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Metamorphosen des Mängelwesens

Zu Werk und Wirkung Arnold Gehlens

AutorPatrick Wöhrle
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl459 Seiten
ISBN9783593408385
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis41,99 EUR
Die jüngsten Arbeiten zur wieder verstärkt rezipierten philosophischen Anthropologie haben deren umstrittensten Vertreter, den Philosophen und Soziologen Arnold Gehlen, meist stiefmütterlich behandelt. Auch Untersuchungen zum Einfluss politisch belasteter Autoren auf das intellektuelle Leben der Nachkriegszeit mieden ihn weitgehend. Diese Arbeit schließt eine doppelte Lücke, indem sie - vor allem mit Blick auf überraschend aktuelle handlungstheoretische Einsichten - die analytische Kraft seiner beiden Hauptwerke 'Der Mensch' und 'Urmensch und Spätkultur' rekonstruiert, ohne deren ideologische Dimensionen zu verschweigen. Daran anschließend wird erstmals die enorme, aber oft verdeckte Wirkung nachgezeichnet, die das so kontroverse Denken Gehlens auf bedeutende Sozialwissenschaftler nach 1945 hatte, unter anderem auf Jürgen Habermas und Niklas Luhmann.

Patrick Wöhrle, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Weber-Kolleg in Erfurt und lehrt Soziologie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt.

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Leseprobe
4. Schlussbetrachtung: Metamorphosen des Mängelwesens (S. 419-420)

Es besteht heute weitgehend Einigkeit darüber, dass Theorien der Gesellschaft zu ihrem Objekt ein spezielles epistemologisches Verhältnis unterhalten, das es in besonderer Weise einzuholen gilt.

Sie kommen – wollen sie verallgemeinerungsfähige Resultate für sich beanspruchen – nicht umhin, auch sich selbst ihrem Gegenstandsbereich zuzurechnen. Von einer Handlungstheorie, die so fundamental ansetzt wie diejenige Arnold Gehlens, darf daher erwartet werden, dass sie sich in ihren eigenen Kategorien und Denkfiguren spiegeln und interpretieren kann: » […] der Entwurf einer Handlungstheorie muß selbst als Handlung und das ihr vorschwebende Erklärungsideal muß selbst auf die in ihr vorgelegten Vorstellungen über das menschliche Handeln beziehbar sein.«

Blickt man von diesem Kriterium der »Selbstanwendung« auf die nun zurückliegende Untersuchung, so ergibt sich ein höchst vielschichtiges Bild, das hier abschließend zu einer komprimierten Darstellung der erhaltenen Ergebnisse genutzt werden soll. Gehlens anthropologische Handlungs- und Institutionentheorie ist in einer entscheidenden Hinsicht nicht dazu in der Lage, sich selbst als ihren eigenen Gegenstand zu konzipieren und zu reflektieren. Die hier als »metafunktionalistischer Blick« bezeichnete Perspektive weist durchgehend Züge einer expertokratischen Denkhaltung auf, die zwischen eigener Reflexionsebene und ihrem Objektbereich einen scharfen Schnitt macht und sich dadurch in eine aporetische Position manövriert.

Um die »sekundäre objektive Zweckmäßigkeit« eigenauthentisch gewordener Handlungsvollzüge darf nur der Anthropologe wissen, ebenso um die Entlastung durch Gewohnheit und Institutionen, um die innenstabilisierende Kraft ritueller Formgebung, ja selbst um die ästhetische Produktivität zweckbefreiten Verhaltens – kommen diese Funktionen dem Handelnden selbst als Funkti onen zu Bewusstsein, so gelangen sie nach Gehlen in das »Feld möglicher Verlagerungen und Umkombinationen« (M: 358), treten ein in den desorientierenden Einflussbereich der »auflösende[n] und neu zusammensetzende[ n] Instanz« (U+S: 299): des Verstandes.

Dieser Instanz muss sich aber gerade der Institutionentheoretiker, der Gehlen zugleich ist, erschöpfend bedienen. Schon die allgemeine Rede von Sinn und Zweck der Institutionen setzt eine – wie Schelsky durchaus lobend an Gehlens Werk hervorhob – »verwissenschaftlichte Primärerfahrung«3 konstitutiv voraus, und der genaue Zuschnitt seiner Ordnungstheorie bestellt selbst das »Feld möglicher Verlagerungen und Umkombinationen«. Schließlich kann er die generellen – und seien es die indirekten – Leistungen der Institutionen nur dadurch überhaupt zum Thema machen, dass er von deren »So-Sein« radikal abstrahiert und sie mit einer Anthropologie verknüpft, die in weiten Teilen eine hochdynamische Theorie der »Umlenkung von Antriebsbeträgen « (U+S: 56) ist.

Die Tatsache, dass selbst seine eigene Theorie die unbefragte Geltung konkreter Institutionen nicht mehr stützen kann, hätte Gehlen zum Anlass nehmen können, ja müssen, die stets so hervorgehobene Indirektheit des humanen Selbst- und Weltbezuges auch für das Verhältnis zwischen Mensch und Institutionen nachzuweisen und die reflexive Dimension dieses Verhältnisses handlungstheoretisch einzuholen. Stattdessen – so haben die Überlegungen zu Gehlens »Beschädigungen aus dem reflektierten Leben« ergeben – bleibt diese reflexive Dimension gewissermaßen dem leidensfähigen Intellektuellen vorbehalten, der die »Belastung mit Grundsatzproblematik, mit Reflexionsaufwand, mit tief nachwirkenden Lebensirrtümern « stellvertretend auf sich nimmt. An ihrer Selbstanwendung scheitert diese Handlungstheorie hier in besonders drastischer Weise: Sie muss »Institutionen und geregelte[ ] Handlungen« selbst zum nur »vorgestellten « Thema machen und kann daher ihre eigene Möglichkeit kaum anders denken denn als luxurierende Negation ihres ureigenen Gegenstandes, als elementare Nicht-Handlung.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einleitung10
1. Handlung bei Arnold Gehlen – Schlüsselprinzip oder »Schlüsselattitüde«?28
1.1 Anmerkungen zu Werkgenese und Entstehungskontext, Begründung der Quellenwahl33
1.2 Die Handlung im Horizont der elementaren Anthropologie41
1.2.1 Kommunikatives Handeln48
1.2.2 Handeln als Zwecktätigkeit65
1.2.3 »Irrationale Erfahrungsgewissheiten« – Handlungstheoretische Inkonsistenzen und die Vorbereitung der institutionentheoretischen Fragestellung74
1.3 Die Handlung im Horizont der Institutionenlehre82
1.3.1 Handeln als Selbstzweck: Gehlens Kritik des Zweck-Mittel-Denkens84
1.3.2 »Von-den-Dingen-her-Handeln«: Die Auslöserwirkung des Gegenstandes92
1.3.3 Handeln qua Gewohnheit97
1.3.4 Rituell-darstellendes Handeln107
2. Denkmotive, Denkzwänge127
2.1 Selbstentfremdung, Selbstformierung, Selbststeigerung133
2.2 Die Aporien des metafunktionalistischen Blicks144
2.3 Beschädigungen aus dem reflektierten Leben158
2.4 Halbierter Pragmatismus und Dingsozialität170
2.5 Sozialphilosophische und ethische Konsequenzen186
3. Wirkungsgeschichte(n) und Wahlverwandtschaften196
3.1 Vorbemerkungen zur Methode und zu den Kriterien der Wirkungsgeschichte197
3.2 Helmut Schelsky: Wegmarken einer Schülerschaft zwischen Popularisierung und Kritik207
3.2.1 Die Vermittlungsposition Schelskys209
3.2.2 »Bewusstseinsbedürfnisse« und die Institutionalisierbarkeit der Dauerreflexion216
3.2.3 Auf der Suche nach Wirksamkeit? Zwischen Popularisierung, Assimilation und Anschlussfähigkeit231
3.2.4 Vom »Sachzwang« zur »Anti-Soziologie«236
3.3 Die Sprache als Metainstitution? Gehlen, Habermas und die diskursethische Umdeutung der Institutionenlehre249
3.3.1 Erste Koordinaten der Motivverwandtschaft252
3.3.2 Mit Gehlens Anthropologie gegen die Dialektik der Aufklärung255
3.3.3 Der Blick auf Marx durch Gehlens Brille262
3.3.4 Das Eigenrecht des institutionellen Rahmens268
3.3.5 »Zwecklos obligatorisches Handeln«: Konvergenzen in der phylogenetischen Rekonstruktion kollektiver Moral274
3.3.6 Zwischen moralischer Alltagsintuition, Dauerreflexion und Letztbegründung280
3.3.7 Die Sprache als Meta-Institution? Verständigungsinstitutionalismus bei Karl-Otto Apel und Dietrich Böhler286
3.4 Funktionen und Folgen systemtheoretischer Transformation – Die Verwahrscheinlichung des Unwahrscheinlichen bei Gehlen und Luhmann300
3.4.1 Entlastung und Komplexitätsreduktion304
3.4.2 Grenzen des Zweck-Mittel-Schemas: Handlungstheoretische Konvergenzen zwischen Gehlens Anthropologie und Luhmanns Organisationssoziologie307
3.4.3 Trennung des Motivs vom Zweck und Affinitäten des Symbolbegriffs310
3.4.4 Umschlag in den Selbstzweck313
3.4.5 Funktionen und Folgen systemtheoretischer Transformation316
3.4.6 Lässt sich die Institutionalisierung institutionalisieren?322
3.4.7 Diesseits der Kulturkritik326
3.4.8 Die Verwahrscheinlichung des Unwahrscheinlichen332
3.5 Die Sozialisation des »Mängelwesens« – Dieter Claessens’ Sozialanthropologie337
3.5.1 Primäre Sozialität und formale Instinktprinzipien oder die phylogenetische Sozialisierung des Mängelwesens340
3.5.2 »Mittlere Entlastungen« oder die ontogenetische Sozialisierung des Mängelwesens354
3.5.3 »Bist Du Deutschland?« Die Vermittlung von Konkretem und Abstraktem als motivationales Ursprungsproblem der Institutionen362
3.6 Institutionenanalyse als »kritische Theorie« – Karl-Siegbert Rehberg: Ein Lehrer-Schüler-Verhältnis in stabilisierter Spannung379
3.6.1 Erkenntnistheoretische Grundreflexionen und die »Perspektive der Betroffenheit«381
3.6.2 Abstraktion, Autonomisierung, Akkumulation: Merkzeichen einer kritischen Theorie der Institutionen395
3.6.3 Die »Leitidee« im Kampf um Deutungshoheiten402
3.6.4 Institutionelle Symbolizität zwischen Transzendierung und Verflüssigung409
4. Schlussbetrachtung: Metamorphosen des Mängelwesens420
Danksagung432
Siglen434
Literatur435
Personenregister456

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