschhafte Verzückung, die bisweilen mit einer ebenso rauschhaften, langdauernden Angst abwechselte. Ich hatte Halluzinationen, redete laut vor mich hin und erinnere mich, daß ich einmal von zwölf bis drei Uhr nachts im Herbstregen durch die Straßen rannte, von Grauen erfüllt, weil ich einen Verfolger hinter mir glaubte, einen unversöhnlichen Feind, dessen Gesicht und Gestalt mir irgendwie genau bekannt waren.

 

Dergleichen geschah öfter. Dennoch war ich keineswegs verzweifelt, im eigentlichen Wesen jedenfalls nicht, auch nicht verbittert oder anklägerisch oder menschenhassend. Ich denke nicht, daß ich mich einer nachträglichen Verklärung schuldig mache, wenn ich sage, daß die äußeren Leiden an mir niederrannen wie Wasser an einer geölten Wand. Ich fühlte einen unerschöpflichen Vorrat an Kräften in mir. Was ich äußerlich zu erdulden hatte, schien mir in keiner Beziehung zu dem zu stehen, was ich innerlich war. Ich setzte dem zu Erduldenden Geduld entgegen, sonst nichts. Es war nicht eben Zuversicht, die mich stark machte; zur Zuversicht gehört bewußtes Selbstvertrauen; das hatte ich nicht, auch der Arbeit gegenüber nicht, die mich zwar in Flammen sah, an der ich aber die Unreife und Unzulänglichkeit spürte, kaum daß die Flamme ausgebrannt war, so daß ich mit einer fast nüchternen Beharrlichkeit immer wieder zum Anfang schritt. Es ist natürlich schwer, nach Jahrzehnten rückschauend alle Stationen einer Entwicklung wahrheitsgemäß zu untersuchen, ohne einem gewünschten Bild zu schmeicheln, doch wie ich auch mich und jene Zeit in mir prüfe, zwei Tatsachen bleiben mir unverrückbar: erstens, daß ich mitten in einer deutschen Stadt in einem Verhältnis zur elt stand wie Robinson auf seiner Insel; zweitens, daß ich diese dauernde und düstere Isolierung nur ertrug, weil ich wie die Seidenraupe in einer Schutzkapsel lebte, in einem animalischen Hindämmern, Hinwarten, aufs heftigste empfindlich wohl für alles, was mit mir sich begab, für Menschen, Dinge, Stimmen, Farbe, Ton, Wort und Hauch, aber doch nur traumempfindlich, gleich einem, in dem sich etwas erschafft, woran er bloß den Anteil hat, der durch seine Existenz gegeben ist, während er sonst Werkzeug bleibt.

 

 

 

12


 


In sozialer Hinsicht mußte ich mich als Geächteter fühlen; ich war es auch, denn ich lebte so. Wer aus der Tiefe emporkommt, neigt, wenn er eine gewisse Höhe erlangt hat, gern dazu, seine finsteren Erfahrungen mit einem Goldsaum zu umbrämen. Er vergißt die Niedrigkeit um so bereitwilliger, als sie ihn gezwungen hat, niedrig zu sein, niedrig zu denken, niedrig zu handeln. Das ist unvermeidlich, und der es leugnet, lügt. Es erfordert im günstigsten Fall eine lange Zeit und lange sittliche Arbeit, damit die Seele von dem Schmutz und Unrat gereinigt wird, mit dem sie beworfen worden ist, mit dem sie sich bedeckt hat. Es ist geradezu eine Erneuerung nötig, und erst, wenn Erneuerung stattgefunden hat, wird Sinn und Frucht des Leidens offenbar. Der Mensch in der Qual ist gar nicht fähig, Erfahrungen zu machen und Resultate zu ziehen; ein angstvoller Geist kann weder lehren noch formen. Der Zuschauerirrtum, der dem Elend zeugende Macht zuschreibt, entsteht daher, weil die zahllosen im Elend Versunkenen keinen Einwand gegen dieses freche...

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