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E-Book

Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund

AutorJayrôme C. Robinet
VerlagHanser Berlin
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783446263123
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Jayrôme hat früher als weiße Französin gelebt. Dann zieht er nach Berlin, beginnt Testosteron zu nehmen und erlebt eine zweite Pubertät. Ihm wächst ein dunkler Bart - und plötzlich wird er auf der Straße auf Arabisch angesprochen. Ob im Café, in der Umkleide oder bei der Passkontrolle, er merkt, dass sich nicht nur seine Identität, sondern vor allem das Verhalten seiner Umwelt ihm gegenüber radikal geändert hat. Er kann vergleichen: Wie werde ich als Mann, wie als Frau behandelt? Und was bedeutet es, wenn sich nicht nur das Geschlecht ändert, sondern augenscheinlich auch Herkunft und Alter? Mitreißend erzählt er von seinem queeren Alltag und deckt auf, wie irrsinnig gesellschaftliche Wahrnehmungen und Zuordnungen oft sind.

Jayrôme C. Robinet, geboren 1977 in Nordfrankreich, ist Spoken-Word-Künstler, Autor und Übersetzer. Zuletzt erschien von ihm Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund (Hanser Berlin). Jayrôme C. Robinet wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Er lebt in Berlin.

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Leseprobe

Kopfsprung


Heute also zum ersten Mal in die Männerumkleide. Ich atme tief durch. Was erwartet mich dort? Faust ins Gesicht, Kieferbruch? Bestimmt nicht. Oder doch? Werde ich auffliegen? Seit zwanzig Minuten will ich sie betreten und schaffe es nicht. Vor mir sind zwei halbkreisförmige Treppen, die aus dem Barbereich nach rechts beziehungsweise links oben führen — wie im Vestibül von Kaiserin Sissi. Auf den Bodenfliesen kleben Wegweiser in Form von farbigen Flip-Flops: rosa in Richtung Frauenumkleide, blau für die Männer. Ich komme mir vor wie ein Paar Kirschen, das jemandem am Ohr hängt, süß, aber deplatziert. Und plötzlich bin ich wieder sechzehn — wie damals, als ich im Freibad vom 10-Meter-Turm springen wollte.

Es war der Sommer 1994. Damals lebte ich in Nordfrankreich, an der Grenze zu Belgien — im Land der Sch’tis, der Region mit dem komischen Dialekt, in der mehr Bier als Wein getrunken wird. Ich stand im Bikini in der Schlange vor einem haushohen Sprungturm. Warum ich da überhaupt runterspringen wollte? Wusste ich damals schon, dass ich eigentlich ein Junge bin und Jungen solche Sachen nun einmal machen? Nein, vermutlich wollte ich nur das Herzrasen spüren, die Schwerelosigkeit im Flug.

Mein Bikini-Slip kniff am Po, mein Pferdeschwanz war ganz brav, keine losen Haarsträhnen, alles schön glatt gezogen, und die roten Trägerschnüre im Nacken lagen bewegungslos auf meiner Haut. Es war windstill, alle Flaggen hingen schlaff herab. Der Junge hinter mir gab seinem Kumpel einen Klaps auf den Hinterkopf, beide kicherten. Ich war dran.

Ich stieg die steile Leiter hoch. Immer wenn ich einen Fuß auf die nächste Sprosse stellte, spürte ich Dutzende Augenpaare zwischen meinen Oberschenkeln. Es war, als hätte ich nichts an, mitten am helllichten Tag, ein fremdes Gefühl, unheimlich und zugleich sinnlich, wie nackt im See schwimmen. Die Welt unter mir wurde immer kleiner, über mir ragte der Sprungturm auf und warf seinen finsteren Schatten auf das Türkis unter ihm. Hatte ich ernsthaft gedacht, ich würde die Rampe wie eine Ballerina entlanghüpfen und nach zwei Salti grazil ins Wasser tauchen? Die Plattform war nass, ich würde abrutschen und auf den Beckenrand prallen. Und selbst wenn ich das Becken treffen würde — aus zehn Metern Höhe ist Wasser hart wie Beton! Schweiß brannte mir in den Augen, auf den Lippen ein salziger Geschmack, gemischt mit Chlor. Unten das Johlen der Jugendlichen. Immer mehr Leute drängelten sich am Sprungturm und sahen hoch zu mir. Ich klammerte mich fest, niemals würde ich dort oben ankommen, aber hinunter ging es nun auch nicht mehr. Ich würde einfach mein Leben hier verbringen, wie ein Säulenheiliger, von der Sonne gewärmt. Jemand schlug unten gegen die Leiter, der Stahl begann zu zittern, ich dachte, ich sterbe gleich.

Zum Schluss bin ich die Leiter in Zeitlupe wieder hinuntergestiegen. Mit jeder Sprosse, die ich mich ungelenk hinabtastete, schoss die Scham in mir hoch. Die anderen schrien und lachten. Wieder auf festem Boden, verzog mir das Gefühl von Versagen das Gesicht wie mein Pferdeschwanz, der so straff war, dass er die Haut mit nach hinten zog.

Und jetzt, gut zwanzig Jahre später, führt wieder eine Treppe vor mir in die Höhe. Doch ich bin nicht mehr sechzehn. Nun bin ich erwachsen. Und diesmal werde ich es schaffen.

Trotzdem setze ich mich erst mal in die Lounge-Ecke bei der Bar. Ich sinke tief in die Sofakissen und fühle mich unsichtbar. Neben mir thront eine künstliche Palme. Ich beneide die Selbstverständlichkeit, mit der ein Bodybuilder auf dem Barhocker sitzt und an seinem Erdbeer-Shake nippt. Ich würde mich gerne neben ihn setzen, wie im Film, wenn ein Typ Liebeskummer hat und Whisky runterkippt, und dann tritt jemand heran, viel zu nah, und verändert alles.

Ich zücke mein Smartphone — ob Kris sich gemeldet hat? Ich bin ausnahmsweise zu früh. Normalerweise komme ich notorisch zu spät, wahrscheinlich, damit ich nicht warten muss. Wenn ich warte, habe ich Angst, dass meine Verabredung mich sitzenlässt. Ich kaue an den Fingernägeln, das heißt, eigentlich tue ich nur so, das Überbleibsel einer Angewohnheit, die ich als Teenie hatte. Es brummt und dröhnt. Am Tresen steht statt Zapfanlage ein riesiger Entsafter, der so groß ist, dass der Barmann ganze Äpfel in den Schacht einfüllen kann. Die Elektro-Gans wird gestopft.

Seit Wochen schiebe ich diesen Augenblick auf. Es gibt ja immer einen guten Grund, keinen Sport zu treiben — zu müde, zu viel zu tun, die Katze schnurrt auf meinem Schoß, ich kann mich nicht bewegen.

Die Wahrheit ist: Der Gedanke, zum ersten Mal die Männerumkleide zu betreten, schnürt mir die Kehle zu. Werden die Typen dort merken, dass ich einen Packer, also einen Kunstpenis, in der Hose trage? Und das Kompressionsshirt, das meine Brust flach macht — wird es auffallen? Und wenn ja, was passiert dann? Wie werden sie reagieren? Sofort ist die Scham wieder da, ich erröte. Auch vor den Blicken habe ich Angst. Wie schauen sich Männer in der Umkleide an? Seit ich als Mann durchgehe, merke ich, wie sehr Blicke kodifiziert sind: Wie viele Sekunden darf ein Blickkontakt dauern, um was zu bedeuten? Welchen Grad an Härte, Herzlichkeit oder Sympathie sollte er ausdrücken, um Männlichkeit und Heterosexualität zu signalisieren? Ist der Blick zu lang, gilt man schnell als schwul oder als jemand, der Streit sucht. Ist er zu kurz, gilt man als Feigling.

Als ich als Frau lebte, lernte ich unbewusst, mit Männern zu flirten. Damals schien es das Natürlichste der Welt: sich lässig durch die langen Haare fahren, schöne Augen machen und häufig nach unten schauen, die perfekte Mischung aus Freude und Verlegenheit. In Frankreich wird ohnehin mehr geflirtet. Es ist eine Art Höflichkeitsform, es gehört zum netten sozialen Umgang, es ist quasi Pflicht. In Deutschland bringt man zum eigenen Geburtstag einen Kuchen mit ins Büro oder stellt den Kolleg!nnen zu Ostern ein Körbchen mit verzierten Eiern neben den PC. Franzosen flirten lieber. Nun jedoch ist jeder Blickkontakt mit einem Mann, als würde ich bei Rot über die Ampel gehen.

Der Binder drückt auf meinen Brustkorb, ich kriege kaum Luft, wie soll ich so überhaupt Sport treiben? Gleichzeitig fühle ich mich, als würde ich platzen vor Kraft. Alle zwei Wochen spritze ich mir Testosteron direkt in die Muskulatur. Vor Kurzem konnte ich nachts nicht schlafen, in meinem Blut war Silvesterparty, Sex oder Sport, habe ich gedacht, Sex oder Sport. Da ich Single bin, entschied ich mich für Sport und joggte um drei Uhr morgens auf dem Columbiadamm. Bewegungsdrang ist natürlich nicht die einzige Motivation im Gym zu trainieren.Ich will meinen Körper formen. Ich will sehen, wie meine Muskeln härter werden. Ich will ich selbst werden. Außerdem habe ich morgen ein Date — mein erstes, seit ich als Mann wahrgenommen werde. Also muss ich dort rein.

»Da bist du ja!« Ich bin so erleichtert, Kris vor mir zu sehen, dass ich ihr die Verspätung sofort verzeihe. Sie hat ihre Sporttasche über die Schulter geworfen und trägt auch bei dreißig Grad eine pomadisierte Elvis-Tolle, ein kariertes Hemd, Cowboystiefel und ihre alte Perfecto. »Femmes halten Pumps aus, Butches tragen auch im Sommer Lederjacke«, sagt sie. Kris und ich kennen uns aus der queeren Szene. Als ich sie zum ersten Mal auf der Bühne sah, trug sie ein Gedicht in Tweet-Länge vor: The saddest story of the world in four words: No one really cares. Doch eigentlich ist Kris nicht verzweifelt, sondern witzig.

Ich springe von der Couch auf. Ach, könnten wir doch zusammen in die Frauenumkleide gehen, wie in alten Zeiten. Früher waren wir oft gemeinsam hier, doch als mein Bart anfing zu wachsen und meine Stimme tiefer wurde, habe ich eine Trainingspause eingelegt, die seit sechs Monaten andauert.

»Alles wird gut«, sagt Kris.

Dieser Satz ist erstaunlich. Obwohl wir genau wissen, dass es nicht stimmt, funktioniert er. Ich atme tief in den Bauch hinein, um mich zu entspannen.

»Schöner Militärhaarschnitt.« Kris fährt mit der Hand über meinen kurz geschorenen Hinterkopf.

Ich grinse. Wenn die Jungs in der Umkleide wüssten, dass ich zu der Zeit, als es in Frankreich noch die Wehrpflicht gab, die Musterung nicht bestanden hätte.

»Los!«, sagt sie. »Wir sehen uns im Geräteraum!«

Im Vestibül von Kaiserin Sissi trennen sich unsere Wege. Kris, die männlicher wirkt als ich, folgt den rosa Flip-Flops. Und ich den blauen.

Ich steige die Stufen hoch.

Und dann springe ich.

Um Testosteron nehmen zu dürfen, musste ich zunächst eine Psychotherapie machen. Das verlangt der Medizinische Dienst der Krankenversicherung, kurz...

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