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E-Book

Memorabilien

Vollständige Ausgabe

AutorKarl Immermann
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl201 Seiten
ISBN9783849628536
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Karl Leberecht Immermann war ein deutscher Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker, der 1796 in Magdeburg geboren wurde und 1840 in Düsseldorf verstarb. Dies ist seine Autobiografie.

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Leseprobe

 


 

Ich für meine Person bin in der allerstrengsten Weise auferzogen worden, und da das, was ich erfahren, wie eine Spitze des alten Systems sich ausnimmt, so will ich einige Erinnerungen mitteilen. Die eine gehört noch fast dem Kinder- die andere dem Knabenalter an. Die dritte fällt in meine akademische Zeit.

 

Seit meinem zehnten Jahre entbrannte in mir ein Lesehunger, der sich lange fortsetzte und den ich jetzt mir hin und wieder wünschen möchte. Diese Krankheit erscheint fast in allen Kindern, welche mit einigem Talent ausgestattet wurden. Der bloße Anblick eines Buches versetzt das damit behaftete Kind in eine Art von zitternder Begierde, die weniger die Stillung einer eigentlichen Neugier sucht, sondern aus der ersten Ahnung von dem unermeßlichen Reiche des Wissens entspringt. Nur im Gedruckten, was es auch sei, lebt und webt das junge Geschöpf, die entlegensten Winkel werden aufgesucht, um die geliebte Speise in Muße verzehren zu dürfen, frühe Morgen- oder späte Abendstunden bringen keinen Schlaf in das nach den Lettern verlangende Auge.

 

Ich las, wessen ich nur habhaft werden konnte und genoß die seligsten Stunden bei dem, was ich verstand und – nicht verstand. Reisebeschreibungen, Biographien, Romane, Schauspiele wurden verschlungen. Aber auch das, was für meine Jahre von keinem Interesse sein konnte, war mir eine genehme Kost; ich arbeitete mich durch den ganzen weitschichtigen Abbé de la Pluche hindurch und sogar durch drei Bände von schlesischer Landwirtschaft, die ich mir aus des Vaters Bibliothek zu verschaffen gewußt hatte. Ich war unglaublich fertig im Schnellesen und ein nicht gar zu dicker Band kostete mich selten mehr als einen Tag.

 

Mein Vater aber, dem diese Wut gefährlich für die Sinne und Phantasie seines Sohnes vorkommen mochte, erließ plötzlich das geschärfteste Edikt, daß ich nichts mehr lesen solle, als was er mir in die Hand gebe, worauf mir denn von ihm schmale Portionen zugingen, wöchentlich etwa ein Buch, meistenteils Reisen.

 

Daß eine solche Untersagung, die in den vollen Wachstum des Naturtriebes einschnitt, nichts verfing, war natürlich. Ich befriedigte meine Gelüste nun heimlich, wie es nur immer angehen wollte, nur noch glücklicher im verbotenen Genuß. Eines Tages saß ich denn auch im stillen Hinterstübchen, hingenommen von einer alten Schwarte und meines Wähnens völlig sicher. Die Lektüre war eine völlig unschuldige; ich las in einer Wiener Übersetzung vom Jahre 1720 oder da so herum »des christlichen Märtyrers Polyeukt aus dem Französischen des Herrn Peter Corneille«. – Polyeukt will sich taufen lassen, dann will er doch wieder nicht, weil seine Gemahlin schlechte Träume gehabt hat, und dann geht er doch mit Nearch ab, sich taufen zu lassen. Paulina, die Gemahlin, erzählt Stratonicen, daß sie Severen geliebt habe; aber:

 

Bei aller großen Brunst, die er und ich auch hatten,

Von meinem Vater nur erwartet ich den Gatten,

Wen er mir geben möcht, zu freien stets bereit ...

 

Auch sie sagt, wie schlecht sie die Nacht geschlafen habe. Felix, der Landpfleger, kommt und meldet seiner Tochter, Sever, der alte, totgeglaubte Galan, lebe und sei vor den Toren von Melitene; sie müsse ihn durchaus mit Höflichkeit empfangen, da er ein großes Tier bei Hofe geworden sei. Paulina will nicht. Da sie aber eine Komposition von Tugend und Gehorsam ist, so wirkt der Vater mit seinem Ansehen auf die letzteren Spezies; und Paulina ruft:

 

Ja denn! Ich muß von neu'm bezähmen mein Gefühl,

Bin Eures Machtgebots ergebnes Opferspiel!

 

Bei diesen verhängnisvollen Worten ergriff mich die Nemesis. Ich hörte meinen Namen mit dem bekannten erschütternden Tone hinter mir rufen, erschrak, der christliche Märtyrer flog, wie sein Kopf im späteren Verlauf der Tragödie, blitzschnell unter den Tisch; ich wandte mich, mein Vater stand in der Kammer. Er sagte nichts, deutete nur mit dem Finger nach dem Buche, ich erhob es, reichte es ihm dar, ungefähr mit der Empfindung im Herzen, die ich nachmals, da ich den Polyeukt ohne Furcht lesen durfte, an Nearchen kennenlernte, als er nicht so rasch, wie der Held, in jene Ewigkeit einzugehen wünscht. Mein Vater sah das Titelblatt an, steckte das Buch zu sich, unbeweglich blieb sein Antlitz, kein Vorwurf überschritt die Lippen, schweigend verließ er die Kammer. Ich wußte aber, was es an der Zeit sei, noch ehe ein Dritter kam, der mir ankündigte, der Vater habe als Strafe festgesetzt, daß ich heute und morgen und übermorgen für mich bleiben solle und nicht am Tische der Eltern essen dürfe. Diese Ehrenbuße war mir die empfindlichste; aber weder meine Tränenklage noch die fürbittende Vorstellung des wohlwollenden Dritten, daß jener armenische Blutzeuge unter Kaiser Decius wohl unmöglich meine Einbildungskraft habe vergiften können, vermochte sie zu wenden. Es blieb bei der Sentenz und sie kam ohne Milderung zur Vollstreckung, denn mein Vater dachte, wie der große Kurfürst:

 

Ich will, daß dem Gesetz Gehorsam sei.

 

Mehrere Jahre waren vergangen, aber eine zweite heftige Neigung, die mich von früh an peinigte, hatte sich nicht besänftigt. Alles Dunkle, Geheimnisvolle, Umhüllte reizte mich über die Maßen. Schon als Kind zerlegte ich Spielzeug, um die Maschinerie zu erkunden, welche da draußen hüpfende Lämmer, hackende Bauern, tanzende Schäfer hervorbrachte. Pflanzen, die mir auffielen, wurden mit dem anhangenden Erdreich aus dem Boden gehoben, um das Wurzelgeflecht und die dazwischen wimmelnde Würmerwelt anzuschauen. Versiegelte Pakete alter Skripturen, die ich irgendwo gesehen, kamen mir nicht aus dem Sinn und galten mir für die Bewahrer merkwürdigster Geschicke, hinter jeder zugeschlossen gehaltenen Türe witterte ich in Gelassen, die mein Fuß noch nicht betreten hatte, die größten Entdeckungen. Genährt wurde dieser Drang durch das düstre winklichte Haus, in dem wir wohnten, und durch das Alter des Vaters, hinter dem eine so lange Vergangenheit sich ausbreitete.

 

Besonders war der finstere Oberboden des Hauses der Schauplatz meiner Spürwanderungen. Es stand allerhand Gerät und Gerüll dort umher, das Sparrenwerk sah so sonderbar aus, mein Vergnügen war, die verblichenen Schirme und Tapeten, die sich dort befanden, zu mustern, ich durchkroch ihn häufig in allen Richtungen und ließ keinen Winkel unbesucht, wobei ich mich an manchen Balken stieß.

 

Nun brachte mich aber eine Bodenkammer, welche nie aufgetan wurde, fast zur Verzweiflung. Es hieß, daß der Vater darin allerhand Sachen aus der Zeit vor seiner Verheiratung aufbewahre. Was hätte ich darum gegeben, in die Kammer einzudringen! Ich suchte die Öffnung mit klugen Redeweisen zu veranlassen; es war aber umsonst. Oft lag ich mit dem Auge am Schlüsselloche, konnte aber nichts erspähen, als eine unmäßig große Vache, welche von der Decke herabhing und die Aussicht versperrte.

 

Wir wollten ins Mansfeldsche zum Oheim reisen. Im Hause wurde gepackt; ich trieb mich im ersten Stock in der Nähe der Bodentreppe umher. Eine Magd stieg diese empor, ich hörte oben aufschließen, nicht wieder zuschließen, die Magd kam herunter, einen Koffer mühselig hinter sich herzerrend, dem vermutlich ein anderes Reiseerfordernis aus der Kammer nachgeholt werden sollte. Nun war der lang ersehnte Augenblick gekommen, der denn auch atemlos benutzt wurde. Ich war im Nu oben und in der Kammer. Die Zeit war kostbar, ich hielt mich daher bei der Vache nicht auf, die wie der Schlauch des Aeolus geschwollen da schwebte, noch bei den Billiardqueuen, der eingelegten Armbrust, der Windbüchse, den Jagdtaschen und einer purpurroten Wildschur, sondern schoß auf ein Repositorium zu, welches in der dunkelsten Ecke des spinnenvollen Raums stand. Da lagen in den Gefachen umschnürte Pakete über Paketen, buntes Gequäst und Getroddel, Glaskästen und Wachsfiguren drinnen, ausrangierte Dosen und schadhaft gewordene Perlemutterfutterale. Aber von einem unteren Brette strahlte mir in mattem Glanze etwas entgegen; danach streckte sich meine Hand aus, denn ich war überzeugt, daß das der eigentliche Hort dieser Zauberhöhle sei. Ich hielt einen zinnernen Becher von mäßigem Umfange mit Fuß und bauchiger Wölbung zwischen den Fingern und entfernte mich eiligst mit meiner Beute. Auch im Hause hielt ich mich noch nicht für sicher, suchte mir vielmehr vor dem Tore einen abgelegenen Platz zwischen den Elbweiden, um die Art des Talismans zu erprüfen.

 

In der Tat war derselbe von einer Beschaffenheit, die auch wohl die Aufmerksamkeit eines anderen als eines Knaben rege machen konnte. Ringsherum nämlich und von oben bis unten sah ich in gleichmäßig abgeteilten Quadraten über fünfzig Schildereien eingegraben, und dem Auge kaum lesbar französische, lateinische, deutsche Verse darunter. Die Gegenstände derselben waren zwar äußerst verschiedenartig; ein Mann mit der Krone auf dem Haupte in Fesseln, ein Schiff, von den Wellen umhergeworfen, ein in die Höhe gewachsener Kürbis, ein Baum, an dessen Wurzel der Fäller hockte, Prometheus mit dem Geier, Tantalus,...

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