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Meine Suche nach dem Nichts

Wie ich tausend Kilometer auf dem japanischen Jakobsweg lief und was ich dabei fand

AutorLena Schnabl
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783641238087
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Nach einer längeren Krankheit lässt die junge Journalistin Lena Schnabl ihr altes Leben hinter sich und macht sich auf den Weg ins japanische Hinterland, um dort einmal im Kreis zu laufen. Im Gepäck das Versprechen, die Leere und damit das höchste Glück zu finden. Auf Shikoku, dieser entrückten Insel abseits der Megastädte und Shinkansen-Trassen, verläuft der japanische Jakobsweg, der älteste Pilgerpfad der Welt: ein Auf und ab von 1.300 Kilometern und 88 Tempeln. Die Pilgerin wird über Berge klettern und an der Küste entlanglaufen, ihre Lehrmeister in Sachen Nirwana werden Mönche, Einheimische und andere Pilger sein, denen sie auf ihrer Reise begegnet. Wird es Lena gelingen, das glücksbringende Nichts zu finden?

Lena Schnabl ist freie Journalistin in Deutschland, Japan und der Welt. Sie fühlt sich in Megastädten wie Tokyo und São Paulo zu Hause, besitzt keinen Regenschirm und schreibt über Menschen, die durchfallen, durchkommen und durchknallen: Ein Mann, der 48 Jahre lang unschuldig im Todestrakt sitzt und dann frei kommt. Lastwagenfahrer, die im verstrahlten Fukushima gegen Atomkraft demonstrieren. Berliner Wrestler, die einander für Geld, Ruhm und das eigene Ego verdreschen. Sie studierte Japanologie, Sinologie und Politik in München und Sapporo und besuchte die Zeitenspiegel-Reportageschule. Ihre Reportagen erscheinen unter anderem bei Neon, Spiegel, Süddeutsche Zeitung, brand eins, das Magazin.

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Leseprobe

1

»Man geht wandern.«

(Freund, Berlin/Neukölln)

Berlin – Ich steige in die U-Bahn ein. Kottbusser Tor. Bitte zurückbleiben. Gelbe Bahn, graue Kacheln. Es riecht nach einer Mischung aus Schweiß, Döner und Parfum. Ich schiebe mir meinen Schal vor die Nase und umklammere die Haltestange. Neben mir steht eine klapperige Omi mit Gehwagen, hinter mir ein paar Halbstarke, die sich gegenseitig YouTube-Clips mit fetten Bässen vorspielen. Auch einer dieser Akkordeon-Bettler ist eingestiegen. In die Bässe der Halbstarken mischt sich nun noch sein Gedudel. Mir ist heiß. Mir ist schlecht. Und auf einmal ist nichts von alledem mehr da. Keine Töne, kein Licht, keine Gerüche.

Plötzlich ist da nichts mehr.

Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Boden, Schweiß auf der Stirn. Die Omi, die Halbstarken, der Typ mit Akkordeon, alle über mich gebeugt, sorgenvolle Gesichter, sagen: »Mein Jöttchen!«, »Krass, Alter!« und »Katastroffff!«

Ich sage: »Passt schon« und denke: ›Was für eine Scheiße‹.

Hier, am grindigen Boden der Berliner U-Bahn, Linie acht, zwischen Kottbusser Tor und Schönleinstraße, beginnt meine Pilgerreise nach Japan.

Wobei, eigentlich ging es schon früher los. Der Schlag, dessen Nachwirkungen mich in der Bahn auf den Boden sinken ließen, kam ebenfalls an einem Oktobertag.

Ein Jahr vorher.

Ich war bereits ein paar Tage merkwürdig erschöpft gewesen, immer müde, Watte im Kopf. Aber an diesem grauen Tag, an dem die Sonne nicht aufzugehen schien, lag ich in meinem Bett in Berlin-Neukölln und konnte mich nicht bewegen. Als läge eine Decke aus Blei auf mir oder als würde das Blei direkt in meinen Adern fließen. Ich hob meinen Kopf und ließ ihn wieder sacken. Ich machte die Augen zu. Ich machte die Augen wieder auf und versuchte es nochmal. Und sackte wieder zurück ins Bett. Mein Herz raste, als wäre ich gerade in den zehnten Stock gesprintet. Halsschmerzen hatte ich. Und einen heißen Kopf. Vielleicht eine Grippe. Draußen war Herbst, und der Baum vor meinem Fenster verlor sein Laub. Tagelang dämmerte ich vor mich hin. Aus Tagen wurden zwei Wochen. Es war, als hätte mir etwas ins Gesicht geschlagen. Keine Ohrfeige. Eher ein K.o.-Schlag. Mit der Faust mitten auf die Zwölf.

Ich versuchte, mir einen Film anzusehen, konnte der Handlung aber nicht folgen. Die vielen Bilder rauschten an mir vorbei, überforderten mich. All die Personen, die auftauchten, und das, was die einander sagten, verstand ich nicht. Das war alles viel zu viel. Und ich viel zu wenig. Ein Totalschaden. Nicht nur der Körper, auch der Kopf funktionierte nicht. Ich klappte den Laptop wieder zu. Ich war ein Bleiklumpen und die Welt außerhalb meiner selbst ein schwerer Nebel. Eine Grippe also? Aber die geht doch schneller vorbei? Zwei Wochen lang zu schwach, mir einen Tee zu kochen? Zu fertig, um einen Film zu schauen? Zu erschöpft, um mitzubekommen, was mir die Freunde erzählen, die mir Krankenbesuche abstatteten?

Ich schleppte mich zum Arzt. Ein paar hundert Meter geradeaus, Sitzen auf Stühlen im Wartezimmer. Ich hätte mich gerne hingelegt, lehnte den Kopf an die Wand. Der Arzt, lascher Händedruck, Lockenkopf, guckte mir in den Hals. »Sagen Sie mal Aaaah.« Klassiker. Außer »Ah« sagte ich noch: »Ich bin zu schwach, um zu sitzen.« Und er: »Belegte Mandeln und Erschöpfung? Ich tippe auf Mononukleose.«

»Mono-was? Und wie viele Tage dauert das?«

»Mononukleose.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Epstein-Barr.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Pfeiffersches Drüsenfieber«, sagte er. »Und um Ihre zweite Frage zu beantworten: Das kann Monate dauern.«

Bitte was?

»Manchmal auch Jahre.«

Pfeiffersches Drüsenfieber. Das hatte ich schon mal gehört. Eine Schulfreundin hatte das in der Oberstufe. Monatelang kam sie nicht in die Schule. Wir haben trotzdem gleichzeitig Abi gemacht. Zwei Jahre später. Aber in der Abi-Zeitschrift stand so etwas wie: »Die ist immer müde. Wenn man sie nachmittags anruft, schläft sie, und ab acht Uhr abends schläft sie auch.«

Heilige Scheiße!

»Brauchen Sie eine Krankschreibung?«

»Nein, ich bin selbstständig.« Und Krankengeld bekomme ich auch keins, dachte ich.

Und er: »Gute Besserung!«

Ich stolperte aus der Praxis, musste losheulen und rief Mama an. Die hilft ja meistens, wenn sonst nichts mehr hilft. Als sie durch das Geschniefe verstanden hatte, was gerade passiert war – »Monate hat der gesagt. Manchmal Jahre!!!!!« –, sagte sie, auf pragmatische Weise optimistisch: »Warte erst mal den Bluttest ab« und »Ist ja nicht gesagt, dass es bei dir auch so lange dauert«. Wir legten auf. Ich heulte weiter. Zuerst auf der Straße, die paar hundert Meter zur Wohnung, dann wieder im Bett. Bis selbst das Geheule zu anstrengend war und ich einschlief.

Ein paar Tage später, Bluttest abgewartet und die Gewissheit: Jupp, ich habe Mononukleose. Immerhin hatte ich jetzt einen Namen für die Bestie, die mich k.o. geschlagen hat. Eigentlich hat sie viele Namen: Mononukleose, Pfeiffersches Drüsenfieber, Morbus Pfeiffer, Kuss-Krankheit, Studentenfieber. Erst mal googeln, was das eigentlich bedeutet. Die Krankheit wird ausgelöst durch einen Herpes-Virus, den Epstein-Barr-Virus. Fast alle erwachsenen Deutschen tragen das in sich, 95 Prozent. Der Arzt sagt: »Die Durchseuchung ist sehr hoch.« Kleinkinder kriegen es von ihren Eltern oder von abgelutschtem Spielzeug in der Kita. Erwachsene vom Küssen, vom Anhusten, vom Gläserteilen. Vor ein paar Wochen habe ich einer Freundin meinen Lippenbalsam geliehen. Ich beiße auch öfter mal vom gleichen Brot ab wie meine Freunde. Vielleicht hat mich aber auch nur jemand in der S-Bahn angehustet.

Das Gute ist: Die meisten Immunsysteme unterdrücken den Virus. Und auch wenn er ausbricht, bemerken es die wenigsten, sind eine Woche »erkältet«, und gut ist. Das Schlechte ist: In seltenen Fällen legt die Krankheit die Betroffenen komplett lahm, teilweise für Jahre. Und dann gibt es noch eine Steigerung, noch seltenere Fälle mit Leberversagen, Herzmuskelentzündung, Milzriss, Tod. Je später man es sich einfängt, desto schwerer ist in der Regel der Verlauf. »Karriere-Killer Drüsenfieber« ist ein beliebter Titel für Artikel über das Phänomen. Olaf Bodden, Fußballer bei 1860 München, spielte nach der Infektion nie wieder. Tennisspieler Roger Federer musste Monate pausieren.

In jedem Fall war klar: Ich musste erst mal im Bett bleiben. Aber ich konnte ohnehin nichts anderes machen. Sitzen? War nicht drin. Tee kochen? Ging manchmal. Also ergab ich mich, ließ mich in die Untätigkeit fallen. Ich schrieb meinen Auftraggebern, dass meine Artikel später kommen würden. Zu meinen Freunden sagte ich Sätze wie: »Ich war die letzten Jahre nie krank, also nehme ich das jetzt am Stück.« Und ich meinte das auch so. Freunde kamen mich besuchen, backten mir Pfannkuchen und kochten Kürbissuppe. Appetit hatte ich keinen, aber ich trank ganz gerne Orangensaft, den sie mir eingekauft hatten. Aus Wochen wurden Monate. Und irgendwie war mir das herrlich egal. Vielleicht, weil auch mein Kopf lahmgelegt war. Jedenfalls war ich ganz Passivität, Stillstand und Ruhe.

Nach vier Monaten im Bett waren zunächst die Gedanken wieder da. Ich dachte an die Texte, die ich hätte schreiben können. Sieben Geschichten hatte ich während meines letzten Japanaufenthalts recherchiert. Die Reisekosten zahlt mir niemand, die muss ich erst mal wieder reinkriegen. Also Recherche-Marathon, einen Monat lang jeden Tag Termine, kein einziger freier Tag. Die Interviews waren auf Band, die Fotos auf Speicherkarten, die Notizen im Block. Und ich im Bett. Immerhin kam trotzdem etwas Geld auf mein Konto, weil alte Texte bezahlt wurden. An sich ist es nervtötend, wenn getane Arbeit erst nach der Veröffentlichung bezahlt wird, Monate oder Jahre später teilweise. Doch damals brachten mich diese Zahlungen in Warteschleife über die Runden. Trotzdem: Da war Arbeit, die ich machen könnte. Fertig recherchierte Geschichten, die geschrieben werden wollten. Nur: Ich konnte nicht. War immer noch nicht fähig, mich zu konzentrieren. Weder Filmschauen noch Buchlesen war drin. Wenn selbst sitzen zu anstrengend ist, wie sollte ich da arbeiten?

Vom Bett aus schaute ich mir meine Umgebung genauer an. Ich sah all den Dreck, der sich in der Wohnung angesammelt hatte, weil ich ja geschlafen und nicht geputzt hatte. Überall lagen Haare, Staubflusen sammelten sich in den Zimmerecken. Staub, das ist: Hautschuppen, Milben und Spinnenkacke. Wie ich das hasse. Einmal die Woche hatte ich mich in die Dusche geschleppt, mich in die Duschwanne gesetzt, mich abgebraust. Danach erst mal ausruhen, bevor ich Zähne putzen konnte. Das ging auch nur noch im Sitzen. Die Beine fingen sonst an zu zittern. Ich rief Papa an. Der ist seit der Pensionierung bei meinen Eltern fürs Putzen zuständig. Ich wollte eigentlich von ihm hören, dass Putzen echt anstrengend ist und es kein Wunder ist, dass ich das gerade nicht schaffe. Aber er lachte ziemlich laut und ziemlich lange und sagte: »Ach Mädi, deine Wohnung ist echt klein. Ich glaube, du kannst es schaffen, da mal durchzusaugen.« An sich hatte er recht. Typische Berliner Ein-Raum-Wohnung. Nicht mal vierzig Quadratmeter. Also stellte ich den Staubsauger an. Ich begann mit den kleinsten Flächen. Saugte das Bad. Schweiß lief mir über den Rücken. Zwei Minuten Hausarbeit. Ich legte mich eine Stunde ins Bett. Dann saugte ich den...

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