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E-Book

Mentalisierungsbasierte Therapie

AutorThomas Bolm
VerlagERNST REINHARDT VERLAG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl201 Seiten
ISBN9783497602063
FormatPDF/ePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis28,99 EUR
Dieses Buch informiert praxisnah und anschaulich über das Mentalisierungskonzept und seine verschiedenen Anwendungen. Mentalisieren bezeichnet die Fähigkeit, sich über die eigenen mentalen Zustände, aber auch über die anderer Personen differenzierte Vorstellungen zu machen. Diese inneren Vorstellungen ermöglichen einen spielerischen Umgang mit der eigenen Realitätswahrnehmung und dem eigenen Verhaltensrepertoire. Wer nicht mentalisieren kann, profitiert nicht von vielen gängigen Therapiemethoden. MBT ist dann nötig, wenn die Mentalisierungsfähigkeit erst entwickelt werden muss, wie bei komplexen Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen. Die MBT gehört zu den wirksamsten Therapien für z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörungen.

Dr. med. Thomas Bolm ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Gruppenpsychotherapie. Er ist Chefarzt von MentaCare, Zentrum für psychische Gesundheit Stuttgart sowie Gruppenlehranalytiker der D3G und AGAPG. Er wurde durch Anthony Bateman und Peter Fonagy in London in MBT ausgebildet und leitete ab 2004 die Ersteinführung
im deutschsprachigen Raum.
Weitere Informationen zum Autor finden Sie unter www.mentacare.de.

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Leseprobe

3 Theorie

Im folgenden Kapitel wird aufgezeigt, wie das Mentalisierungskonzept auf entwicklungspsychologischen und bindungstheoretischen sowie neurobiologischen Grundlagen aufbaut. Diese unterschiedlichen Quellen vereinen sich mit philosophischen und psychoanalytischen Theorien und Erkenntnissen der Psychotherapieforschung. So ist ein Theoriegebäude entstanden, das in stetigem Austausch mit Grundlagenforschung und Wissenschaften steht, welche der Psychotherapie benachbart sind. Das Mentalisierungskonzept ist ein lebendiges, offenes, sich weiterentwickelndes Theoriekonstrukt, welches die Praxis der verschiedensten Therapieschulen bereichern kann. In diesem Buch konzentriert sich die Darstellung der Theorie auf die praxisrelevanten Aspekte.

3.1 Bindung und Strukturentwicklung

Die Bindungstheorie, ursprünglich entwickelt von John Bowlby (Überblick bei Holmes 2006), ist ein lange schon gut experimentell untermauertes Konzept davon, welche Rolle bei Säugetieren die Beziehung zu den zentralen Bezugspersonen in Kindheit und Jugend auf die kognitive, emotionale, soziale und körperliche Entwicklung hat. Bindungsbeziehungen üben erhebliche Einflüsse auf die Herausbildung von Ich-Funktionen aus, die unter dem Oberbegriff Strukturentwicklung zusammengefasst werden.

Wie in Abbildung 1 dargestellt, aktiviert Angst das Bindungssystem und bei sehr starker Angst wird die unmittelbare physische Verfügbarkeit der beruhigenden Bezugsperson gesucht. Die Exploration ist auf Überlebensnotwendiges eingeengt und schnell abrufbare, schablonenenhafte Erlebens- und Interpretationsmuster bestimmen die Sicht auf die Realität. Innere Arbeitsmodelle (iAM), wie sie die Bindungstheorie nennt, bestimmen die Reaktionen des Kindes, um sich mit der Bezugsperson in diesen angstvollen Situationen verlässlich zurechtzufinden.

Abb. 1: Angst aktiviert das Bindungssystem

Das Erleben sicherer Bindung ermöglicht dagegen die Deaktivierung des Bindungs- und die Aktivierung des Explorationssystems, wie Abbildung 2 zeigt. Dann kann sich die Aufmerksamkeit weg von der primären Bezugsperson auf Neues, Unbekanntes und Irritierendes richten. Dies betrifft sowohl die neugierige Exploration der Umwelt als auch den Umgang mit innerer Realität. Innere Arbeitsmodelle bzw. Übertragungsmuster können in Zeiten erlebter Sicherheit infrage gestellt und eventuell korrigiert werden.

Abb. 2: Sichere Bindung aktiviert das Explorationssystem

Die auf diese Weise gemachten Erfahrungen helfen bei der Entwicklung eines stabilen und kohärenten Selbst mit stabilen Repräsentanzen sowie beim Aufbau eines stabilen Identitätsgefühls und innerer Objektkonstanz. Als langfristige Folge davon verbessern sich die Chancen für gelingende Zweier- und Mehrpersonenbeziehungen.

Die komplexen strukturellen und interaktionellen Fertigkeiten bestimmen, ob wir bei Schwierigkeiten von innerer und äußerer Realität überfordert, gar traumatisiert werden oder aber einen spielerischen Umgang mit ihr finden und ein kohärentes Selbsterleben bewahren können.

Abbildung 3 zeigt, wie Menschen auf Stress reagieren, deren Ausstattung mit Ich-Funktionen stark beeinträchtigt ist, anders gesagt, die unter einer deutlichen strukturellen Störung leiden. Ihre Schwelle bis zur Aktivierung des Bindungssystems ist niedrig, und schnell bewirkt Anspannung oder Erregung die Hemmung des Explorationssystems. In solchen Anspannungszuständen stehen den Betroffenen kaum komplexe Ich-Funktionen zur Verfügung, welche eigene Sichtweisen oder Verhaltensweisen zu ändern vermögen.

Abb. 3: Hyperaktivierung des Bindungssystems behindert Exploration und Mentalisieren

3.2 Mentalisieren

Das Mentalisierungskonzept stellt eine Synthese aus bindungstheoretischen, entwicklungspsychologischen, psychodynamischen, kognitiv-behavioralen, traumabezogenen und neurobiologischen Erkenntnissen sowie der Theory of Mind dar (Dennet 1987; Fonagy 1991; Fonagy et al. 2002). Die Theory of Mind als philosophische Richtung befasst sich damit, wie wir Menschen uns Gedanken über die Art unseres Denkens und Erlebens machen (Dennet 1987). Damit ist bereits die große Nähe zur Mentalisierungstheorie deutlich. Inhaltlich zeigt sich das in unserem („mentalisierenden“) Vermögen zu phantasievollem und klugem Umgang mit dem Wechselspiel von Innen- und Außenwelt, Verstand und Gefühl, Natur und Kultur respektive Anlage und Erfahrung. Diese Inhalte sind eng mit Grundthemen von Psychotherapien verknüpft:

1.   Dem Einfühlen und Reflektieren die eigene Person und andere betreffend

2.   Dem Reflektieren über die individuellen Muster dieser kognitiv-emotionalen Vorgänge

3.   Der Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln

Auf dieser allgemein formulierten Grundlage betrifft der Mentalisierungsansatz alle Psychotherapieschulen und stellt letztlich sogar die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen ihnen dar: „We propose boldly that mentalizing – attending to mental states in oneself and others – is the most fundamental common factor among psychotherapeutic treatments.“ (Allen et al. 2008, S. 1)

Mentalisieren heißt, äußerlich wahrnehmbares Verhalten in einem bedeutungsvollen Zusammenhang mit innerpsychischen („mentalen“) Zuständen und Vorgängen zu erleben und zu verstehen und umgekehrt. Bei dieser inneren Realität handelt es sich z. B. um Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse, Wünsche, Begründungen, Bedeutungen und ganz persönliche Lebenserfahrung.

Darüberhinaus ist Mentalisieren die imaginative Fähigkeit, sich differenzierte innere Vorstellungen über die Psyche und ihre Wechselwirkungen mit Erlebens- und Verhaltensweisen inkl. Beziehungsgestaltung zu machen. Dies gilt in Bezug auf einen selbst und andere und erlaubt, mit Bedeutungen spielen und die Perspektive wechseln zu können.

Ist unsere Mentalisierungsfähigkeit gut entwickelt, so wissen wir explizit oder implizit:

1.   Unsere Außenwahrnehmung wird von unserer inneren Realität beeinflusst

2.   Psychische Zustände und Prozesse werden von der äußeren Realität beeinflusst

Mentalisieren bedeutet nicht nur, zu verstehen, dass in einem selbst und anderen Menschen mentale Einflüsse wichtig sind (Verständnis erster Ordnung), sondern auch die Art und Weise zu begreifen, wie bei einem selbst und anderen solche Prozesse ablaufen (Verständnis zweiter Ordnung, Metakognition).

Mentalisierungsfähigkeit ist gekoppelt an die Repräsentanz für ein solches Verständnis zweiter Ordnung.

Gute Mentalisierungsfähigkeit ist mit dem – meist impliziten – Wissen verbunden, dass Erlebens- und Verhaltensmuster von der persönlichen Lebenserfahrung eines jeden Einzelnen abhängig und damit individuell unterschiedlich ausgeprägt sind.

Diese Muster werden abhängig von der gegenwärtigen Situation abgerufen, sind also nicht nur individuell, sondern auch situativ verschieden.

So verstanden ist die eigene Perspektive auf die Realität in einem Zwischenbereich zwischen innerpsychischen und Außeneinflüssen angesiedelt und daher höchst individuell. Die intrapsychische Fähigkeit zum spielerischen Umgang mit innerer und äußerer Realität geht mit einem inneren, spielerischen Möglichkeitsraum einher (Winnicott 1971). Als Referenz an Winnicott wird die mentalisierende Fähigkeit zum Perspektivenwechsel „playing with reality“, Spielen mit der Realität genannt (Fonagy 1995).

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Mentalisieren verbunden ist mit dem Entstehen einer Metarepräsentanz dafür, dass und wie unser Realitätserleben individuell verschieden und situationsabhängig ist. Treffen mehrere Menschen zusammen, dann kann es nicht nur eine Wahrheit geben, sondern eine pluralistische, gemeinsam mit anderen Menschen intersubjektiv „geschaffene Realität“ (Fonagy 2007).

Die mit dem Mentalisieren gekoppelten intrapsychischen und interpersonellen Leistungen sollen in der Folge noch genauer beleuchtet werden:

Das Denken, Fühlen und Handeln anderer kann durch Verstehen der verursachenden mentalen Zustände vorhergesagt, erklärt und gerechtfertigt werden. Wenn Menschen begreifen, dass sie mental von anderen verschieden sind und dass deshalb Handlungen unterschiedlicher Menschen des Öfteren auf differierenden psychischen Modellen der Realität beruhen, dann können sie das eigene Verhalten und das anderer angemessen würdigen. Dann können sie sich den Unterschied zwischen den eigenen Perspektiven und denen anderer Menschen vergegenwärtigen und sich und anderen dabei Nichtwissen und Irrtümer zugestehen.

Eigene Affekte, Bedürfnisse und Impulse können „mentalisierend“ wahrgenommen und so reguliert werden, dass sie in komplexen sozialen Interaktionen unterstützen und nicht behindern. Dann können Menschen sich auch in sehr emotional aufgeladenen und konflikthaften Situationen nach den Beweggründen für ihre Sicht- und Verhaltensweisen oder nach den Motiven des Gegenübers fragen, ohne dafür unsere eigenen Gefühle abspalten zu müssen oder sich nur auf ihre eigenen Phantasien bzw. Projektionen verlassen zu müssen.

Diese letztgenannte Fähigkeit ermöglicht eine wichtige Ich-Funktion, die Subjekt-Objekt-Differenzierung (Bolm 2014b). Diese Fähigkeit, uns abgegrenzt und individuell zu erleben, ermöglicht uns wiederum, Beziehungen aufzunehmen und auch dann ohne existenzielle Probleme aufrechtzuerhalten, wenn Bezugspersonen nicht unseren Erwartungen entsprechend reagieren, sondern nach eigenen...

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