Erst, wenn ich weiß,
wer ich bin,
kann ich danach handeln
[Aristoteles]
Die umweltbedingten Grenzen unseres Wirtschaftens werden zunehmend deutlicher erkennbar, neue Wirtschaftsräume drängen auf den internationalen Markt und der demografische Wandel in Deutschland erhöht zusehends den Altersdurchschnitt der arbeitenden Bevölkerung. Schon wird vom „War for aged talents“[13], vom Kampf um die reiferen Talente, zur Bewältigung der nahen Zukunft gesprochen. Die sensibelste, wertvollste und zugleich wichtigste Unternehmensressource „Mensch“ rückt aufgrund dieser Faktoren immer mehr ins Zentrum des Interesses, und damit einhergehend der zuständige Unternehmensbereich. Ehemals verwaltete ein reaktives Personalwesen passiv seine Mitarbeiter[14], heute coacht ein innovatives Human Resources Management[15] (HRM) aktiv seine Teams. Auf dem Weg zur globalisierten Informations- und Wissensgesellschaft kommt somit dem Management eine Schlüsselposition zur Bewältigung der ökologischen Herausforderungen, der Veränderungen im kontinentalen Wettbewerb und auch der menschlichen Werteverschiebungen zu.[16]
Kein Unternehmen der industrialisierten Welt kann es sich zukünftig noch leisten, auf die Talente seiner Mitarbeiter zu verzichten. Unternehmen mit integriertem Personalmanagement spüren diese Talente auf und fördern sie ganzheitlich und gezielt. Sie sind damit erfolgreicher als ihre restriktiven Konkurrenten, verfügen über eine höhere Produktivität, platzieren signifikant mehr gewinnbringende Produkte am Markt und haben in der Rezession geringere bzw. keine Absatzrückgänge. Umfangreiche nationale und internationale arbeitsplatzbezogene Studien belegen, dass die personale und soziale Intelligenz den entscheidenden Ausschlag über Erfolg in der Arbeitswelt geben wird.[17] Seit Basel II[18] ist die Qualität von HRM zudem rating-relevant, da die Kreditwürdigkeit eines Unternehmens auch nach Kriterien wie Führungsstil, Kommunikation und Betriebsklima beurteilt wird und somit die Finanzierungskosten auch direkt beeinflusst.[19] Strategisches und nachhaltiges, also langfristig wirksames Personalmanagement wird zunehmend als Wertschöpfungs-Center[20] betrachtet und zukünftig eines der wenigen Unterscheidungsmerkmale gegenüber den Wettbewerbern, das „Zünglein an der Waage“, sein. Aus einem partnerschaftlichen und leistungsorientierten Grundverständnis heraus ist HRM als menschenorientierter Werte- und Kulturvermittler auf dem Weg in die strategische Unternehmensleitung, um dort sein größtmögliches Entwicklungs- und Erfolgspotenzial zu entfalten. Personalmanagement ist somit primäre Managementaufgabe geworden, indem es zukunftsorientiert in widerspruchsfreier Kooperation mit der Unternehmensstrategie den Wandel gestaltet. Doch verlangt eine Restrukturierung von Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft und nicht auch eine Erweiterung des Bewusstseins und Veränderung der Blickrichtung?
„Es steht und fällt ja alles mit dem gelungenen Mannschaftsspiel“ [21], weiß der Kommunikationswissenschaftler Schulz von Thun aus seiner jahrzehntelangen Beratungstätigkeit in der Wirtschaft zu berichten. Und: „Ohne Menschenkenntnis könnte ich meinen Betrieb gleich zumachen“[22], bringt es ein seit über vierzig Jahren alleinverantwortlich tätiger Unternehmer auf den Punkt. Doch erfordert der verantwortungsbewusste Umgang mit Menschen nicht auch besondere Kompetenzen? Gemäß einer Studie der Akademie für Führungskräfte aus dem Jahre 2003 sprachen 80 % der Befragten den „Soft Skills“ wie Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und Persönlichkeitskompetenz eine besondere Bedeutung bei, entscheidender als der Fachkompetenz.[23] Ein Blick in die beruflichen Realität zeigt jedoch, dass es zwar jede Menge „Sachverständige“, aber sehr wenige „Menschenverständige“ gibt, die die weichen Faktoren wirklich beherrschen. Hohe Fluktuationsraten, Fehlzeiten und „innere Kündigungen“ sind nur die Spitze des Eisberges in der Verschwendung menschlicher Ressourcen durch mangelnde Sozialkompetenz und kosten ein Unternehmen viel Geld. Schwelende Dauerkonflikte, Blockadehaltungen und unproduktive Ablenkungsmanöver, z.B. in Form von ergebnislosen Sitzungen, entziehen den zu lösenden Sachaufgaben Zeit und Energie. Auch die Ursachen gescheiterter Beschäftigungsverhältnisse liegen selten in mangelndem Wissen oder Können begründet, sondern vielmehr in der Nichtübereinstimmung von Persönlichkeitsmerkmalen und Anforderungen der Stelle[24]: monetäre, zeitliche und emotionale Kosten, die durch erhöhte Sozialkompetenz reduzierbar wären.
Viel Zeit und Geld wird in eine fundierte Ausbildung der Sachkenntnis gesteckt, durch Zeugnisse und Diplome bestätigt, was zu enormen Produktivitätssteigerungen im letzten Jahrhundert beigetragen hat, jedoch zunehmend an die Grenzen des Machbaren stößt. Eine entsprechende „Menschenkenntnis“ wird jedoch bisher als gegeben vorausgesetzt, ohne dass es dazu einer wissenschaftlichen Anleitung bedürfte. Beste Vorhaben scheitern, wenn das Verhalten der Menschen, die diese Vorhaben verwirklichen sollen, nicht von vornherein mit einbezogen wird. Mit Menschen umgehen ist aber nicht nur eine Frage des Talents, sondern will gelernt sein. Für diesen Schritt fehlt bisher oft noch das nötige Bewusstsein. Die Fähigkeit, einen anderen Menschen in seinen Wesenszügen zu erkennen, brachte zu allen Zeiten viele Vorteile.[25] Schon Wilhelm von Humboldt[26] erkannte, dass es kein praktisches Geschäft im menschlichen Leben gibt, das nicht der Kenntnis des Menschen bedürfe[27] und versuchte bereits 1797 mit einer „Theorie zur Menschenkenntnis“ den Status einer Wissenschaft zu erlangen. Da es sich um kein geschlossenes System handelte und entsprechende Modelle fehlten, blieben seine Studien Fragmente wie auch der 129 Jahre später unternommene Versuch von Alfred Adler[28]. Allein C.G. Jung[29] fand mit seiner Funktions- und Einstellungstypologie[30] einen systemischen Ansatz, der heute als Grundlage zahlreicher Persönlichkeitsmodelle in der Wirtschaft dient. Die Systematik wird in der vorliegenden Arbeit durch weitere Sichtweisen ergänzt.
Es ist eine Kunst, Menschen mit ihren Talenten, Bedürfnissen und Begrenzungen gerecht zu werden,[31] sie zu fördern und zu fordern ohne sie zu überfordern. Menschenkenntnis als innovative Schlüsselqualifikation in einem strategisch ausgerichteten Human Resources Management: dazu bedarf es eines fundierten und überprüfbaren Fachwissens über die Natur des Menschen und kreativer Methoden zur Umsetzung.
Der Mensch als fachübergreifendes Erklärungsobjekt in den Sozialwissenschaften ist Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Es wird von der Prämisse ausgegangen, dass menschliches Verhalten bis zu einem gewissen Grade über Persönlichkeitsmodelle verständlicher wird, Menschenkenntnis somit auch eine sachlogische Dimension besitzt. Weiterhin wird angenommen, dass Selbst- und Menschenkenntnis am Arbeitsplatz zur Verringerung der Verschwendung von zeitlichen und menschlichen und somit auch monetären Ressourcen beiträgt und die freiwerdende Energie zur Steigerung des unternehmerischen Erfolgs genutzt wird. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Menschenkenntnis als strategisch wichtige Erfolgposition der Zukunft, als herausragende Fähigkeit von HRM und somit als eine seiner Kernkompetenzen zu identifizieren und weiter zu entwickeln. Dabei wird anhand einer empirischen Studie in begrenztem Umfang die Hypothese geprüft, inwieweit die Schulung und Anwendung von Selbst- und Menschenkenntnis zur Steigerung von persönlicher Zufriedenheit und produktivem Arbeitsergebnis im Unternehmen beiträgt.
Das nachfolgende Kapitel ist einer Theorie zur Menschenkenntnis gewidmet. Ausgehend von der Humboldt’schen Sichtweise wird das Thema in der allgemeinen, philosophischen und wissenschaftlichen Dimension erörtert. Aus dem wissenschaftlichen Ansatz heraus erfolgen ein historischer Überblick und eine Systematisierung von Persönlichkeitsmodellen. Daraus werden vier Modelle aus unterschiedlichen Kulturkreisen und verschiedenen Wissenschaftsbereichen näher untersucht, miteinander verknüpft und auf das Betriebsgeschehen übertragen. Da aufgrund dieses interdisziplinär sozialwissenschaftlich-philosophischen Ansatzes Grundlagenwissen beim öko-nomisch ausgerichteten Leser nicht vorausgesetzt werden kann, gestaltet sich diese Ausarbeitung etwas umfangreicher, als es für eine Diplomarbeit üblich ist.
Im dritten Kapitel erfolgt ein Bericht über die empirische Untersuchung zu diesem Thema. In einer viertägigen Seminarreihe wurden sieben Probanden mit einer Theorie zur Menschenkenntnis vertraut gemacht und drei Monate lang im Hinblick auf die Verbesserung von insgesamt siebzehn Arbeitsbeziehungen von der Verfasserin gecoacht. An drei Stichtagen wurden Zufriedenheit und Arbeitsergebnis mittels eines standardisierten Fragebogens evaluiert, statistisch ausgewertet und grafisch aufbereitet. Im Anschluss daran sind die Ergebnisse verbal...